Erich Mühsam: Mehr als vier Silben im Lexikon

„Erich Mühsam ist“, schrieb Günter Kunert, „durch sein Schicksal fast zu einem Klischee seiner selbst erstarrt und hinter dem Panzer versteinerter Ideologeme nahezu unerreichbar.“ Kunert schrieb das 1978. Damals war des 100. Geburtstages des am 6. April 1878 geborenen rothaarigen Juden Mühsam zu gedenken, obwohl es Gründe gab, dies mit gewissermaßen angezogener Handbremse bei gleichzeitig demonstrativer Betätigung der erbepflegerischen Gaspedale zu tun. Was Sache der offiziellen Kulturpolitik blieb und nicht die Kunerts, der den Brief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnet hatte nicht lange vorher.

Erich Mühsam war ein Mann, der den Staat nicht liebte, seinen nicht und jeden anderen auch nicht. Erich Mühsam war ein Mann, der eine bessere Welt wollte, eine sozialistische Welt möglichst auf revolutionärem Wege. Eine auf der Theorie des Marxismus-Leninismus fußende Partei sollte dabei keine, auf keinen Fall eine führende oder gar allwissende Rolle spielen. Erich Mühsam hat den Marxismus nicht nur nicht gemocht, er hat ihn auch bekämpft. In den weit mehr als 2500 gedruckten Seiten von ihm, die in der DDR veröffentlicht wurden, spielte das so gut wie keine Rolle. Und noch, als wegen des runden Geburtstages eine sehr umfangreiche und sehr ordentliche zweibändige Auswahl  erschien im Verlag Volk und Welt, hielten es die Herausgeber für geboten, große Teile des umfangreichen Apparates für die Richtigstellung vermeintlicher und tatsächlicher Irrtümer Mühsams zu verschwenden.

So hat der tote Anarchist Erich Mühsam, den SS-Leute lange und viehisch folterten, ehe sie ihn in der Nacht des 10. Juli 1934 auf der Latrine des Konzentrationslagers Oranienburg erhängten, noch kleine Siege errungen. Siege gegen die ewigen Besserwisser, die ewigen Auf-alles-eine-Antwort-Haber, die gerade von Kunst und Literatur so erbärmlich wenig wussten, dafür aber mit Fleiß Flurschäden in deren Gefilden anrichteten. Es ist aus Kenntnis der gleichzeitigen und späteren Geschichte eine nicht abseitige Vermutung, dass Erich Mühsam in der Sowjetunion nicht sehr viel länger gelebt hätte, hätte er die Emigration vor jener Nacht nach dem Reichstagsbrand 1933 geschafft, in der er verhaftet wurde, es soll an ganz Profanem gelegen haben, das Fahrgeld war nicht rechtzeitig beisammen für die Reise nach Prag. Waren doch gerade die „linken“ und „rechten“ Abweichler von Stalins Linie, auch wenn sie aus Deutschland kamen und dort Hitler und akuter Lebensgefahr entronnen waren, bevorzugte Opfer von Säuberungen. Bisweilen starben sie einfach nur, wie Max Hölz, dem Erich Mühsam ein Buch gewidmet hat, auf ominöse Weise.

Weil Erich Mühsam ein Leben gelebt hat voller Ereignisse und Erlebnisse, die für mehrere Dichterleben gereicht hätten, besteht seit seinem frühen Tod die Gefahr, über dem Leben das Werk zu vergessen. Mühsam war nicht nur der gern eins saufende Bohemien, der alles kannte in der Berliner und Münchener Szene, was irgend Rang und Namen hatte in der deutschen Literatur und Kunst der Jahrhundertwende und des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts. Er war nicht nur der Mann, der in der Münchener Räterepublik eine führende Rolle spielte neben seinem großen Mentor Gustav Landauer, neben und gegen den 1919 ermordeten Kurt Eisner. Erich Mühsam war ein Dichter, er war eine Kabarettist, er war ein Satiriker von hohen Graden. Er schrieb gerade Verse so gut, dass Kurt Tucholsky mit all seinen Pseudonymen ihn wohl gar mit etwas Neid ein wenig verschwieg. Gerade manche Zeile für den Tag hat den Tag bis heute überstanden.

Mühsam hat mit „Judas“ mindestens ein Drama geschrieben, das allen Berufsrevolutionären auf den Magen schlagen muss, weil es den menschenverachtenden Unterstrom entfachter Revolutionen nicht ausklammert. Erich Mühsam hat die blutschuldige SPD der Weltkriegs- und Revolutionszeit so gnadenlos durch den Kakao gezogen, dass sie eigentlich nie wieder vor sich selbst hätte sauber stehen dürfen. Dass es anders kam, ist eine der vielen Niederlagen Mühsams. Und, für Heutige nicht unwissend zu wissen, Erich Mühsam hat in seinem Dokumentarszenarium „Sacco und Vanzetti“ die Struktur US-amerikanischen Justizmordens enthüllt, die erschreckendstes Licht auf US-amerikanisches Kriegsvorbereiten und Kriegführen heute wirft. Mühsam war dem deutschen Volk immer wieder einmal verzweifelt gram, weil es sich einlullen, weil es sich zum Handlanger machen ließ. Er hoffte noch, als zu hoffen längst nichts mehr war. Und er war mutig, als Mut Selbstmord gleichkam.

„Noch bedeutet uns Erich Mühsam mehr als vier Silben in einem Literaturlexikon“, schrieb Günter Kunert 1978, „mehr als der Name eines Märtyrers auf einer Steintafel“. So sollte es bleiben, könnte ein Wunsch zu Mühsams morgigem 125. Geburtstag lauten.
 Zuerst veröffentlicht in FREIES WORT, 5. April 2003, Seite 32, nach dem Manuskript


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