Tagebuch
20. September 2025
Auf dem Friedhof an der Liesenstraße Berlin tobt heute das Fontane-Gedenken, ich werde sicher einen authentischen Live-Bericht bekommen und dann in meinen wohl verdienten Kurzurlaub reisen, von dem ich zurückkehre, wenn Benno Pludra seinen 100. Geburtstag feiern würde, wäre er nicht schon vorher gestorben. Der Oktober beginnt mit gleich vier 100. Geburtstagen, wer soll da nachkommen, da kann man froh sein, dass einige auch in den ersten Tagen des neuen Monats starben, vor fünf Jahren, vor zehn Jahren. Die Zahlen sind beliebig zu setzen. Wer lange gedenkt, lebt lange, würde Oskar Sima sagen, den man jetzt natürlich googeln müsste. Heute ist Thüringen das Land mit dem gesetzlichen Feiertag, der verhindert, dass ich wie sonst meine Sonntagszeitung kaufen kann. Ich muss sie zum Schaden meines Zeitungskioskes in fremden Bundesländern erwerben und mit ins Ausland schleppen, was Unfug ist, aber freistaatliche Feiertagspolitik, basta.
19. September 2025
Orange markiert steht in meinem Trötsch-Kalender heute Ulrich Greiner. Es ist die Markierung der Geburtstagskinder und das Kind Greiner wird genau 80 Jahre alt. Er ist in Offenbach am Main geboren. Früher dachte ich, wenn ich ein Foto von ihm sah, immer, er sei eine Art Wiedergänger von Andy Warhol. Natürlich kenne ich ihn hauptsächlich aus der Hamburger ZEIT und so sehr viel älter als ich ist er auch nicht. Vermutlich würde er voller Verachtung auf mich herabblicken, wüsste er, dass es mich gibt. Hätte ich nicht einen Platz am Katzentisch der deutschen Kritikertafel zu beantragen und den abschlägigen Bescheid demütig hinzunehmen? Ich will nicht leugnen, dass ich ein paar Bücher von Greiner besitze, die über der Tür meines Wohnzimmers in Richtung Flur stehen, was ein guter Platz ist, denn ich muss mich nur ein wenig recken, um eines herauszunehmen aus meiner Regal-Maßanfertigung, ich brauche keinen Hocker oder Stuhl um heranzukommen, ja.
18. September 2025
Manchmal gilt auch für Bücher: im Dutzend preiswerter. In meinem Fall: nur ein knappes halbes Dutzend. Genau fünf Bücher von Günter Hartung, von dem ich bisher nur „Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus“ besaß aus dem Jahr 1983. Ich hätte es dabei bewenden lassen, wenn Hartung nicht 1981 in „Weimarer Beiträge“ ein Schlachtfest mit Heinz Knobloch veranstaltet hätte. Das aber machte mich neugierig, mich schüttelte Wut vor so viel professoraler Selbstüberhebung, was mehr als vierzig Jahre später natürlich Unfug ist. Ich wollte, als ich wusste, was dieser Professor noch so geschrieben hat, zwei seiner Bücher von nach 1990 gern haben, bekam aber fünf zum nur leicht höheren Preis dieser beiden. Also besitze ich jetzt alle fünf und Hartung dürfte einer der ganz wenigen alten DDR-Professoren sein, der auf solch eine postsozialistische Werkausgabe verweisen kann. Zwei Bände haben Widmungen: für Dieter Schlenstedt und Manfred Lauermann.
17. September 2025
Als ich kürzlich in der Taylor-Sheridan-Serie „Landman“ zwei Frauen sah, die sich das Vergnügen gönnten, Gutes in einem Altersheim zu tun, wo die Senioren mehr oder minder von Mahlzeit zu Mahlzeit vor sich hin dämmerten, Höhepunkt war der Besuch eines Strip-Clubs, dachte ich sofort an Jack Nicholson im Film „Einer flog übers Kuckucksnest“. Der verschaffte seinen Mitgefangenen aus der Anstalt ein ähnliches Vergnügen und wurde unmenschlich dafür bestraft. Die beiden Frauen kamen mit dem Kopfschütteln anderer davon. Geschrieben hat die Vorlage des Films Ken Kesey und das Buch ist wie der Film auch in der DDR erschienen. Heute wäre Kenneth Elton Kesey, so sein kompletter bürgerlicher Name, 90 Jahre alt, nur etwas älter als der gestern verstorbene Robert Redford. Doch er starb schon 2001. Die ihn heute vergessen, dürfen 2026 seines Todestages gedenken. Fast mehr als Randle McMurphy beeindruckte mich seinerzeit der Häuptling Bromden.
16. September 2025
Für einen, der selbst im Laufe der Jahrzehnte, so muss ich es ja nun schon formulieren, so um die 700 bis 750 Gedichte geschrieben hat, nur dreieinhalb Dutzend davon sind auch veröffentlicht, lese ich wenig Gedichte. Wenn ich von Heine absehe, von dem ich alle las, ist nur Günter Kunert allein auf weiter Flur, von dem ich ganze Reihen seiner Lyrik las. Jetzt bin ich bei Jens Gerlach. Nicht aber, weil ich ihn plötzlich entdeckte oder vor sehr vielen Jahren seine „Dorotheenstädtischen Monologe“ las, sondern weil er 2026 zu denen gehört, deren 100. Geburtstage mich beschäftigen sollen. Mit „Der Gang zum Ehrenmal“ und „Das Licht und die Finsternis“ fing ich an. Gerlach war eines der seltenen schreibenden Exemplare, die von West nach Ost auswanderten. Unter den 1926 Geborenen waren solche, die sich dem Führer schenkten, indem sie freiwillig in die Waffen-SS eintraten oder solche, die das nicht taten, wie Heinz Knobloch. Fast alle sind inzwischen mausetot.
15. September 2025
Kurz entschlossen mache ich Willy Levin zum zweiten Mal zum Thema. Das hätte ich gar nicht planen können, eine Text-Spende macht es möglich. Alles andere wird geschoben, ich könnte mich bei den 68er Spontis bewerben: kurze Entschlüsse, langer Marsch durch die Institutionen, oder waren es Ämter, die sie entern wollte? Ich wohnte in einem anderen Land. Auch bei uns gab es Menschen, die behaupteten, durch Teilhabe ändern zu wollen. Es geht nur von innen heraus, sagten sie. Mich bespringt der Gedanke, dass Gedichte, die edlen Gebilde, mit Feuilletons, diesen unedlen Gebilden, womöglich verbindet, dass die einen nur wegen eines Verses, einer Zeile geschrieben werden, die ich dann markieren kann wie die anderen wegen eines Nebensatzes, den sie loswerden müssen in und zwischen den Zeilen. Vielleicht ist aber alles auch ganz anders. Der Sturm wehte heute Teile eines Blumenkastens von oben auf unseren Balkon, die Obermieter leugneten alle.
14. September 2025
Noch knapp zwei Jahre dauert es, bis ich sagen darf: ich habe die Hälfte meines Lebens in der DDR verbracht. Das ist immer noch viel, aber die Hälfte wird kleiner und kleiner, wie sich unter Brüdern sagen ließe. Ich selbst werde, wenn es in offiziell verbreiteten Verlautbarungen mit rechten, nicht mit linken Dingen zugeht, dadurch immer wertvoller. Ich erinnere einen Schaufensteraufkleber in der Unteren Marktstraße in Gehren, der das Ende der Lebensmittelmarkenzeit ankündigte oder mitteilte. Und kenne noch unsere Butter-Nummer: 363. Die musste man ansagen, damit im Sechs-Pfennig-Heft hinter der Fleischtheke, die damals noch nicht so hieß, nachgeschaut werden konnte, ob uns noch Butter zustand oder wir schon alles weggefressen hatten. F. C. Weiskopf, der kein Fußballclub war, sondern Franz Carl hieß, starb am 14. September 1954, da konnte ich schon laufen und Bücher schieben. Also im Regal nach hinten, wenn ich davor auf dem Hintern saß. Schöne Zeit.
13. September 2025
Den 13. September 2005 erlebten wir im Norden Polens, wohin wir am 10. September gereist waren. Wir sahen, in der Sprache meiner Mutter gesprochen, Posen, Thorn, Elbing, Danzig und Stettin, wir nächtigten in Mikolajki. Es war unsere zweite Polenreise nach drei Nächten Breslau im September 2004, inzwischen haben wir fünf hinter uns und es wären sechs gewesen, wenn außer uns noch hinreichend viele andere ins Riesengebirge hätten fahren wollen. Inzwischen werde ich durch Ullrich Junker an schlesische Probleme herangeführt, mit und ohne Umweg über Gerhart Hauptmann. Zu dem gelange ich, indem ich ihn lese oder auf der Bühne sehe und dann warten noch immer jene 70 Seiten Arthur Eloesser, die dieser aktualisierend der Hauptmann-Biographie von Paul Schlenther hinzugefügt hat. Neu für mich aus heutiger Lektüre: Gisela Herrmann, die nie etwas schrieb, nur las, als ich für die Berliner Zeitung schrieb, hieß als Tochter Gisela Huelsenbeck.
12. September 2025
Zum Glück werden nur in Amerika rechtsradikale Aktivisten erschossen, ich wage mir gar nicht auszumalen, wie sich unsere Nachrichten- und Brennpunkt-Redaktionen winden würden, die nicht einmal den allgemein bekannten Verdacht benennen, wenn es in Berlin ein Strom-Attentat mit einem Bekennerschreiben gibt. Denn: Es wird ergebnisoffen nach allen Seiten ermittelt. Die Seiten freuen sich regelmäßig, wenn auch bei ihnen ermittelt wird. Mein Finanzamt rafft sich von mir mittlerweile Vorsteuern, weil ich sonst als Schwerstverdiener mit Mindestrente vielleicht einige völlig neuartige Cum-Ex-Geschäfte abwickeln könnte. Dann müsste das Amt auf meine Milliarden verzichten, denn der Prozess würde sich bis in mein 94. Lebensjahr hinziehen und dann wäre ich wahrscheinlich verhandlungsunfähig, ich würde auf alle Fälle so tun. Immerhin zahle ich rechtzeitig alle Restbeträge beim Reisebüro, damit die Unterlagen fertig gemacht werden können, die ich liebe.
11. September 2025
In Meiningen startet, las ich, eine fulminante Theaterspielzeit. Meine hauseigene KI (Natürliche Intelligenz) verrät mir, dass fulminant etwas ist, was einerseits großartig, glänzend, prächtig oder überwältigend und andererseits plötzlich, heftig und schnell verlaufend ist, besonders im medizinischen Sinn. Nun frage ich mich natürlich nur zum Schein, wie etwas, was noch gar nicht ist, schon fulminant sein kann. Aber ich kenne ja die Herren und Herrinnen, die allweil etwas fulminant finden, weil das einfach gut klingt und die Rentner, die noch gedruckte Zeitungen lesen, erst nachschlagen müssen, was das eigentlich bedeutet. David Herbert Lawrence war, was mir trotz marxistisch-leninistischer Geschichtsbildung verborgen blieb bis eben, der erste namhafte englische Schriftsteller, der aus einer Arbeiterfamilie stammte. Er hätte also in der DDR studieren dürfen ohne Vorlage seiner Ahnentafel. Wieso er? Na klar, es ist sein 140. Geburtstag, freu dich, Arbeiterklasse.
10. September 2025
Wenn nichts passiert, passieren die kleinen Dinge: Die Fahrstuhltür öffnet sich, niemand drin, niemand will rein oder raus. Unten steht die Haustür offen: altes Übel, in unserem Aufgang dennoch nicht aus Beduinenzelten übernommen. Unter unseren Briefkästen zwei große Kartons oder Pakete. Beide nicht nach Ilmenau adressiert, geschweige in die Keplerstraße. War das nicht kürzlich erst genau so? Eine Frau schleppt sie schließlich zum Kofferraum eines auswärtigen Autos aus dem Sado-Maso-Kreis (SM). Sie meint, sie habe vielleicht aus Versehen den Fahrstuhl gerufen. Sind wir ein toter Briefkasten? Wer ruft aus Versehen Fahrstühle nach oben, wenn er unten ist und gar nicht rauf will? Währenddessen gehen alle Kriege weiter, die gerade im Gange sind. Bei einem kommt jeder einzelne Tote in die Hauptnachrichten, die anderen müssen sich mit den hinteren Plätzen oder dem Videotext begnügen. Die gefährlichen Russen können nicht einmal ihre Drohnen steuern, o je.
9. September 2025
Mein neuer Eloesser-Text betrifft Willy Levin, dessen Grab ich beim nächsten Besuch auf dem Jüdischen Friedhof in Weissensee zu finden hoffe. Das wird wohl erst 2026 sein. Vor 25 Jahren verließen wir Terenten, hielten hinter der Grenze in Sillian an einem Supermarkt. „Anarchie in Sillian“ heißt ein Drama von Arnolt Bronnen, das ich vor vielen Jahren in einem Antiquariat sehr preiswert kaufte. Las aber sechs andere Dramen von ihm in meinen ersten beiden Studienmonaten 1975. Am 9. September 2000 umrundeten wir zweimal den Faaker See, ehe wir endlich zu unserer Ferienwohnung kamen, weil das Harley-Davidson-Treffen, vor dem wir gewarnt worden waren, ohne zu ahnen, was uns erwartete, alles lahm legte. Es wurde dann auch für uns eine unvergessliche Sache. Alles wie im Fernsehen: barbusige Damen in Leder auf Rücksitzen, Striptease im Zelt, Heavy Metal an Musik und Unmassen Accessoires, Angebote für alle besessenen Bike-Schrauber.