Tagebuch

2. September 2025

Neunzehn Tage gönnte ich mir, „Herr Moses in Berlin“ von der ersten Seite Text bis zur letzten Seite des Personenregisters zu lesen. Das dickste Buch von Heinz Knobloch kenne ich nun also auch. Passend dazu heute die Nachricht aus Berlin, dass der Vorschlag zur Aufstellung einer Tafel für ihn in das Gedenktafelprogramm des Bezirks Pankow aufgenommen wurde. Ich habe daran keinerlei Anteil, nehme aber freudig Anteil. Wie lange es dauert, bis aus einem Programm dort eine Tafel wird, ahne ich nicht. Man nimmt sich hoffentlich nicht den Flughafen zum Vorbild. Einer, der wie Knobloch eine Berliner Gedenktafel schon hat, wenn sie auch nicht an seinem ehemaligen Wohnhaus hängt, sondern am Gebäude, in dem er als Lektor arbeitete, ist Johannes Bobrowski. Er starb am 2. September 1965. 2017 schrieb ich etwas zu seinem 100. Geburtstag, 2015 zum 50. Todestag. Diese Anlässe eben. Jetzt kommt erst einmal wieder die gute alte Vossische Zeitung dran.

1. September 2025

Nach 15 Tagen erstmals wieder meine tägliche große Runde mit Zwischenstation Glascontainer. Die Baustelle unterwegs ist keine mehr, alles ist beräumt, alle neuen Zäune stehen, alle Erdhaufen sind planiert. Man kann den Bürgersteig wieder von da begehen, wo er beginnt. Verkostung der wilden Äpfel erfolgreich, wir können die erste Ernte planen. Am 1. September 2000 mit zwei Seilbahnen am Monte Cristallo auf mehr als 3000 Meter gefahren, oben hatte ich doch einige Probleme. Die Fahrt mit der zweiten Bahn dennoch atemberaubend. Vorher der Dürrensee mit Blick auf die Drei Zinnen. Überraschender Anruf aus Mühlberg: man ist dort auf meinen neun Jahre alten Text „Von Opa Reinhold, dem Großvater in Mühlberg“ gestoßen. Erst am 6. April fotografierte ich auf dem Friedhof neun Ullrich-Gräber, alle sind ganz sicher mit mir verwandt, vielleicht erfahre ich nun, in welchem Grade. Das Grab von Opa Reinhold gibt es schon lange nicht mehr, nur noch auf Foto.

31. August 2025

Vor 25 Jahren endete der Monat August in Südtirol. Unsere elfte Italienreise führte uns ins Pustertal auf die so genannte Sonnenterrasse, Ankunft am 26. August, Weiterreise am 9. September nach Egg am Faaker See. Unser Hotel „Sonnenparadies“ , Zimmer 104, hatte herrlichen Panorama-Blick, nervig ein neugieriges Paar aus Bayern, das ständig an der Rezeption im Gästebuch schnüffelte, um zu erfahren, woher neue Gäste kamen. Noch nerviger eine Busladung deutscher Rentner, die am Morgen sämtliche Brötchen vom Büffett wegfraßen respektive sich als Wegzehrung einsteckten. Es wurde alles noch in Lire abgewickelt, sechsstellige Rechnung zum Schluss, fünfstellige Trinkgelder. Immerhin sorgte ein Kellner dann doch für eine separate Brötchen-Ladung, um uns das milde nach Kümmel schmeckende Brot zu ersparen. Heute Kurzausflug nach Erfurt, um Kinder und Enkel auf der Heimfahrt nach Berlin zu treffen. Erfurter Bratwürste. Erfurter Gartentomaten zum Mitnehmen.

30. August 2025

Henri Barbusse, der während einer Reise durch die Sowjetunion am 30. August 1935 starb, nachdem er in Moskau zuvor noch ein Redner während des Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur gewesen war, erlebte im Stalin-Paradies ein seltsames Schicksal. Seine gar nicht von ihm selbst geschriebene Stalin-Biografie geriet auf den Index, er selbst wurde bis 1949 zur Unperson. In meinem Frankreich-Regal, das längst nicht mehr alles aufnimmt, was ich habe, der Erbfall 2019 hat mich in noch größere Nöte gebracht, findet sich nur der Reclam-Band „Briefe von der Front“. Dass es nicht mehr ist, kann ich nicht einmal reinen Herzens bedauern. Das Reclam-Nachwort von Juni 1972 umgeht die sowjetische Klippe elegant, es verharrt bei den Jahren, aus denen die Front-Briefe stammen. Der vorerst letzte Katzen-Abend heute, morgen kehren Kinder und Enkel aus ihren Urlauben zurück. Und wir können vorausblicken auf unseren eigenen nächsten.

29. August 2025

In Wien geboren, in Hollywood gestorben drei Tage vor Beginn meines zweiten Schuljahres: Vicky Baum musste lange warten, ehe ich von ihrer Existenz Notiz nahm. Zu den beiden Büchern aus DDR-Jahren, „Menschen im Hotel“ und „Liebe und Tod auf Bali“ kamen später noch „Hotel Shangai“, „Kopfloser Engel“ und „Zwischenfall in Lohwinkel“ aus dem Westen des neuen Bundesreiches hinzu, Romane, Romane, ich ahne, wie viele von ihnen ich in meiner verbleibenden Lebenszeit lesen werde. Aber in unserem Haushalt lebt ja nicht nur ein Leser. Kater Leo mag es, am Küchenwasserhahn, wenn der ganz leicht läuft oder idealerweise gar nur tropft, die Tropfen zu fangen. Er lässt sich sogar Wasser hinters Ohr und ins Genick tropfen, was wohl die wenigsten Katzen lieben. Da ich mich sozialen Medien verweigere, kommen nur engste Familienkreise in den Genuss meiner Katzenvideos und ich selbst natürlich. Vicky Baum folgt bei mir auf Arnold Zweig.

28. August 2025

Nicht nur der Goethe-Bär steppt heute allüberall, wo Honorarmittel für Referenten ausgegeben werden dürfen, die altbekannte Themen aus ihrer Sicht vortragen wollen. Heute wären auch die 100. Geburtstage von Arkadi Strugazki und Juri Trifonow zu feiern, die einige Jahre lang von vielen geliebt wurden, die sich nicht vorschreiben lassen wollten, was uns die Sowjetliteratur zu bedeuten hatte. Strugazki war nicht mein Ding, weil Science Fiction nicht mehr mein Ding war, Trifonow aber, den nenne ich heute noch nicht nur wichtig, sondern gut. Hätte ich nicht Katzenaufsicht und das keineswegs gegen meinen Willen, wäre ich vielleicht dazu gekommen, ein schmales Buch von Trifonow zu lesen, das ich mir aus dem Regal gezogen hatte: „Zwischenbilanz“. So aber las ich in „Herr Moses in Berlin“ und beendete „Rund um das Bett“, den Monatsplan für August drei Tage vorzeitig erfüllend. Absage für die Silvesterreise heute zu verdauen. Wohl nie wieder Weißenstadt.

27. August 2025

Es sind dies nicht nur Erinnerungstage mit wenig wirklichen Erinnerungen, es sind auch Todestage. Gestern hätte ich an Franz Werfel denken sollen, 80 Jahre tot. Ich wollte Richard Christ erwähnen, der erstaunliche Nachworte zu Werfel verfasste. Heute ist Cesare Pavese an der Reihe, 75 Jahre tot, ich wollte niemanden erwähnen außer ihm selbst, er steht im Regal zu Häupten unseres Ehebetts, wo die Italiener stehen, ja auch im Schlafzimmer gibt es bei uns Bücher, nur in den Bädern nicht. Zimmer 311 in Biesdorf war eines mit Kachelofen zum Korridor, ein Ofen für zwei Zimmer und wie ich bald erfuhr, war ich einer der seltenen Menschen unter uns Studenten, die einen Kachelofen nicht nur anheizen, sondern auch warm halten konnten. Im August 1975 war das noch kein Thema. Später froren wir, wenn die anderen Dienst hatten. Und die Kohlen mussten wir uns im Hof hinter dem Heim holen: in Eimern. In Haus II gab es Zentralheizung. Später kaufte ich Kohlen im Bündel.

26. August 2025

Ich war rechtzeitig da an diesem Tag vor 50 Jahren, um in Raum 1070, meiner Erinnerung nach der so genannte Senatssaal im Hauptgebäude, die technische Immatrikulation über mich ergehen zu lassen, all den Kram mit Mitgliedsbüchern der Parteien und Massenorganisationen, der Abschluss-Beurteilung für Bewerber aus der Praxis, ich war einer. Ich wusste vorher, welche Farbe meine Sporthose haben muss, welche das Hemd dazu, Sport war wichtig im DDR-Studium, man wurde nicht zu Prüfungen zugelassen, falls man nicht alle Sportstunden vollständig absolviert hatte. Manche von uns rannten zwei komplette Tage im Stadion der Weltjugend über die Aschenbahn, um alle Versäumnisse nachzuholen. Ich bezog in Haus I des Wohnheimes „Victor Jara“, in dem ich schon eine Nacht verbracht hatte, das Zimmer 311 und wenigstens einen hatte ich während der Raumverteilung, den ich schon kannte, Peter Ludewig, viel später ein Kleinverleger, lange Freund.

25. August 2025

Als ich am 25. August 1975 in Gehren den Zug bestieg, um schließlich nach Umsteigen in Ilmenau und Erfurt in Berlin zu landen, musste ich mich bis Biesdorf durchschlagen, wo mich für eine Nacht ein Behelfsquartier aufnahm. Das geschah, weil ich sonst die technische Immatrikulation am 26. August um 11.15 Uhr im Hauptgebäude der Humboldt-Universität nicht sicher erreicht hätte. Das wollte ich aber, weil alle Alternativen seltsam klangen im Anschreiben an den künftigen Studenten der Philosophie. Ich erinnere mich sehr dunkel, dass ich ein dunkles Zimmer betrat im Wohnheim „Victor Jara“, aber ein Bett war noch frei. Kein Mensch dachte damals daran, des 75. Todestages von Friedrich Nietzsche zu gedenken. In den Regalen meiner Eltern stand nur eine kleinformatige Ausgabe des „Zarathustra“, in der ich gelegentlich geblättert hatte. Heute, zum 125. Todestag, fällt man in Weimar fast aus den Stöckelschuhen vor Begeisterung: er ist unser Erbe, sagt die Unesco.

24. August 2025

Nach „Stadtmitte umsteigen“ gestern ist heute „Im Lustgarten“ im Register gelandet, jetzt habe ich tatsächlich 26 Bücher von Heinz Knobloch komplett gelesen, der dickste Wälzer von ihm ist noch in Arbeit, er ist mein Katzenaufsichts-Begleitbuch von 492 Seiten. Am Ende von „Im Lustgarten“ war ich geneigt, aufzuatmen, es reichte mit Lustgarten. Das Buch tendiert ein wenig in Richtung Volltextsuche ohne Suchmaschine, wofür Knobloch natürlich wenig konnte. Man blätterte halt früher in Lexika und ähnlichen Nachschlagewerken mit angefeuchteten Fingerspitzen, man saß in Lesesälen auf durchgesessenen Ledersesseln und durfte kein Staub-Allergiker sein. Ernst Wiechert, den die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen den „großen Deuter des Leidens und der Schwermut, aber auch den Künder von der Tapferkeit des Herzens“ nennt, starb am 24. August 1950 in der Schweiz. Er steht bei mir zwischen Kurt Wolff und Georg Trakl und vor Arnold Zweig.

23. August 2025

Wenn eines Tages die Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik, die natürlich in die neue nahtlos mitgeschleppt wurde, geschrieben werden sollte, dann müsste ein Kapitel nicht nur den etablierten Quoten-Ossis gelten, die sich jede bessere Redaktion hielt, sondern auch die Stellvertreter-Ossis aus dem alten Ostblock. Wir halten uns unseren Ukrainer, bis sich herausstellt, dass der eigentlich ein Russe ist, wir haben unsere zweieinhalb Rumänen, unsere drei Ungarn, bei den Tschechen sind wir schon etwas unsicher, Slowaken überlassen wir den Österreichern und ihrer Erinnerungskultur, die ja überhaupt mit denen besser können, weil die einst zu ihnen gehörten. Bulgarien ist unser Ilja Trojanow, der für uns die Welt bereist und die Feuilletons füllt und dabei hat er es mit dem heutigen Tage auch schon auf sechzig Lebensjahre gebracht. Als ich noch bulgarische Studenten hatte, hieß es immer, die Bulgaren seien die Preußen des Balkans. Ich habe es nie überprüft, sie waren fleißig.

22. August 2025

Wenn man jemandem zu nahe tritt, steht man ihm noch nicht zwingend auf den Füßen. Das fiel mir eben ein und steht deshalb hier, denn andere Tagebücher führe ich nicht. Wir sehen heute, und zwar zu unserer großen Überraschung, die letzte Folge von „1923“ komplett werbefrei, nachdem uns bis gestern stets drei Werbepausen mit je fast fünf Minuten Länge den Blick nach den Katzen erlaubten, die zu späterer Stunde den Balkon nicht mehr verlassen wollen. Nach „Yellowstone“ und „1883“ wollte „1923“ mir bis zur letzten Folge der zweiten Staffel nicht so recht gefallen. Fünf bis sieben Parallelhandlungen in Kleinportionen verabreicht zu bekommen, ist nicht meine Sache. Dafür aber bleiben wir auch die nächsten Tage bei Taylor Sheridan und sehen uns „Landman“ an. Nikolaus Lenau, der vor 175 Jahren in Oberdöbling starb, das seit 1892 zu Wien gehört, fand sein Grab nicht auf dem Wiener Zentralfriedhof, sondern auf dem Weidlinger Friedhof bei Klosterneuburg (NÖ).


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