Frank Quilitzsch: Holunder aus dem Dach
Unübersehbar drängen neue Autoren zur Literatur, stellen sich mit ihren ersten Werken den Lesern, immer in der Hoffnung, daß andern auch wichtig werden möge, was ihnen selbst aufschreibenswert erschien. Die Mehrzahl der Autoren, die jetzt ihre Debüts vorstellen, sind in den fünfziger Jahren geboren, sie haben ihre prägenden Erfahrungen also vor allem in den sechziger und siebziger Jahren gemacht, sind also mit dem Sozialismus auf deutschem Boden, wie er schon auf seinen eigenen Grundlagen sich entwickelte, aufgewachsen. Ihre Sicht auf die Welt, wie sie sie erfahren haben, wird notwendig die Perspektive ihrer Generation aufweisen, Grund genug, neugierig auf sie zu sein.
Frank Quilitzsch, Jahrgang 1957, promovierter Germanist, hat sich zunächst im Gebiet der Science-Fiction versucht. Überraschend ist deshalb sicher seine Hinwendung zur ganz privaten, ganz unspektakulären, ganz alltäglichen Familiengeschichte in Geschichten, die unter dem poetischen Titel „Holunder aus dem Dach“ im Rudolstädter Greifenverlag erschienen sind. Gleich im ersten Text des Bandes, in „Die Kammer“, fällt ein Schlüsselsatz auf: „Ich begriff, daß jedes Ding seine unverwechselbare Geschichte hat.“ Frank Quilitzsch begibt sich auf die Suche nach der unverwechselbaren Geschichte einer Familie, zahlreiche Details sprechen für weitgehende autobiographische Bezüge aller Texte.
Wir erfahren vom schweren alltäglichen Dasein mehrerer Generationen, beginnend mit der Zeit des ersten Weltkrieges („Das Lehmhaus“) und bis in die unmittelbare Gegenwart führend. Rückblicke reichen gar bis in die Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon und der den Band beschließende symbolhaltige Text „Die Weiden“ deutet auf eine Legende über den Familienursprung im siebten oder achten Jahrhundert. Anders jedoch als vielfach bereits von anderen Autoren erprobt, wird bei Quilitzsch Familiengeschichte nicht in erster Linie zum Medium der Geschichte unseres Jahrhunderts. Quilitzsch bleibt so nahe bei seiner Familie, daß die größeren historischen Zusammenhänge nur sporadisch berührt werden und dann, leider, kaum auf eine Weise, die Entdeckungen ermöglicht.
Frauenfiguren vor allem sind es, die sich einprägen, „Leni“ zum Beispiel, die Schwester und Mutter im brennenden Haus zurückläßt, um vier Kinder zu retten. Während Frank Quilitzsch die Alten durchweg liebevoll, nicht selten sogar hamonisierend, innere Kämpfe aussparend, zeichnet, geht er unnachsichtig mit der Vätergeneration um, verkörpert in Raimund, und zeigt auch, ganz am Ende, die eigene Situation als durchaus problematisch. Ein Satz aus der Erzählung „Heuschnuppen“ beschreibt die Tendenz, die ablesbar wird, recht präzise: „Damals, sagt Großvater, und dieses Wort wirkt Wunder.“ Das bedrohliche Heranrücken des Braunkohlentagebaus ans Dorf, an den Schauplatz der Generationenfolge, wirkt da zusätzlich symbolisch. Eine dialektische Sicht auf Gewinn und Verlust muß vor allem der Leser aufbringen, auf dessen Fähigkeiten Frank Qulitzsch – vielleicht – vertraut.
Zuerst veröffentlicht in: Freies Wort, Beilage, Seite 2 am 29. April 1988,
Rubrik „Gelesen“; nach dem Typoskript
„Dieses Früher ist für mich unergründbar“, steht in der vierten Erzählung des Bandes „Holunder aus dem Dach“, mit dem der promovierte Germanist Frank Quilitzsch, Jahrgang 1957, im Greifenverlag jetzt debütiert. Es dennoch zu ergründen, war wohl ein wichtiger Schreibantrieb, der den Autor bewegte. Er wählte den Weg, einer Familienüberlieferung nachzugehen und eine ganze Reihe von Einzelheiten deuten an, daß die eigene Familiengeschichte erforscht wurde. Entstanden sind so literarische Denkmäler einfacher Menschen aus einem Dorf in der Dübener Heide vom ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Da gab es einmal einen Polizistenmord im Umkreis der Familie, einmal stieg ein Bär durchs Küchenfenster, den die Zigeuner ins Dorf geführt hatten. Immer gab es viele Kinder, Männer zogen in den Krieg, Frauen hatten allein die Last eines schweren Lebens zu tragen.
Auffallend ist, daß zwar Not und Entbehrungen geschildert werden, Konflikte, die sich im Inneren der Großmütter und Urgroßmütter, der Großväter und Urgroßväter gebildet haben müssen, jedoch nur, wenn überhaupt, in einer Außenansicht, einer Oberflächenansicht erscheinen. Oder trugen die Frauen tatsächlich die mörderische Geburtenfolge von einem Kind pro Jahr ohne jede Reaktion? Die große Liebe, mit der sich Frank Quilitzsch all seinen Helden, insbesondere aber den Vorvätern und ihren Frauen zuwendet, ist allenthalben spürbar, sie verführt ihn, meine ich, bisweilen doch zu mehr Harmonisierung, als dem Erzählten wirklich zuzumuten ist. Heraus kommt insgesamt eine arg unvermittelte Konfrontation von Werten, aus deren Gesamtheit, ob das in der Absicht des Autors lag oder nicht, die Familie als eine Art Wert an sich herausragt. Sehr aufschlußreich in dieser Hinsicht ist „Das Foto“, wo Anni mit der Scheidung ihrer Enkeltochter Barbara konfrontiert wird: es entsteht der Eindruck, als müsse eine Ehe bis zum bitteren Ende durchgehalten werden, als beleidige jede Scheidung die Alten, die diesen Schritt nie wagten, auch wenn längst jede Liebe gestorben war.
Die beiden jüngsten Generationen werden mit der deutlichsten Kritik gesehen: Raimund, der Vater, der Professor, sitzt unversehens allein für sich vor den fünfzig Geburtstagskerzen. Frank Quilitzsch hat versucht, seine erzählerischen Mittel variabel einzusetzen, es gibt den Dialektmonolog in „Mutters Tochter“, hintergründigen Humor in „Haberlund“, Tragik und echte Spannung in „Leni“. Emotionale Berührung jedoch löste das Buch nur selten bei mir aus: dort, wo sie entstehen wollte, ließ mich der Autor allein: wo die jüdischen Kunden der Weißwäscherin verschwinden, wo der Großvater plötzlich sich die Frage stellt: „Wofür haben wir bloß alles aufgebaut?“ Und ich frage mich, ob es wirklich ein gutes Zeichen ist, wenn alte Menschen mit ihrer Zeit wenig anfangen können und mit „Heuschnuppen“ reagieren. So einfach ist es wirklich nicht mit „unserer modernen, gefährdeten Welt“, wie Frank Quilitzsch glauben machen will.
Zuerst veröffentlicht in: Tribüne, Nummer 133, Seite 13, 8. Juli 1988, unter der
Überschrift „Einfache Menschen, die auf dem Land lebten“, nach dem Typoskript