Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken

Nun sind sie endlich alle da: Hamilkar Schaß und Adolf Abromeit, Alec Puch und Tante Arafa, Stanislaw Griegull und der rasende Schuster Karl Kuckuck. Sie bevölkern die zwanzig masurischen Geschichten, denen der Geschichtenerzähler Siegfried Lenz den Titel „So zärtlich war Suleyken“ gab. Ich halte es für anmerkenswert, daß Lenz damals (1955 erschien das Bändchen zuerst in der Bundesrepublik) noch keine dreißig Jahre alt war und ich finde es phantastisch, daß sein Werkchen noch nicht ein Körnchen Staub angesetzt hat. Von diesem Kaliber sind wohl die wirklichen Erzähler, die die Moden links (oder rechts) liegen lassen und einfach erzählen. Aber was heißt einfach ...

In den masurischen Geschichten von Siegfried Lenz waltet Kunst von hohen Graden, es ist die Kunst einer Liebeserklärung an eine verschwundene Kultur, an eine Heimat, die es nicht mehr gibt, weil es einen 1. September 1939 gab und zuvor einen 30. Januar 1933. Das Gebiet, in dem der unsägliche Hermann Göring weißen Hirschen nachjagte: es gehört heute zur Volksrepublik Polen und es wird dahin gehören, auch wenn es alten und neuen Revanchisten jenseits unserer Westgrenze, die von offenen deutschen Fragen faseln, in den Kram nicht passen will.

Ich könnte mir vorstellen, daß es nur zehn Jahre nach dem Krieg in der BRD des kalten Krieges ein riskantes Unternehmen war, solch ein Buch zu schreiben – keine Heimattümelei und vor allem keine Blut- und-Boden-Mystik unseligen Angedenkens, die doch gerade in Dorfgeschichten eine schlimme deutsche Tradition gestiftet hatte. „So zärtlich war Suleyken“ ist ein Buch für stille Genießer, die Geschichten sind, so Lenz, „methodisch übertrieben“, sie sind voller Humor, voller menschlicher Wärme, auch ein bißchen satirisch bisweilen, sie haben regionalsprachliches Kolorit der allerschönsten Art.

Den Geschichten nachgestellt ist die „Diskrete Auskunft über Masuren“, die Lenz geschrieben hat: „Meine Heimat lag sozusagen im Rücken der Geschichte; sie hat keine berühmten Physiker hervorgebracht, keine Rollschuhmeister oder Präsidenten; was hier vielleicht gefunden wurde, war das unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft: Holzarbeiter und Bauern, Fischer, Deputatarbeiter, kleine Handwerker und Besenbinder.“ Es lohnt sich, diesen Nachsatz sehr genau zu lesen, denn eines zeigt er auf frappierende Weise gewissermaßen nebenbei: wie präzise einer den Kern seines eigenen Werks erfassen kann, wo der Kritiker manchmal mühsam nach Worten sucht.

Eine solche Sammlung von Kabinettstücken deutschsprachiger Erzählkunst in einem so schmalen Buch ist wohl einmalig in der Literatur nach 1945 und es war ein hochzulobender Einfall des Aufbau-Verlages, kein Stück aus diesem Band in bereits vorher erschienene Lenz-Auswahlen aufzunehmen (auch Reclam hat sich daran gehalten in „Der Anfang von etwas“). Die zwanzig masurischen Geschichten gehören zusammen und zum goldenen Fonds der Literatur, nicht weniger.
 Zuerst veröffentlicht in JUNGE WELT 224, Seite 11, vom 22. September 1989 unter der  Überschrift „Diskreter Charme“, nach dem Typoskript

„Im Süden Ostpreußens, zwischen Torfmooren und sandiger Öde, zwischen verborgenen Seen und Kiefernwäldern waren wir Masuren zu Hause – eine Mischung aus pruzzischen Elementen und polnischen, aus brandenburgischen, salzburgischen und russischen.“ So beginnt Siegfried Lenz seine „Diskrete Auskunft über Masuren“, die den zwanzig masurischen Geschichten „So zärtlich war Suleyken“ nachgestellt ist. „Und sie besaßen eine Seele, zu deren Eigenarten blitzhafte Schläue gehörte und schwerfällige Tücke, tapsige Zärtlichkeit und eine rührende Geduld.“ Selten, gestehe ich, habe ich eine so präzise Kennzeichnung der Figuren eines Buches gelesen wie diese von Lenz selbst. Ihn zu rühmen, ist sicher überflüssig, sein den Moden fernes Erzählen sprach und spricht immer für sich.

„Und dann schreibe ich, Kapitelchen nach Kapitelchen, ganz einfach ...“, endete ein vor Jahresfrist hier veröffentlichtes Exklusiv-Interview mit ihm. „Ganz einfach“ sind auch die masurischen Geschichten, die in der BRD zuerst 1955 erschienen, als dort ringsum konkrete Poesie wucherte und die Kafka-Epigonen noch immer ihre Konjunktur hatten. Geschichten von Menschen „im Rücken der Geschichte“, die Hamilkar Schaß heißen oder Adolf Abromeit, deren Bahnlinie von Suleyken über Schissomir, Sybba, Borsch und Sunowken nach Striegeldorf führt, die, wenn Tante Arafa partout ein Bad nehmen will in Wszscinsk, auch schon mal den alten Stanislaus Skrrbik samt Wasser in den Abflußgraben schütten. Buchständlich Zeile für Zeile ist dieses Büchlein ein Genuß und ergänzt sehr glücklich die bereits bei uns erschienenen Lenz-Sammelbände „Ein Haus aus lauter Liebe“ (1977, Aufbau-Verlag), „Der Anfang von etwas“ (RUB 892 ) und „Motivsuche“ (1988, Aufbau-Verlag).

Da gibt es solche köstlichen Wörter wie „verzeipelten“ und „abpesern“, Mahnungen wie: „Selbst ein Krieg, Adolf Abromeit, ist keine Entschuldigung für Unhöflichkeit“ und dann natürlich die Geschichten selbst: ein lesewütiger Großvater entnervt eine marodierende Räuberbande, der Holzfäller Josef Waldemar Gritzan erobert Katharina Knack mit einer Lakritzstange und Rektor Ratz ist mit dem Dorfschullehrer auf dessen Plumsklo eingeschlossen. Nur in einer von zwanzig Geschichten schimmert deutlichere Sozialkritik auf. In „Verfolgungsjagd“, wo das Jagdgebaren eines Herrn Knack auf Knecken vorgeführt wird. Die Qualität der masurischen Geschichten betrifft das aber nicht.

Sie wollten „Liebeserklärungen“ sein und sind es geworden. Vertriebenen-Romantik lassen sie nicht aufkommen, was sie erzählen, ist vergangen für immer, deshalb aber keineswegs vergessen. Dafür besteht auch keine Notwendigkeit. Daß diese „Heimat“ nicht mehr existiert, ist nicht Schuld der Menschen, von denen Siegfried Lenz erzählt. Denn in Wirklichkeit jagte zwischen den masurischen Seen ja nicht ein Herr Knack auf Knecken, sondern der Kriegsverbrecher Hermann Göring mit seinen Paladinen und deren Schuld ist vor der Geschichte unauslöschlich. Es widerstrebt mir, Siegfried Lenz einfach nur einen Vollbluterzähler zu nennen, aber Besseres fällt mir nicht ein. Und er ist es ja auch bis heute geblieben.
 Zuerst veröffentlicht in TRIBÜNE 212, Seite 14, 27. Oktober 1989, unter der   Überschrift „Blitzhafte Schläue und tapsige Zärtlichkeit“, nach dem Typoskript

Solche Sätze stehen in diesem Büchlein: „Die einen scheren sich überhaupt nicht um die Zukunft, die anderen machen sich allerhand Gedanken und leiden.“ Und: „Kaum war das Gerücht entstanden, da tat es auch schon das, was in seiner Natur liegen muß: Es verbreitet sich.“ Und: „Übermäßige Laute des Staunens erklangen im Zeltchen, man warf ihm in spontaner Begeisterung Salzgurken zu, die er geschickt auffing, auch Heringe flogen ihm zu, ganz zu schweigen von Herzen. Er sammelte alles ruhig ein.“ Das Büchlein heißt „So zärtlich war Suleyken“, hat nichts mit Tausendundeiner Nacht zu tun und erschien zuerst 1955. Siegfried Lenz, der es schrieb, war wohl nicht darauf aus, uns zu zeigen, was ein Vollbluterzähler ist, er war noch keine dreißig Jahre alt damals und konnte vielleicht sogar mißverstanden werden.

Spielen doch die Geschichten in einer Gegend, auf die alte und neue Revanchisten bis heute nicht verzichten wollen, die traurige Berühmtheit dadurch erlangte, daß der fette Göring dort seine Jagden auf weiße Hirsche abhielt. Die Geschichten, die Siegfried Lenz auf unnachahmliche Weise erzählt, sind selbst der beste Beweis, daß er keine „Vertriebenen“-Ideologie bedienen wollte, sie sind einfach köstliche Literatur. Gesehen aus der Sicht eines Kindes ist jede der zwanzig Geschichten ein Kabinettstück. Ob es die durch Pferdeäppel im Wasser gesteigerte Schwimmleistung des rasenden Schusters Karl Kuckuck, die militärischen Glanztaten von Leseteufel Hamilkar Schaß und Adolf Abromeit oder das Bad der Tante Arafa zu Wszscinsk sind – es bleibt kein Auge trocken. Siegfried Lenz hat, wie er selbst sagt, „methodisch übertrieben“ und herausgekommen ist etwas ganz Seltenes.
 Zuerst veröffentlicht in NEUE HOCHSCHULE, Jahrgang 33, Nr. 2/1990, Seite 8, unter
 der Überschrift „Masurische Geschichten“


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