Hans Magnus Enzensberger zum Geburtstag

Die Geschichte unseres Umgangs mit Hans Magnus Enzensberger ist die Geschichte unseres Umgangs mit Hans Magnus Enzensberger. Zugleich ist sie auch symptomatische Geschichte: Geschichte unseres Umgangs mit einem Andersdenkenden – also zuweilen und freundlich gesprochen des Umgangs von kaum Denkenden mit einem Denkenden. Enzensberger war immer ein anders Andersdenkender und als sich die Gelegenheit zu bieten schien, ihn am Punkte (scheinbar) größter Annäherung festzunageln, ließen wir ihn antworten zur Folgenlosigkeit des bundesrepublikanisch grundierten Nonkonformismus und siehe: das Überlebensmuster denkender Intellektueller der anderen deutschen Republik in den fünfziger Jahren (und später) konnte an uns abperlen wie Wasser an einer wohlgefetteten Haut.

Der Punkt (scheinbar) größter Annäherung inszenierte sich als „Das Verhör von Habana“, Gnade des Nachdrucks und Gnade der Nachspiele trafen HME wohl nicht unerwartet. Umgangsgeschichte mit ihm: Sie impliziert vieles, und sie präsentiert paradigmatische Phasen – vom Punkt (scheinbar) größter Annäherung über die eher zähneknirschende fast diplomatische Anerkennung seines Repräsentanzpotenials bis hin zur nun langsam aufschimmernden Phase der Normalität, Enzensberger als Enzensberger zu nehmen. Wir können inzwischen, zu Jubel weder noch zu Jammer Anlaß, auf ganz entschiedene Ergänzungen unseres Erstkontakts zu ihm verweisen. Dem „Verhör von Habana“ folgten das „Poesiealbum 84“ (Neues Leben 1974), „Beschreibung eines Dickichts“ (Weiße Reihe Volk und Welt 1979), „Der Menschenfreund“ (Volk und Welt Spektrum 239, 1988) und „Erinnerung an die Zukunft. Poesie und Poetik“ (Reclam, Band 1233, 1988), dazu immer mal kleinere Proben in verschiedenen Anthologien.

Der Denker Enzensberger ist nach wie vor ungenügend in unserem Bewußtsein. Der Mann des „Kursbuches“ vertrüge, wie weiland der „kürbiskern“, der die Schwalbe spielen mußte, die noch keinen Sommer bedeutet, eine solide und breite Auswahl. Es dürfte auch eine andere als die verdienstvolle Akademie-Reihe „Literatur und Gesellschaft“ sein, eine preiswertere zum Beispiel. Enzensberger wäre zu entdecken als ein Mann, der - zum Beispiel – eine Büchnerpreis-Rede gehalten hat im fernen Jahr 1963, die – möge uns allen, die wir uns betroffen fühlen müssen, der Schock in die Glieder fahren – mit Wahrheiten operierte, zu denen wir uns eben gerade so hinarbeiten, als hätten wir das Pulver neu zu erfinden. Damit, ach, mein erhobener Zeigefinger schämt sich nicht, sind wir an einem Kern der Dinge. Enzensberger hatte über Jahre das Pech, uns zu nahe zu stehen, als daß wir von ihm auch hätten lernen können. Oder hatten wir nicht immer weniger Schwierigkeiten mit denen, die wir turnväterlich frisch distanzieren konnten als mit denen, die unsere Fähigkeit, dialektisch zu denken, zu werten, zu rezipieren sehr drastisch herausforderten? Hier müßte „Seuf, seufz“ in einer Sprechblase stehen, die HME sicherlich gelassen hinnehmen würde, denn damit müssen sie leben, die am 11. 11. Geburtstag haben.

Enzensberger: nach Heiner Müller und Günter Kunert, nach Christa Wolf und Peter Rühmkorf in diesem Jahr wieder einer der Großen, der sechzig wird. Einer, der steht für „Blindenschrift“ und „Verteidigung der Wölfe“, für „Mausoleum“ und „Landessprache“, für „Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend“ und für das „Lob des Analphabeten“ - ich mag nicht alles aufzählen. Enzensberger, dessen Kürzel HME ein Markenzeichen ist, ein gutes (ohne jede Ironie gesagt). Auf den die schlappe Formel vom „unbequemen Dichter“ passen würde, hätten wir nicht nun begonnen, die schlappen Formeln über Bord zu werfen. Dichtung und Politik, immer in konflikthaftem Koexistieren – wer hat einen ihrer auffälligsten und vielleicht gerade deshalb fast allseits ignorierten Differenzpunkt auf eine knappere Formel gebracht als Hans Magnus Enzensberger: „Die politische Sprache, die heut in Deutschland gesprochen wird, widersetzt sich aller Vernunft. Man kann über sie sprechen, in ihr nicht.“ Enzensberger, einer der Väter des provokant-tiefschürfenden Gedankens von der Symmetrie der Systeme (mit der Lebenserfahrung zweier deutscher Staaten nebeneinander) - wäre er nicht „auszuschöpfen“ jetzt und bald: ein Exempel zum endlich produktiven Umgang mit einem reichen Angebot zum Widerspruch?
 Zuerst erschienen in: BERLINER ZEITUNG, Nr. 266, Seite 13, 11./12. November 1989,
 unter der Überschrift: Von unserem Umgang mit Andersdenkenden, nach dem Typoskript


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