Harald Gerlach: Gehversuche

Harald Gerlachs Roman „Gehversuche“ (Aufbau-Verlag) mußte nicht lange auf Käufer warten, der von Jens Prockat entworfene Schutzumschlag hat sicher zum Zugreifen ermuntert, benutzt er doch eine Schlüsselstelle des Buches, um neugierig zu machen: „Georg wird heimgesucht: von dem Verdacht, daß Leben nicht stattfindet, nur vorgetäuscht wird. Daß die Masken rundum nicht entbehrlich sind. Daß wenn sie fielen, nur Leere sichtbar würde.“ Held Georg ist, wie der Klappentext vorwarnt, nur ein mittelmäßiger Held. Gegen solche ist gewiß nichts einzuwenden, zumal sie im Leben wohl doch dominieren. Held Georg ist auch ein Held in der Krise und da sein Alter das mittlere ist, muß man mit dem rechnen, was anderswo „midlife crisis“ genannt wurde.

Das ist nun nicht gerade ein überraschender Erzählanlaß und dem Autor war das durchaus bewußt. Es veranlaßte ihn, nach Mitteln zu suchen, ein bestimmtes Lesererwartungsmuster zu durchbrechen, beispielsweise durch Montage. Eines der montierten Elemente ist die fiktive – oder echte – Gebrauchsanweisung für einen Elektrisierapparat, welcher zu Großvaters Zeiten zu allerlei möglichen und unmöglichen Prozeduren benutzt wurde. Diese Passagen sind auch typographisch herausgehoben und gleich zweimal erscheint so der Satz: „Krisen sind notwendige, natürliche Erscheinungen und dürfen uns nicht erschrecken.“ Wenn Gerlach hier auch nicht gerade sperrangelweit offene Türen einrennt – eine Entdeckung ist ihm damit nicht gelungen.

Held Georg ist jedenfalls ein Theatermann an einem – aus Berliner Sicht – Provinztheater. Er hat eine geradezu lehrbuchreife Idealvorstellung von dem, was Theater soll und kann und stößt – wen kann das noch ernsthaft wundern – mit der Realität zusammen. Die Entdeckung eines verkannten Genies, das Züge von Uwe Greßmann zu tragen scheint, mißlingt ebenso wie die Ausgrabung eines fragmentarischen Stückes aus der Napoleonzeit. Da nun möchte Held Georg das Handtuch werfen und sich ins Gebirg' begeben, um Wäscheklammern zu fabrizieren und nicht einmal das Angebot, selbst Intendant zu werden, hält ihn richtig ab. Solch ein Lebensvollzug wird anderswo „drop out“ genannt, Aussteiger. Georg Radieschen züchtend und eigene Schafe kämmend, ist das ein Modell für eine Entwicklung eines mittelmäßigen Helden?

Der schon erwähnte Versuch, einem Erwartungsmuster zu entrinnen, gelingt bisweilen so vollständig, daß der „rote Faden“ verloren geht. Gerlach erklärt dies kurzerhand zur Tugend, indes er kommentierend einflicht: „Die Geschichten haben sich aufgefächert, voneinander entfernt. Gaben vor, ihre eigenen Wege zu gehen. Kein Ort, der sie noch zusammenbringt, ihre heimlichen Fäden und Bindungen absehbar macht.“ Die Geschichten, von denen Gerlach hier spricht, sind in der Mehrzahl solche, die für sich allein stehen könnten, pralle Stücke zum Teil und Anteil erweckend. Sie ziehen die Aufmerksamkeit so stark auf sich, daß Held Georg fast als hinderliches Einschiebsel erscheint: der Bruder Bernhard etwa mit seinem Traum vom Fliegen, hart am Klischee zwar, aber sehr lebendig, die Ehefrau und ehemalige Leistungssportlerin, die sich das Leben nimmt, der Kuckuck mit seinem Umsiedlerschicksal.

Daneben nimmt sich das Theater und seine Personnage aus wie einer Groteske entstiegen. Hoffen wir für das Theater, daß hier kein Schlüsselroman geschrieben worden ist. Die hochgestochenen Reflexionen des sich gescheitert glaubenden Theatermannes Georg wachsen nicht aus dem erzählten Erleben, sie stehen plötzlich da, unvermittelt, und machen folgerichtig auch die Krise nicht wirklich glaubhaft, ganz anders als bei einigen anderen Helden des Autors Gerlach – das sei ausdrücklich betont. Georgs eingangs zitierter Verdacht wird mit Gerlachs Buch bestätigt: es gibt nur das Leben mit Masken, hinter denen sich Leere verbirgt und das Leben ohne Masken, nach dem Willen des Autors ist das das „echte“ Leben. Dialektisch ist diese Sicht in keinem Falle. Da wird ausgegrenzt und letztlich abgeurteilt, ja sogar, um im Bild zu bleiben, „aus dem Leben verwiesen“. Die Utopie als der absolute unvermittelte Gegenpol zur Realität.

Mit Gedichten hat Harald Gerlach angefangen. Nach dem „Poesiealbum 56“ erschien 1973 der Band „Sprung ins Hafermeer“, freundlich begrüßt von Wulf Kirsten. Sprachreichtum zeichnete diese Gedichte aus und Präzision im Benennen. Der Bezug zur südthüringischen Landschaft – der zweiten Heimat des Dichters – war allgegenwärtig. Zwei weitere Gedichtbände sind inzwischen gefolgt: „Mauerstücke“ 1979 und „Nachricht aus Grimmelshausen“ 1984. Sie zeigen einen Harald Gerlach in steigender Linie und verdienen ausführlichere Würdigung. Prosa gibt es mit der Erzählung „Das Graupenhaus“ 1976 und den „Vermutungen über einen Landstreicher“ 1978. Schließlich erschienen 1983 unter dem Titel „Spiele“ auch acht Texte fürs Theater, die unbedingt Beachtung verdienen. Harald Gerlach hat gezeigt, was er kann. Der jetzt vorliegende Roman scheint nicht seinen weiteren Weg abzustecken, Stärkeres muß folgen in den erprobten Formen.
 Bisher unveröffentlicht, geschrieben für BERLINER ZEITUNG Mai/Juli 1986


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