Georg Kaiser 1878 - 1945
Wenn zu DDR-Zeiten der Ortsname Grünheide nur flüsternd genannt wurde, dann lag das auf keinen Fall an Georg Kaiser. Der am 25. November 1878 in Magdeburg geborene Dramatiker hatte zwar bis zu seiner späten Flucht ins schweizerische Exil im Jahre 1938 in Grünheide gelebt, mit seinem Namen aber dem Ort nicht jene Anziehungs- oder Abstoßungskraft verliehen, die von Robert Havemann ausging, dem in den Honecker-Jahren dort unter Hausarrest stehenden Systemkritiker. Heute gibt es einen in Grünheide ansässigen Georg-Kaiser-Literaturverein und in Sachsen-Anhalt wird seit 1996 alle zwei Jahre ein Georg-Kaiser-Literaturpreis verliehen. Das übergroße Unrecht, das schon Kaisers Mitwelt, mehr aber seine Nachwelt ihm antat, ist damit kaum zu tilgen. Georg Kaiser war der erfolgreichste deutsche Dramatiker der Zeit zwischen beiden Weltkriegen, schrieb bis zu seinem Tod im schweizerischen Ascona im Jahr 1945, es soll eine insterile Injektionsnadel gewesen sein, die ihn letztlich tötete, mehr als siebzig Bühnenwerke. Und allein zwischen 1919 und 1933 hatte er um die vierzig Uraufführungen.
Doch gerade die Menge seiner Schauspiele war es, die Vielfalt der Stoffe und Zeiten, die ihm immer wieder einmal vorgehalten wurde, nicht selten sehr süffisant. Das Wort vom Konstruierten, von der Kälte seiner Spiele machte die Runde und unter den Theaterkritikern der Zeit war es vor allem der große Alfred Kerr, der keine Gelegenheit ausließ, um auf Kaiser seine berüchtigte Verbaldresche loszulassen. Als viele Jahre später der ebenfalls große Theaterkritiker Friedrich Luft forderte „Spielt mehr Kaiser!“, war es zu spät, Kaiser geriet zunehmend in Vergessenheit und vor allem: aus den Spielplänen. Obwohl der unvoreingenommene Leser der Texte auch heute nicht lange braucht, um zu sehen: Das ist spielbar.
Mit unausrottbarer Kurzsichtigkeit wird Georg Kaiser immer wieder vor allem oder gar ausschließlich mit dem deutschen Expressionismus in Verbindung gebracht. Und in der Tat ist der Expressionismus auf der Bühne mit seinem Namen mehr als mit anderen Namen verbunden. Doch ob es die Stücke „Gas“ und „Gas. Zweiter Teil“ sind, „Die Bürger von Calais“ oder das fast noch berühmtere „Von morgens bis Mitternacht“ - gerade das, was seinerzeit Furore macht, nervt heute. Die nicht-natürlich, die exaltierte, die ekstatische Sprechweise der Figuren verweigert sich zunehmend der Kommunikation, auch Georg Kaisers Aufsätze aus dieser Zeit verlangen Lesern alles ab. Wer aber beispielsweise seinen späten „Pygmalion“ liest, der so gar nichts mit Eliza Doolittle zu tun hat, der ist plötzlich dem Menschen Georg Kaiser ganz nah, der solche Annäherung nie wollte. Der sieht ihn mit sich ringen und mit den ganz großen Wahrheiten auf die Bühne kommen.
Kaiser verarbeitet nur vordergründig die unsterbliche Geschichte vom Bildhauer, der sich so sehr in eine eigene Statue verliebt, dass er die Göttin bittet, das Geschöpf aus Marmor leben zu lassen. Kaiser hat auf tragikomische Weise auch die Geschichte seines privaten Eigentumsdeliktes verarbeitet, der ihm Gefängnis einbrachte und die Häme des jungen Brecht. Und ist so in die Literaturgeschichte eingegangen als der wahrscheinlich einzige große Autor, der wegen eines profanen Diebstahls rechtskräftig verurteilt wurde und sich vor Gericht mit seinem Sein als Dichter rechtfertigte, das ihn außerhalb der Gesetze stelle. „Pygmalion“ erklärt aber auch, dass nur Kunst, dass nur große Künstler das Argument sind, mit dem Göttin Athene den Göttervater Zeus immer wieder davon abhält, die missratene, die unbelehrbare Menschheit zu vernichten. Das ist unsterblich.
Zuerst veröffentlicht in FREIES WORT, 25. November 2003, Seite 24, unter der
Überschrift „Gegen die Vernichtung“