Anais Nin: Künstler und Modelle

Meiner Buchhändlerin will ich nichts unterstellen: sie legte mir diese „erotischen Erzählungen“ mit dem Titel nach unten in den Korb und die Frau an der Kasse warf mir einen Blick zu, der besagte: Sie haben aber Glück. Ich weiß dieses Glück zu würdigen, obwohl ich bekenne, dass es in diesem Falle kein reines war. Das hat einen sehr einfachen Grund. Es wollte das rechte Lesevergnügen nicht aufkommen bei mir, ich blätterte hin und blätterte her. So wenig hintersinnig diesmal der Blickfang auf dem Schutzumschlag war, so eindeutig vielmehr stattdessen, so ist auch das Buch. Das mag angehen, immerhin ist unser Buchmarkt noch lange nicht gesättigt mit derartigen Produkten, der Bedarf weit größer als Möglichkeiten und Bereitwilligkeiten, ihn zu decken. Teure Winzigkeiten in Schuber sehen nie die Ladentische und so weiter und so fort. Nein, ärgerlich ist die Sprache in diesem Buch, die ja nicht die Sprache der Verfasserin ist, sondern die Sprache der Übersetzerin Eva Bornemann, die wiederum nicht die Sprache von Eva Bornemann ist, sondern die leidige deutsche Sprache.

Hat nicht ein Herr namens Bornemann ein umfängliches Nachschlagewerk zu den einschlägigen Synonyma im Deutschen verfasst? Ich kenne nicht das Original. Es macht einfach keinen Spaß, diesen Beschreibungen zu folgen, obwohl es doch ungeheuren Spaß machen könnte. Die emanzipatorische Komponente, die die Autorin selbst hineinlegt in diese Erzählungen, mag ich nicht erkennen, „die ersten Schritte einer Frau auf ein Gebiet … das bisher nur Männern überlassen war“, sind Schritte in ausgetretenen Fußspuren. Allerdings verweist Anais Nin auf ihr Tagebuch. „Sollte die unzensierte Fassung des Tagebuches je veröffentlicht werden, wird diese weibliche Sicht deutlicher werden.“ Ein Trost für Leute, die ohne tieferen Sinn sich keinen Genuss gönnen wollen. Übrigens: Vorn im Buch, kursiv gedruckt, steht ein Häppchen aus diesem Tagebuch, und das lohnt sich nun wirklich zu lesen. Sonst lobe ich mir das ferne China und das ferne Indien.
Zuerst veröffentlicht in TRIBÜNE Nr. 10, Seite 14, am 13. Januar 1989 unter der Überschrift:
„Leider allzu eindeutig“, nach dem Typoskript


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