Über "Emile" vergaß Kant den Spaziergang
Berühmt ist die Anekdote von Immanuel Kants versäumtem Spaziergang an dem Tag, an dem er Rousseaus „Emile“ las. Die Lektüre fesselte ihn so sehr, daß er seine eiserne Gewohnheit beiseite ließ. Die fast sensationellen Erfolge des Uhrmachersohns aus Genf sind vielfach bezeugt, insbesondere seine erste Abhandlung zur Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Reinigung der Sitten beigetragen habe, schlug ein wie ein Blitz. Erfolge als Schriftsteller „wider Willen“ hatte er auch später noch, vor allem mit der „Neuen Heloise“ (1762). Innerhalb der französischen Aufklärung, in deren zweite große Phase er sich einbrachte, wurde er so etwas wie ein „enfant terrible“.
Die erste Abhandlung widersprach dem vorherrschenden linearen Fortschrittsglauben – die spätbürgerliche Ideologie hat das zum Anlaß genommen, ihn zum Stammvater „moderner“ Fortschrittskritik zu erheben -, die zweite Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen stellt die determinierende Rolle des Eigentums fest, später entwarf er in seiner sicher folgenreichsten Schrift „Der Gesellschaftsvertrag“ eine Gesellschaftstheorie, deren Implikationen an nicht wenigen Stellen sogar über die bürgerliche Gesellschaft, die sie objektiv geistig vorbereiten half, hinauswies.
Melchior Grimm, Schöpfer der „Literarischen Korrespondenz“, die die Großen des feudalen Europa über Paris, damals die Welthauptstadt des Geistes, unterrichtete, schrieb seinen Kunden: „Herr Rousseau hat nicht einen einzigen bekehrt, dessen er sich rühmen könnte, und gerade die, die seine Werke mit dem größten Vergnügen gelesen haben, stehen seinen Gedanken am fernsten.“ Grimm hatte wenigstens in der Hinsicht recht, daß Rousseaus Erfolg in der Tat zu nicht geringen Teilen auf schlichten Mißverständnissen beruhte. In seinem Lebensrückblick „Dichtung und Wahrheit“ gab Goethe schon eher ein treffendes Bild: „Wer mit diesem außerordentlichen Manne nur irgend in Verhältnis gestanden hatte, genoß teil an der Glorie, die von ihm ausging, und in seinem Namen war eine stille Gemeinde weit und breit ausgesäet.“
Die wirklichen, die historischen Verdienste von Jean-Jacques Rousseau haben am tiefsten erst Marx und Engels gewürdigt und es verdient Beachtung, daß sie gerade den Dialektiker Rousseau herauskehrten. Tatsächlich ist Rousseau in der Erkenntnis der Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung weiter vorgedrungen als selbst die klassische deutsche Philosophie es in mancher Hinsicht vermochte.
Kaum noch vorstellbar ist es heute, daß Rousseau auch auf ganz anderen Gebieten Beachtliches geleistet hat: er schrieb Bühnenwerke, Komödien, ein Ballett, wobei er als Texter und als Komponist in Erscheinung trat. Das Singspiel „Der Dorfwahrsager“ ebenso wie seine Version des „Pygmalion“ sollen Beifallsstürme erlebt haben, der „Dorfwahrsager“ bringt ihm gar eine Einladung zum König Ludwig XV. ein, die er aber nicht befolgt. Zugleich – und das ist, kennt man die Biographie Rousseaus, durchaus typisch – schreibt er auch eine Arbeit gegen das Theater, genauer gegen Pläne, ein Theater in seiner Vaterstadt Genf einzurichten.
Jean-Jacques Rousseau ist am 28. Juni 1712 geboren und am 2. Juli 1778 gestorben. Das gärende brodelnde achtzehnte Jahrhundert in Frankreich prägte ihn und er drückte ihm umgekehrt seinen unverwechselbaren Stempel auf. Die große französische Revolution, deren geistiger Wegbereiter er in hohem Maße war, erlebte er selbst nicht mehr. Sie sorgte für posthume Ehre, indem sie ihm einen Ehrenplatz im Pantheon zuwies, neben Voltaire. Die Feinde der Revolution gingen in ihrer idealistischen Verkennung der Gesetzmäßigkeit der Geschichte sogar so weit, Rousseau die Schuld an der Revolution in die Schuhe zu schieben. So groß war seine Wirkung nun wahrlich nicht, wenn auch dennoch groß genug, ihn zu seinem 275. Geburtstag ohne den Staub des nur Vergangenen dastehen zu lassen.
Zuerst veröffentlicht in Berliner Zeitung Nr. 147, 25. Juni 1987,
Unterzeile: Vor 275 Jahren wurde Rousseau geboren, Manuskriptfassung