Wladimir Tendrjakow: Die stillen Wasser von Kitesh

„Kennzeichnend für das Groteske“, lese ich im „Sachwörterbuch für den Literaturunterricht“, „sind die starke Übertreibung und der Verzicht auf Wahrscheinlichkeit.“ An dieser Elle gemessen ist Tendrjakows Buch „Die reinen Wasser von Kitesh“ eines mit Sicherheit nicht: nämlich die Groteske, als die es der Verlag ausweist. Da ist weder etwas übertrieben noch etwas unwahrscheinlich und manches bedenkend, was zu bedenken ist, neige ich fast dazu, das Buch traurig naturalistisch zu nennen. Grotesk ist allenfalls die Tatsache, dass das Jahr 1988 als Erscheinungsjahr angegeben ist, obwohl es erst im späteren Sommer 1989 in Leserhände kam, aber damit befindet es sich in guter Gesellschaft: Bulgakows „Hundeherz“ erging es ebenso und Makanins „Tunnel in die Zeit“ fehlt, während ich diese schreibe, noch ganz und gar.

Wozu gibt es eigentlich Messeprogramme? Nimmt man „Groteske“ als eine besonders gallige Form der Satire, dann trifft es schon eher das, was Wladimir Tendrjakow zwischen 1977 und 1980 über die Stadt Kitesh und ihre ruhmreiche Zeitung „Die Morgenröte von Kitesh“ aufgeschrieben hat. Diese erbärmliche Geschichte zwingt mir das Grinsen aus dem Gesicht, das sich da und dort breitmachen will, wo es gar zu haarsträubend zugeht, aber viel zu ernst ist der Gegenstand, als dass man an ihm sich verlustieren möchte. Nein: da gibt es nichts heiter zu verabschieden nach bewährtem Erzählmodell, obwohl die liebe „Morgenröte“ heute wahrscheinlich ein ganz anderes Blatt wäre, gäbe es sie und hätte nicht der Autor sie sich eigens erdacht. Jedes tiefere Nachdenken über diese Geschichte führt vor Abgründe und über den Platz eines solchen doch „untypischen“ Tendrjakow im Gesamtwerk mag ich gar nicht sinnieren. Ich meine diesen Redaktionssekretär zu kennen, weiß der Teufel … .

Der sich einen Sidorow erfindet, der dann ein Eigenleben gewinnt als sein „Leserbrief“ erschienen ist. Ach ja, worum geht es eigentlich: Ein Chefredakteur, gewöhnt daran, das Gras wachsen zu hören, hat die Botschaft vernommen, es wäre gut, eine Kampagne zu führen gegen die Verschmutzung der reinen Wasser von Kitesh durch das Kombinat des „allmächtigen“ Onkel Kallistrat. Sein Redaktionssekretär setzt die Sache um, indem er mit dem Dichter Iwan Lepota einen „flammenden“ Artikel fabriziert. Da „man“ aber nie recht weiß, was alles passieren kann … tja, das muss man nachlesen. Die Geschichte geht ihren fatalen Gang bis zum Ende wie weiland das Hornberger Schießen, alles mögliche und unmögliche passiert und die reinen Wasser spielen längst für niemanden mehr auch nur die geringste Rolle.

Tendrjakow hat umwerfende Passagen in sein Buch gebaut. Eine beginnt mit dem Satz: „In der guten alten Zeit ging es rührend einfach zu.“ Es gibt eine überaus stille Naturschutzgesellschaft im Buch und taktierende Journalisten: bis zum Slapstick treibt es der sonst so ernste Moralist Tendrjakow. Möge niemand nur lachen darüber. Eckhard Ullrich
Zuerst veröffentlicht in: Junge Welt Nr. 280 vom 28. November 1989, Seite 9, unter der Überschrift: „Man“ weiß nie; nach dem Typoskript


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