Boris Wassiljew: Und morgen war Krieg

„Die Kunst muss über das Gefühl das Denken erreichen. Sie muss den Menschen alarmieren, ihn fremdes Leid empfinden, ihn lieben und hassen lehren. In Beunruhigung versetzt, ist man wissbegierig und aufmerksam; der Zustand der Ruhe und Selbstzufriedenheit dagegen führt zu seelischer Trägheit.“ Mit diesen Worten wendet sich Leonid Sergejewitsch Ljuberezki an das Mädchen Iskra und zugleich der Autor Boris Wassiljew an seine Leser. Es ist eine der bewegendsten Szenen des Buches „Und morgen war Krieg“, das jetzt als bb-Taschenbuch im Aufbau-Verlag vorliegt. In den Büchern, die bisher von ihm bei uns erschienen sind – genannt seien hier nur „Im Morgengrauen ist es noch still“ und „In den Listen nicht erfasst“ – hat Boris Wassiljew immer kräftige Geschichten erzählt, solche, die Emotionen herausforderten, die das große Gefühl nicht scheuten und auch die eindeutige Aussage nicht.

Und auch in dem neuen Buch ist sich Wassiljew nicht zu fein für eine unmissverständliche Lehre, er erhebt den Zeigefinger keineswegs schamhaft, sondern energisch. Von tragischem Geschehen erzählt „Und morgen war Krieg“: eine Schülerin nimmt sich das Leben, weil sie ihren Vater nicht verraten will. Unter falscher Anschuldigung ist er verhaftet worden und Vika, das kluge sensible Mädchen, das Sergej Jessenin liebt und Alexander Grin, soll aus dem Komsomol ausgeschlossen werden, wenn sie sich nicht lossagt. Es gibt keine eilfertige Kontrapunktik in Wassiljews Buch, dennoch handelt es sich, mit Wsewolod Wischnewski zu reden, um eine optimistische Tragödie. Nicht ein fataler Ablauf ist Kern des erinnerten Geschehens sondern ein Lernprozess, der ewig junge und daher ebenso allgemeine wie stets konkrete Schritt aus der Kindheit ins Dasein der Erwachsenen. Mit Verlust ist dieser Schritt verbunden und mit Schmerz, mit Gewinn auch und nicht selten mit solchem Gewinn, der langsam erst erkenntlich wird.

Am nachhaltigsten erlebt das Mädchen Iskra diese Entwicklung. Boris Wassiljew lässt sie den weitesten Weg zurücklegen und im Epilog erfahren wir, dass Iskra neben ihrer Mutter von deutschen Faschisten erhängt wurde: „Und morgen war Krieg“. Nur 19 von 45 Schülern der alten Klasse 7b überleben diesen Krieg, der den Erlebnissen des Jahres 1940 eine andere Dimension gibt, ohne sie zu verkleinern. Boris Wassiljews Buch ist ein beunruhigendes Buch, es macht wissbegierig und aufmerksam, es alarmiert. Es macht ein Stück komplizierter Geschichte vorstellbar und es ist auch ein Heldendenkmal, ein gutes, weil in menschlichen Maßen.
Zuerst veröffentlicht in: TRIBÜNE, Nr. 252, Seite 14, am 24. Dezember 1987; Überschrift: Abschied von der Kindheit mit Verlust und Gewinn; nach dem Typoskript

Dies ist ein Buch, das einen Schweigen macht, Betroffenheit will keine Worte. Dann aber doch der Wunsch zu teilen und die Gewissheit: dieses Leid wird nicht halbiert, dieses Buch soll gelesen werden. Es ist ein Buch über die Strenge, ein Buch über den guten Glauben, ein Buch über das Vertrauen. Und ein Buch, wie alles anders wird. Das Lehrbücher Lügen straft und Lehrbücher notwendig macht. Boris Wassiljew kann Wissen voraussetzen. Schon im Titel ist dieses Wissen: der mörderische Krieg kostet mehr als zwanzig Millionen Sowjetmenschen das Leben. Wieviel bleibt dann noch an Platz für ein einzelnes Schicksal? Nur Literatur kann das so aufeinander beziehen, dass herauskommt: nichts wird relativiert, nichts wird verkleinert. Junge Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, Mädchen mit ganz alltäglichen Sorgen und Nöten, Jungen noch in aller Jungenhaftigkeit – sie suchen nach Leitbildern, sie haben einen großen Enthusiasmus und sie sind geprägt von ihrer Zeit. Noch ist ihnen die schmerzhafte Widersprüchlichkeit ihres Lebens, des Lebens, das sie umgibt, nicht bewusst, kaum ahnbar.

Noch wissen sie nicht, dass ihre Kraft Grenzen haben kann, dass den einen tötet, was den andern nur verhärtet, den dritten aber zum Kampf herausfordert. In dem Geschehen um das Mädchen Vika, dessen Vater unter falschen Anschuldigungen verhaftet wird, erfahren sie einen Lernprozess, machen sie bittere, unauslöschliche Erfahrungen. Iskra, das Mädchen mit den festesten Ansichten, mit altklugen Grundsätzen, muss die weiteste Strecke durchmessen, sie hält die Spannung aus, die sich plötzlich auftut zwischen Überzeugungen und Wirklichkeit. Nicht das Ende ihrer Überzeugungen steht am Ende, sondern ihr ihnen gebrachtes Opfer. Iskra bringt das höchste Opfer: ihr Leben und viele viele mit ihr. Boris Wassiljew redet in seinem Buch auch der stillen Sprengkraft von Literatur das Wort, dem untergründigen Wirken von Dichtung.
Zuerst veröffentlicht in: JUNGE WELT, Nummer 193, Seite 11, am 16. August 1988, Überschrift: Das Mädchen Vika; nach dem Typoskript, Autor Ulf Steinau.


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