Ich bin ein Spätblüher

Dem Nachgeborenen versagen die bewährten Rezepte: ich kann nicht schreiben von Begegnungen aus dem Jahre 1928, da wurde meine Mutter erst geboren. Ich kann nur einen Blick werfen auf die Fotografie etwa, die das Atelierhaus zeigt in Berlin-Eichkamp, das er 1926, nach vierzehn  möblierten Zimmern und Wohnungen, wie er schrieb, endlich beziehen durfte und mir vorstellen, wie er aufatmete: Raum nun, ersehnt, erträumt, Raum zum Schaffen. Ich lese nach in einem Text mit dem Titel „Der Angriff der Gegenstände“. Da ist, zunächst beinahe ins Kulturphilosophische erhoben, von den Nöten des Dichters Arnold Zweig die Rede: „Mit der Energie, die man heute aufwendet, sich eine Wohnung, unzureichend, zu eng, ohne den selbstverständlichen Zubehör – zu verschaffen, schrieb man früher einen Roman, stellte man eine umfassende und erhellende Abhandlung ins reine, organisierte man damals einen Bund zum Eingriff in irdische Zustände.“

1923 ist das geschrieben und „damals“ - wann war das wohl? Das Profane bedrängte ihn mit allen Mächten und viele Jahre später noch erinnerte er sich einer Bootsfahrt auf dem Starnberger See: „In jenen Jahren der dauernd sinkenden Kaufkraft des Geldes wogen Nahrungsmittel so schwer in unserem Leben wie einst künstlerische Werte oder platonische Ideen.“ Da setzte sich jemand im Boot auf den Rucksack, der Reis und Butter enthielt: „Mein rasender Zornausbruch, der uns damals fast alle ins Wasser befördert hätte und sich an diesen Rucksack knüpfte, führte mich schließlich zu der Einsicht und dem Entschluß, etwas zur Wiederherstellung meines seelischen Gleichgewichts zu tun.“ Arnold Zweig hat etwas getan: „Und drittens verdanke ich Ihrer neuen Seelenheilkunde persönlich die Wiederherstellung meiner gesamten Person, die Entdeckung, daß ich an einer Neurose litt, wobei schließlich die Heilung dieser Neurose durch Ihre Methode und auf Ihren Wegen.“ Der Adressat dieser Mitteilung: Siegmund Freud. Das Datum: 18. März 1927. Sie ist also auf alle Fälle gut erfunden – die Anekdote von der Wette zwischen Peter Edel und Lothar Kusche, wie lange wohl der Festredner Zweig mit seiner Ansprache über Goethe brauche, bis er auf Freud käme.

Ich lese die Mitteilung über die Verleihung des Kleistpreises 1915 in „Das literarische Echo“, Berlin. Je 1000 Mark fielen an Robert Michel und Arnold Zweig. „Arnold Zweig befindet sich gegenwärtig als Landsturmmann auf dem westlichen Kriegsschauplatz. Er hat die Romane „Aufzeichnungen über eine Familie Klopfer“, die „Novellen um Claudia“, Kriegsgeschichten unter dem Titel „Die Bestie“, die Dramen „Abigail und Nabal“, „Ritualmord in Ungarn“ und „Klaudias Ehebruch“ veröffentlicht.“ So steht es da. Paul Wiegler war 1915 der Vertrauensmann der Kleist-Stiftung, der satzungsgemäß die Preise vergeben durfte und das „Literarische Echo“ hat offensichtlich bessere Quellen gehabt als der spätere Zweig-Forscher. Wohl war Arnold Zweig der Meinung, er sei mit „Claudias Ehebruch“ in eine „zukünftige Dramatik hineingeschritten“ (Brief an Helene Weyl vom 9. März 1914), aber gedruckt wurde das Zweipersonen-Stück doch nicht und das Manuskript ging dann sogar, mit vielen anderen, im Jahre 1933 verloren.

Ehe aus dem Dichter Arnold Zweig der Landsturmmann Arnold Zweig wurde, gab es noch eine schlimme Episode: Zweig schlug sich an die Seite der chauvinistischen Kriegsverherrlicher, wie – leider – viele andere seiner Kollegen auch. Erst im mörderischen Gemetzel der Materialschlacht vor Verdun verlor er die letzte Illusion. So ist aus den Folgejahren ein neues Licht auf seinen ersten literarischen Publikumserfolg gefallen: Walter Rohme und Claudia Eggeling, die Helden der „Novellen um Claudia“, verwandelten sich in Musterexemplare der Gattung junge Vorkriegsintelligenz, eher soziologisch-sozialpsychologisch zu betrachten, denn ästhetisch. Ihr erneutes, wenn auch knappes Auftreten in dem großen Exil-Roman „Das Beil von Wandsbek“ hat ein übriges bewirkt. Und einstmals haben junge Mädchen dieses Buch gelesen, weil darin die Novelle „Die keusche Nacht“ zu finden war. Das ist nun heute wirklich schwer nachvollziehbar, da muß schon das Wissen um die moralische Muffigkeit jener Friedenszeiten herangezogen werden, die Schnitzlers „Reigen“ auf den Index setzte.

Arnold Zweig hat diesbezüglich auch eigene Erfahrungen machen dürfen, mit seiner Geschichte „Das Kind“, die er zu einem literarischen Wettbewerb einsandte und mit einem Schreiben von Thomas Mann zurückerhielt, „des heiklen Vorwurfs wegen, ganz außer Betracht für ein bürgerliches Publikum.“ Verwandelt erschien diese Enttäuschung wieder in den „Novellen um Claudia“, aus der Geschichte wird ein grafischer Zyklus, aus dem Dichter der Maler Klaus Manth und aus Thomas Mann ein Kunstprofessor, der Anpassung an den Kunstmarkt rät. In besagtem Preisausschreiben fiel dann der erste Preis an Bruno Frank, der zweite an Johannes Wilda, der dritte an den Autor Karl Bittermann, der unter seinem bürgerlichen Namen Bruno Arndt nicht allzu lange davor Arnold Zweigs Englischlehrer gewesen war in der Kattowitzer Realschule.

Ist es also verwunderlich, wenn Arnold Zweig noch 1952, nach der Lektüre von Bruno Franks bedeutendstem Roman „Cervantes“ an Lion Feuchtwanger schreibt: „Ein Roman ersten Ranges – nie hätte ich Br. F. diese Frische und Konzentration, Gestaltungskraft und Klugheit zugetraut.“ Frühe Verwundungen sitzen tief. Wieder fünf Jahre später, 1957, erinnert sich Zweig in seinem Geburtstagsgruß an Robert Neumann einer alten Überzeugung: „... als ich Ihren dicken Roman „Die Sintflut“ zu mir genommen hatte, dachte ich: zwei Manns, zwei Zweigs, zwei Franks und jetzt zwei Neumanns. Vier Paare, von denen der berühmtere Zwilling auch der schwächere ist. Denn damals, vor fünfundzwanzig Jahren, galt Thomas mehr als Heinrich, Bruno mehr als Leonhard, Stefan mehr als Arnold und Alfred mehr als Robert.“ Arnold Zweig hielt den Österreicher Stefan Zweig für den „schwächeren Zwilling“ und war sogar bereit, seine frühe Hochachtung für Thomas Mann zu vergessen und ihm erst einen späteren Aufstieg an die Seite seines Bruders Heinrich zuzubilligen. Wer möchte da nicht berührt das Allzumenschliche anerkennen und tolerieren.

Gut vorstellbar ist die Last des Namensvetters und noch in diesem Jahre 1987, das den 100. Geburtstag von Arnold Zweig begeht, hörte ich diesen Satz: „Ach ja, Arnold Zweig, von dem habe ich zuletzt „Fouché“ gelesen, das war ein großartiges Buch.“ Nein, Arnold Zweig muß deshalb nicht verteidigt werden, dafür steht sein Werk da. Es bedarf auch keiner umständlichen Erklärungen, warum unter den Autoren, die er öffentlich lobte, die Namen Robert Louis Stevenson, Rudyard Kipling und Jack London zu finden sind. „Wenn jemand die Leute aus einem erfüllten und überzeugten Wesen her anspricht, horchen sie auf und hören zu“ - das wußte Arnold Zweig. Und er hatte auch eine andere Überzeugung: „Wir Schriftsteller sind dazu da, den Leuten aufzudrängen, was sie hören sollen. Die Leute sind dazu da, sich unseren Diktaten zu fügen oder uns links liegen zu lassen. Immer dann, wenn uns und sie eine gemeinsame Notwendigkeit treibt, wenn wir durchlitten haben, was auch sie durchlitten, wenn uns das Leid zerschneidet, das auch sie zerschnitt, dann springen sie auf, sind erlöst, bestätigen uns, kaufen unsere Bücher und geben uns in schwierigen Zeiten den gelassenen Mut, den wir zur Arbeit brauchen.“

Arnold Zweig hat diese Überzeugung gewonnen, nachdem er mit „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ zu einem Autor von Weltbedeutung geworden war. Sein Themas, „Der große Krieg der weißen Männer“, ließ ihn nun nicht mehr los. Es war nicht nur das Grunderlebnis seiner Generation, zu dem er immer wieder zurückkehrte, dem er sechs vollendete Romane widmete und eine Anzahl Novellen, dem ein erheblicher Teil der regen Publizistik sich zuwandte. Es war mehr. Am 8. April 1961 brachte er es in Hamburg anläßlich einer Podiumsdiskussion zum Thema „Der PEN-Club in unserer Zeit“ auf die kurze Formel: „Der Schriftsteller hat mit dem Krieg nur dies zu tun, daß er ihn bekämpfen muß.“

Es mag Sache der Philologen sein, Brüche ausfindig zu machen, die dadurch entstanden sind, daß die sechs Romane des Zyklus nicht auch in der chronologischen Ordnung der Handlung geschrieben wurden. Wichtiger wäre wohl zu fragen, wie es einem Werk ergeht bei Lesern, die nicht mehr aufwachsen in einem Klima der Verdrängung und Verklärung, die systematisch und wissenschaftlich tiefgründig schon sehr früh hingelenkt werden auf die Wurzeln des imperialistischen Krieges. Was „möglich gewesen in den Tagen jener deutschen Republik, die einmal in der Kulturgeschichte als eine große Zeit deutschen Geisteslebens, eine kleine Zeit politischer Schwäche und mangelnder Mannhaftigkeit gegen freche kleine Gruppen bezeichnet werden wird“ (Zweig 1936), ist in weiten Teilen der Welt, nämlich der Welt, in die Arnold Zweig 1948 aus seinem Exil in Palästina zurückkehrte, unmöglich geworden. Hoffnungsvoll hat er schon 1949 geschrieben: „Es könnte nämlich sein, daß wir Zeitgenossen zweier Weltkriege und unendlicher Greuel an einer Wende der Epochen stehen, obwohl wir keineswegs geneigt sind, uns für eine besonders ausgezeichnete Ära der Menschengeschichte zu halten. Diese Wende könnte darin bestehen, daß sich die Erkenntnis endlich durchsetzt, ein wie untaugliches Mittel zur Lösung historischer Knoten das Schwert darstellt.“

Arnold Zweig schöpfte sein Hoffen aus der Realität der Sowjetunion, die er erst 1952 zum ersten Male selbst besuchen konnte und aus der Realität des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, den er zur Heimat erkor, ohne lange zu zögern. Arnold Zeig ist bis zu diesem Schritt einen wahrhaft weiten Weg gegangen und es war ihm bewußt: „Ich bin ein Spätblüher, um es botanisch auszudrücken. Ich brauche immer sechs Monate länger, um hinter eine Sache zu kommen, wie Sie wissen, bin dann aber gründlich hinter ihr. Am 12. August 1934 gestand er in einem Brief an Siegmund Freud: „Ach, ich brauchte viele Leben, um alles zu produzieren, was in mir spektakelt...“. Da hatte er schon von manchem Plan Abschied genommen, seinen Traum, ein großer Dramatiker zu werden, schon ausgeträumt. Geblieben aber war die Energie, die er schon am 19. April 1919 seiner Briefpartnerin Helene Weyl vorführte: „Ich habe voluminöse Werke, wilde Werke, großausgeformte schicksalhaltende Werke im Schädel, Weylin! ... Ich will dichten! Romane und Tragödien sollen erstehen. Alles, was ich bis jetzt gemacht habe, ist eine Vorhalle gewesen.“

Werner Bertin und Carl Steinitz wurden die Geschöpfe, die er am deutlichsten nach sich selbst formte. Er setzte, sicher geworden in der Form des großen deutschen Romans, dann auch noch seine berühmte Fischgrätentheorie in die Welt, dem Studium der dramatischen Fabel entnommen. Ignorieren läßt sie sich nicht. Befolgt hat er sie vor allem selbst. Daß ich ausgerechnet im November 1968 mit „Die Zeit ist reif“ und „Junge Frau von 1914“ in der Reisetasche für eine Klassenfahrt meinen ersten Schritt auf Arnold Zweig zu tat, war noch zufällig. Mein erster Besuch in Berlin jedoch, 1972, führte mich zum Dorotheenstädtischen Friedhof. Ich suchte den Stein mit den Namen Arnold und Beatrice Zweig, unerfahren in Liebeserklärungen und 19 Jahre alt.
  Zuerst veröffentlicht in: Sonntag Nr. 46 1987, Seite 3 mit dem Untertitel:
  Zum 100. Geburtstag von Arnold Zweig, nach dem Typoskript


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