Von Abgründen erzählt

Es gab eine Zeit, da war er der Autor des meistgespielten amerikanischen Stücks. Es gab eine Zeit, da man ihm achtstellige Gesamtauflagenzahlen nachsagte. Erskine Caldwell, am 17. Dezember 1903 in White Oak, Georgia, als Sohn eines presbyterianischen Geistlichen geboren, am 11. April 1987 in Paradise Valley an Krebs gestorben, scheint heute fast ausschließlich als Lieferant einer halben Handvoll Zitate fort zu leben, die die verschiedenen Internet-Anbieter derartiger Sammlungen voneinander abschreiben.

Geschrieben aber hat er keineswegs nur einzelne Sätze, sondern Bücher in einer erklecklichen Zahl, mehr als sechzig weist die Bibliographie aus und darunter sind die berühmtesten und erfolgreichsten ganz zweifellos seiner frühen Schaffensphase zuzuordnen. „Die Tabakstraße“ (1932, von Jack Kirkland dramatisiert, von John Ford 1941 verfilmt), „Gottes kleiner Acker“ (1933, von Anthony Mann 1958 verfilmt) erzielten die höchste Reichweite, berühmt wurden auch die Romane „Tragic Ground“ (dt. „Sonnenstadt ohne Sterne“), „A place called Estherville“ (dt. „Estherville“) oder „Trouble in July“ (dt. „Ein heißer Sommer“).

Während des zweiten Weltkrieges war Caldwell Korrespondent in der Sowjetunion und er schrieb auch über diese Erfahrungen. Nichts aber bleibt mit seinem Namen als Verfasser von Romanen, Short Stories, Reisebüchern, Filmskripts so verbunden wie seine noch heute extrem unter die Haut gehenden Darstellungen des brutalen alltäglichen Rassismus in den USA des vorigen Jahrhunderts, seine sprachlos machenden Darstellungen des „Poor White Trash“, der vollständig und unvorstellbar demoralisierten ärmsten Weißen in den südlichen und mittleren Bundesstaaten.

Noch Ende der fünfziger Jahre hielten es Herausgeber seiner Werke in Europa für angeraten zu erklären, dass die Verhältnisse, die Caldwell darstellt, die Zerrüttung von Familien, nackte Gewalt, Missbrauch, Raub, Mord, Verlogenheit, bodenlose Unbildung, haarsträubender Aberglaube verbunden mit religiösem Wahn, dass all diese Verhältnisse keineswegs einer schwarzmalerischen Phantasie entsprungen waren, sondern Realität darstellten. Traurige, abstoßende, Mitgefühl eigentlich ausschließende Realität.

Am Ende von „Trouble in July“ etwa steinigen die weißen Lynchmörder, die eben noch den unschuldigen Sonny Clark erhängt und mit Kugeln durchsiebt haben, das Mädchen, das er angeblich missbrauchte, weil es ihnen die Wahrheit ins Gesicht schrie. Am Ende von „Estherville“ erschlägt ein Weißer den jungen Farbigen Ganus Bazemore mit einem Beil, obwohl er schon fast sicher weiß, dass dieser Junge nichts getan hat. In der „Tabakstraße“ überrollt Dude Lester die eigene Großmutter mit dem Auto und steigt nicht einmal aus, ebenso wenig, wie er ausstieg, als er einen farbigen Kutscher bei einem Unfall tötete.

Man muss es gelesen haben und sich vor Augen halten, dass dies keine hundert Jahre her ist, als es Alltag war im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Unsagbare Armut, unvorstellbare Rechtlosigkeit, das hat Caldwell auch vermittelt, dem in der DDR gern vorgeworfen wurde, dass er keine kämpfende Arbeiterklasse in Szene setzte und später zu viel des Sexuellen dafür in seine Bücher nahm, führen nicht zu einer Umgestaltung der Gesellschaft. Sie zeigen, wie nah am Tier der Mensch ist, wenn man ihn nicht Mensch sein lässt und ihm jede Aussicht verbaut, Mensch zu werden. Das reicht hin, Erskine Caldwell nicht einfach in Vergessenheit versinken zu lassen.
  Zuerst veröffentlicht in: Freies Wort am 17. Dezember 2003, Seite 24,
  mit der Dachzeile: Vor 100 Jahren wurde Erskine Caldwell geboren


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