Zum Abiturienten-Treffen 2006 in Ilmenau. Eine kleine Rede

Am Montag dieser Woche habe ich eine mir höchst sympathische Dame besucht, die ich regelmäßig besuche, wenn auch nie ganz freiwillig. Und fast immer, wenn ich sie besuche, muss ich vorher zehn Euro bezahlen. Das nennt sich Praxisgebühr. Sie fragte, ob wir uns am Sonnabend sehen und ich antwortete: Ich werde sogar eine Rede halten am Sonnabend. Daraufhin sie: Ach, Du bist das, der uns allen erzählen will, wie alt wir geworden sind.

Heute ist dieser Sonnabend und so will nun auch ich Euch alle ganz herzlich begrüßen in Ilmenau. Seid willkommen, die Ihr von mehr oder minder weither angereist seid. Seid willkommen, die Ihr auch sonst immer hier seid. Und ein spezieller Gruß gilt natürlich Ihnen, liebe Lehrer, liebe Lehrerinnen, die bei solchen Gelegenheiten immer so tun müssen, als wäre der einladende Jahrgang einer gewesen, an den man sich ganz besonders gern erinnert. Ich freue mich über alle, die den Anlass 35 Jahre Abitur Grund genug fanden, jetzt hier zu sein und ein paar hoffentlich gute Stunden miteinander zu verbringen. Und ich will den Anfang, den ich gemacht habe, natürlich auch zu einem ordentlichen Ende bringen.

Ich sagte also zu der genannten, mir höchst sympathischen Dame: Wir sind vielleicht alt geworden, Du doch aber nicht.Ihre weiblichen Sprechstundenhilfen lächelten freundlich bis verzeihend, was man eben so tut, wenn einer von diesen dickeren und grau gewordenen Herren meint, derartige Komplimente machen zu müssen, obwohl er auf dem „Fahrrad“ schon bei Stufe III keucht wie eine Dampflok zwischen Stützerbach und Schmiedefeld. Und sie, nun darf ich auch den Namen verraten, und Christine Reich, meine Hausärztin, lachte auf eine Weise, die man wohl einfach nur selbstbewusst nennt.

Ich plaudere aus meiner Mördergrube, zu der ich mein Herz nicht ungern mache, wenn ich sage: Die Damen des Jahrganges 1971, des Abiturjahrganges, um es noch einmal erinnerlich zu machen, können stolz sein. Unser uns allen gemeinsames Alter mit der nun zur Gewohnheit werdenden 5 vornedran sieht man ihnen ohne jeden Zweifel und statistisch absolut gesichert weniger an als uns, den „Kerlen“. Und das macht Sinn.

Ich mache einen Sprung: Am 15. Juli diesen Jahres gab es schon ein Abituriententreffen ehemaliger Goethe-Schüler. Man traf sich, weil das Ereignis der Reifeprüfung, die Matura, wie man in Österreich sagt, zehn Jahre zurück lag. Eine der Teilnehmerinnen dieses Treffens war meine Tochter Sarah, aus Hamburg angereist, wo sie in durchaus beneidenswerter Position arbeitet und lebt. Und ganz unvermeidlich dachte ich da, als wir uns umarmten beim nun eben nicht mehr so häufigen Wiedersehen zwischen Vater und Kind, an dieses Jahr 1996. An unsere gemeinsame Reise nach Berlin, an den Versuch, vor Ort herauszufinden, was sie denn studieren könnte in der Stadt, in der auch ihr Vater studierte.

Ehe mich die sentimentale Erinnerung völlig rauhstimmig macht: An kaum einer Stelle habe ich den Wandel der Zeiten deutlicher sehen können als beim Vergleich dieser kurzen und offenbar sehr prägenden Lebensphase zwischen dem Ende des einen Abschnittes und dem Anfang des nächsten.
Die FU, die Freie Universität Berlin, an der meine Tochter ihr erstes Semester studierte, ehe sie an die HdK, die Hochschule der Künste, wechselte, die später zur UdK, der Universität der Künste, wurde, hätte als Studienobjekt für unsere früheren Staatsbürgerkundelehrer in einer Weise dienen können, wie sie sich keine Unterrichtshilfe aus dem Hause Margot Honecker hätte ausdenken können.Wahnsinn und Chaos, die beiden Eckpfeiler dieses Studiums mit Phänomenen wie Pflicht-Kursen römisch I, die man belegt haben musste, ehe man die Pflicht-Kurse römisch II belegen konnte, dabei die einschränkende Randbedingung, dass die Lehrkräfte der Pflicht-Kurse römisch I wegen Geldmangels im Berliner Senatssäckel eingespart worden waren.

Nie sind mir Grundzüge von Planwirtschaft sympathischer gewesen als bei Betrachtung einer nun gesamtdeutschen Hochschulbildungslandschaft, in der auf Teufel komm raus junge Leute in Fächern ausgebildet werden, die niemand braucht, oder in der 300 Leute in eine Seminarveranstaltung in einem Raum streben, in den kaum vierzig passen und von diesen 300 Leuten sind nicht einmal zwei Drittel offiziell überhaupt eingeschrieben. Das soll, liebe Freunde und Freundinnen, nun auf gar keinen Fall heißen, ich würde jener herrlichen Zeit zwischen dem siebenten und dem achten Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED also, mit der unsere gemeinsamen vier Jahre Goetheschule fast deckungsgleich zusammenfielen, rückblickend verklären. Als wären sie nicht so gewesen, wie sie waren. Sie waren so.

Sie begannen mit einem illusionären Rausch, den der siebente Parteitag noch mit einem Tischler an der Spitze auf den wunderschönen Namen „sozialistische Menschengemeinschaft“ getauft hatte und sie endeten mit dem richtungweisenden Satz „Ein Schiff ist ein Schiff und kein schwimmendes System“ unter der Regie eines Dachdeckers. Bis zu der Erkenntnis, dass ein Schiff ein Schiff sein kann und außerdem ein schwimmendes System, hat es das System, das sich 18 Jahre nach unserem Abitur von uns verabschiedete, nicht wirklich gebracht. Auch sagte das System beim Abschied nicht leise „Servus“, sondern es implodierte einfach und weg war es.

Ich kehre zu uns zurück. Und ich rede, als wäre ich, nur weil ich inzwischen zwei Bücher veröffentlicht habe, wirklich der Schriftsteller geworden, der ich, zugegeben, gern geworden wäre. Ich rede von mir. Mich kenne ich einigermaßen. Und kann mir auch schlecht zu nahe treten. Ich erinnere Euch alle an etwas, was Ihr vollkommen zu recht sicher vollkommen vergessen habt und deshalb auch gar nicht wissen könnt: Die allererste Rede meines Lebens habe ich an dieser Goetheschule gehalten. Es war eine Rede aus Anlass des zwanzigsten Geburtstages der Deutschen Demokratischen Republik, also 1969. Damals konnte man, wenn man ein leuchtendes Vorbild war, also wenn man wenigstens ein bisschen leuchtete, als Mädchen in einem möhrenfarbenen Anorak, als Junge in einem blauen, an den Feierlichkeiten zu Berlin teilnehmen. Das Material war in etwa so wie das, aus dem die beliebten und offiziell so unerwünschten „NATO-Planen“ gearbeitet waren.

An den Ärmeln waren Embleme aufgenäht, die eine symbolische Sonne zeigten mit symbolischen Strahlen und von denen, die nur ein bisschen leuchteten, nach der Teilnahme in Berlin abgetrennt und von denen, die richtig sehr geleuchtet hatten, am Ärmel belassen wurden. Meine Rededisposition von damals habe ich heute noch, mit Schreibmaschine selbst geschrieben auf viel zu dickem, dafür aber ungemein weißem, also sehr holzfreien Papier, und mit grünem Filzstift dort markiert, wo ich etwas betonen oder wo ich eine rednerische Kunstpause machen wollte.

Der grüne Filzstift war damals so sehr mein Markenzeichen, dass er, Ihr erinnert euch vielleicht, bei einer Abiturfeier in den Neunzigern selbst Gegenstand einer Rede wurde. Ich hätte den Redner heute hier gern eigens begrüßt, aber es hat nicht sollen sein, wie man so sagt. In meiner damaligen Rede zitierte ich mehrfach einen Autor, der mir bis heute lieb geblieben ist, Arnold Zweig. Ich benutzte ihn, längst kann ich es sagen, unter anderem auch deshalb, um nicht andere Zitate benutzen zu müssen, denn ohne Zitate ging es nicht, wir erinnern uns.

Ich benutzte Arnold Zweig aber auch an anderer Stelle und hier muss ich mich jetzt sehr diplomatisch ausdrücken. Einer Dame aus meiner Klasse, der ich zwei Bände Arnold Zweig geliehen hatte aus der sechzehnbändigen Werkausgabe, entzog ich diese abrupt und mit, wie ich damals glaubte, hinreichend verächtlichem Gesicht, weil sie ihre Gunst statt mir einem anderen männlichen Mitschüler jener 11 c zugewandt hatte. Arnold Zweig war da gerade ein Jahr lang tot, es hätte ihn vielleicht belustigt zu hören, wozu er da herhalten musste hinter den Bergen bei den sieben bis neun Zwergen. Heute aber, da bin ich sicher, würde er sich freuen. Denn ich benutze ihn wieder, diesmal aber nicht, um ihn eine Waffe im Friedenskampf sein zu lassen, sondern weil er die schönste Abiturientengeschichte geschrieben hat, die ich kenne.

Diese Geschichte, die Zweig eine Novelle nannte, heißt „Benarone“ und erschien zuerst 1909. Sie erzählt von einem jungen Mann vor dem Abitur, der heißt Georg Bastmayr, und einem anderen jungen Mann, der heißt Karl Benarone. Letzterer ist bereits Student und hat schon einen Aufsatz veröffentlicht, den man Esay nannte mit dem schönen Titel „Stil und Stile“. Benarone war alles, was man sich als junger Mann wohl wünscht zu sein, ich jedenfalls habe mich, als ich die Novelle zuerst las, über alle Maßen mit ihm identifiziert. Weil ich gern gewesen wäre, nicht, weil ich war.
Denn Karl Benarone war ein Mädchenschwarm, ein Hochbegabter, ein Lässiger, heute würde man „ein Cooler“ sagen, er war ob seiner leichtsinnigen Genialität beliebt bei Lehrern und Direktor und er war auch ein Spieler, der sich über seine Lehrer lustig machte, ohne dass die es merkten.

Und dieser Karl Benarone verfasst einen Aufsatz über Automobile. Den Georg Bastmayr auswendig lernt, nachdem er ihn mit eigenen Worten neu aufgeschrieben hat. Georg hat panische Angst vor dem Abituraufsatz und eine Freundin Lisbeth, die ihn in der Absicht bestärkt, es mit einem gut eingefädelten Betrug doch zu packen. Das ist eine wunderbare Geschichte mit wunderbar altmodischen langen Sätzen am Anfang, mit einer Pointe, die ich hier nicht ganz verraten will. Eins aber will ich schon verraten, was mir erst viel später auffallen konnte. Und zwar, als ich in meinem eigenen Leben ein gutes Stück weiter gekommen war als bei der Erstlektüre, da ich gerade begonnen hatte, Gedichte zu schreiben, die ich anfangs sogar Frau Klingelhöfer zeigte, wenn ich mich richtig erinnere.

Der Schuldirektor, voller Sympathie, sagt zu seinem Gast Karl Benarone: Zitat:  „Sie sind eine Begabung aus dem Stegreif, Lieber; aber was Sie unbedingt brauchen, ist Zucht des Geistes und strenge Schule – sonst fallen Sie der Zeitung anheim und sind verloren ... Und hören Sie eifrig Philosophie, sie wird Ihnen viel geben; ...“ Ich muss an dieser Stelle ausnahmsweise widersprechen, weil ich selbst trotz Zucht und strenger Schule der Zeitung anheim fiel, Philosophie nicht nur hörte, sondern fünf Jahre lang, siehe oben, studierte. Ganz verloren bin ich nicht, denn andernfalls wäre das Organisationskomitee nicht auf die verrückte Idee verfallen, gerade mich heute hier reden zu lassen.

Und so will ich mit Arnold Zweig an jenes Jahr 1971 erinnern, das uns heute hier zusammenführt:
Zitat:  „Mit einem einzigen Wort kann gesagt werden, was süß und wild in ihrem Herzen quoll, ihr Blut peitschte, ihre Füße zum Laufen und ihre Arme zum Umarmen verführen wollte und ihnen das Dasein eines Geliebten, das kurze heftige Lodern eines Sonnenknaben schenkte: „Freiheit“ hieß das Wort, „Freiheit“. Und darum ließ ein jeder sie laufen und sah ihnen erquickt und lächelnd nach...“
War es nicht ein wenig so, genau so, als wir damals dieses Abitur hatten, als wir hinaus liefen in die Welt, die dann freilich doch nur die etwas kleinere DDR war?

Die Damen unter uns sollten sich übrigens nicht ausgeklammert wähnen, anno 1909 waren Jungen und Mädchen noch getrennt beim Abiturmachen, sonst wäre eben in den Zitaten auch von ihnen die Rede gewesen, nicht nur von den Knaben. Einen Lehrer gibt es übrigens in der Novelle und damit verlasse ich Arnold Zweig endgültig, einen Lehrer, der bei der großen alkoholischen Feier den frisch gebackenen Abiturienten dies sagt: „... und was bleibt und wächst, ist der feiste, träge und verlogene Bürger, der Parteimann und Bierfreund, den Ihr komisch und verächtlich fandet ... Ihr werdet Beamte mit sichern Gehältern, Pensionen und sichern Meinungen, und wenn heute jeder von Euch aus eigenen Augen sehnend in die Ferne sieht – bald blinzelt Ihr alle gleichartig ins Nahe, aufs Geld und auf die Laune der Vorgesetzten.“

Das lasse ich mal so im Raum schweben in der fröhlichen Hoffnung, dass es uns allen nicht so ergangen ist und wenn es uns allen so ergangen ist, dann wollen wir darüber nicht melancholisch werden. Und es den Gang der Dinge nennen.

Ich habe also, liebe Christine, letztlich doch nur von unserem Alter gesprochen. Ich wünsche uns allen, dass wir noch sehr lange von unserem Alter sprechen können, auch weil einige von uns das leider schon nicht mehr können. Möge jeder von uns heute seinen Nachbarn, seine Nachbarin, nicht mit Haus, Auto und Pferd auf dem Farbfoto erfreuen. Dann schon eher mit den Enkeln. Wobei gegen Haus, Auto und Pferd nichts einzuwenden ist. Ich danke euch und Ihnen allen, dass Sie tapfer ausgehalten haben, bis ich fertig geworden bin. Das ist genau jetzt.
Rede um Treffen des Abiturjahrgangs 1971 der Goetheschule Ilmenau,
gehalten am 30. September 2006 im Musiksaal der Goetheschule


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