Gustav Meyrink: Tiergeschichten
Prag ist, das lässt sich kaum leugnen, kein Tier. Wenn dennoch im „Prag“ betitelten Text von Gustav Meyrink Tiere vorkommen, rechtfertigt das nicht zwingend eine Aufnahme in eine Sammlung mit dem mählich aufregenden Titel „Tiergeschichten“. Ziemlich folgerichtig ist es also, dass der Verlag Langen Müller „Prag“ nicht aufnahm. Der wunderbare Passus fehlt demnach natürlich, der da lautet: „Wer von uns hätte noch nicht Gelegenheit gehabt, zu belauschen, wie sich die Geier – wenn alles still ist – leise, leise in die Eisenhandlungen schleichen – husch, die schwersten Hanteln ergreifen und sich in die Lüfte schwingen, heimwärts, dem unwirtlichen Felsenhorst zu, um zu Hause ihrem Weibchen das Hantelstemmen beizubringen.“ Es gibt auch assyrische Flügelstiere in einem Prager Kaffeehaus, die sich als harmlos erweisen, wenn sie aufstehen, weil sie krumme Hosen tragen und plattfüßig sind. „Angeblich zerfällt Prag in mehrere Teile – das ist aber nur so ein leeres Versprechen.“ Halten wir einfach fest, Gustav Meyrink entfaltet ein gewisses unüberlesbares Interesse für Geier.
Womit nahtlos der Übergang zu „Amadeus Knödlseder Der unverbesserliche Lämmergeier“ gelungen ist, mit dem die „Tiergeschichten“ enden. Man könnte die Groteske den abschließenden Höhepunkt nennen, aber welcher abschließende Höhepunkt ist schon einer, nur weil man nach ihm herkömmlicherweise das ihn enthaltende Buch schließt und zu einem neuen greift, falls man denn tatsächlich ein Leser von hinreichender Ausdauer ist und nicht nur so tut. Lämmergeier mit bajuwarischen Namen haben einen eigenen Reiz, beim hier fraglichen kommt hinzu, dass von ihm eine Geschichte zu erzählen ist, die vom tückischen Erzähler Meyrink in Bezug gesetzt wird zum sehr, sehr berühmten Juwelier Cardillac aus dem sehr, sehr berühmten Roman des Fräulein von Scudery. Also Madaleine de Scudery, die am 15. Oktober 1607 geboren wurde und erst am 2. Juni 1701 starb, so alt wurden damals selten Menschen, und Frauen wegen des ewigen Gebärens ohnehin nicht, war, wie aus wohl unterrichteten Nachschlagewerkskreisen berichtet wird, die erste französische Schriftstellerin, die auch außerhalb Frankreichs viel gelesen wurde.
Es verwundert also höchstens in winzigem Maße, dass der der Lektüre wie dem Alkohol sehr zugetane E. T. A. Hoffmann später einmal eine Novelle zu Papier brachte für seine Sammlung „Die Serapionsbrüder“, die „Das Fräulein von Scudery“ betitelt wurde, als erste deutsche Kriminalnovelle gilt, folglich auch verfilmt wurde und zwar zwischen 1919 und 1976 gleich sechsmal, eine der Verfilmungen in der Regie von Edgar Reitz heißt praktischerweise gleich „Cardillac“ und genau der ist es, auf den Meyrink seine Lämmergeier-Gruselgeschichte bezieht. Cardillac war der Juwelier, der die Käufer seiner Schmuckstücke tötete und da ist tatsächlich eine Parallele zu Amadeus Knödlseder einfach nicht mehr abzustreiten. Edgar Reitz übrigens, wenn er schon erwähnt wird, ist der Hunsrück-Reitz mit der „Heimat“-Serie. Der Lämmergeier aber, der aus einer Voliere flieht, erleichtert unterwegs die alte Händlerin Mutschelknaus um einen ansehnlichen Bestand von Krawatten, mit denen er in die Freiheit segelt und, nachdem er andere Optionen für sich verworfen hat, in einer Murmeltierstadt einen Krawattenhandel eröffnet.
Man muss kein ausgebildeter Zoologe sein, um sich ein eher gespanntes Verhältnis zwischen Murmeltieren und Lämmergeiern vorstellen zu können, Amadeus Knödlseder aber schafft es, das Vertrauen der Murmeltiere zu gewinnen, indem er ihnen unabweislich vor Augen führt, dass er einen altem Hamster, der seinerseits als Getreidehändler in der Murmeltierstadt wohnt, höchst zuvorkommend behandelt. Hätte Gustav Meyrink freilich gewollt, dass seine Leser der vermeintlichen Idylle blindlings folgen, dann hätte er sich die zweite Hälfte seines Titels ganz sicher verkniffen und die lautet eben „Der unverbesserliche Lämmergeier“. Es kommt, was eine Weile nicht auffällt, dann eine Weile als unerklärlich gilt, zu einem gewissen Schwund unter den Krawatten kaufenden Murmeltieren, insbesondere solche, die vom Lämmergeier in die hinteren Kontorräume seines Ladens geführt werden, sind anschließend irreversibel verschwunden. Als der Geier übrigens den Hamster befragt, ob er eventuell mosaischen Glaubens sei, weil aus Prag kommend, meint der Hamster vorübergehend, einen Russen vor sich zu haben. Abgründe tun sich da auf, Abgründe. Sage noch einer, antirussische Sentiments würden keine schöne lange Tradition haben und erst im heutigen Karlsbad frische Nahrung finden.
Bleiben dreizehn andere Geschichten in dem Band, der zu einer Reihe gehört, die keinen Namen hat und von der ich mangels anderer Exemplare nicht weiß, ob man sie tatsächlich auf den ersten Blick als Reihe identifizieren konnte. Es liegt nahe, nach dem Blick auf das Ende mit dem auf den Anfang fortzusetzen. Den Anfang bildet „Das Wildschwein Veronika“. Das Wildschwein Veronika lebt als gezähmtes auf einem Misthaufen, hört und sieht wie ein Mensch und denkt sich sein Teil. Es glaubt die Geschichte von der Stiefschwester Alma, die eine Bühnenkarriere begonnen haben soll, nimmt aber dennoch als bedrohlich wahr, dass Jahr für Jahr ein Mitglied der Familie am Ohr hinweggeführt und nie wieder gesehen wird. So rüstet sich Veronika sicherheitshalber mit Trachtenkleidung aus und wandert ab in Richtung Stadt. Dort sieht das Schwein eine volkstümliche Aufführung von WILHELM TELL, springt auf die Bühne und erlebt fortan einen Höhenflug. Wie in dem berühmten Witz mit dem Schwein auf dem Rücksitz, ist auch hier die Vermutung im Text, es handle sich in Wahrheit um eine Sau, was ja auch stimmt. Dennoch heiratet die Sau genau den Misstrauischen unter den Kandidaten, hat zwölf Kinder mit ihm und alles ist der pure Spaß.
„Geßler blieb unerschossen zum großen Ärger der anwesenden Schweizer“, merkt der Erzähler an und es gibt kleine zeitgenössische Anspielungen auf Oscar Wilde und Maurice Maeterlinck, die man ein wenig erklären müsste, aber man kann es auch einfach so im Raum stehen lassen, der Raum ist halbwegs geduldig, was man seiner koordinierten Kollegin Zeit nicht in gleichem Maße nachsagen könnte. Veronika bekommt den Andreas-Hofer-Gürtel verliehen und singt „Zu Mantua in Banden“. Mehr Irrwitz geht kaum und doch folgt umgehend „Blamol“. Ein Tintenfisch saugt Druckerschwärze aus einem untergegangenen Buch, eine Seerose bekommt nach Einnahme einer Blamol-Pille Seitenstranglähmung und so weiter und so fort, herrlich, herrlich. Gustav Meyrink beherrscht nicht nur die Lüfte der Geier, sondern auch Unterwasserwelten wie diese. Von der grünen Seerose heißt es: „Und mit ihren vielen hundert Greifern führte sie ein entzückendes Gewimmel auf, daß man kein Auge von ihr abwenden konnte.“ Unter Wasser heißt eine Strohwitwe Tangwitwe und die Schweißperlen auf der Stirn sind Luftperlen. Eigentlich logisch.
Die nächste Geschichte in der Reihenfolge wird noch nicht übersprungen, denn sie trägt den Titel „Tschitrakarna, das vornehme Kamel“ und wird dem älteren Bürger des Leselandes DDR sofort bekannt vorkommen, denn just so hieß eine Meyrink-Sammlung des Leipziger Reclam-Verlages aus dem Jahr 1978, die auch andere als Tiergeschichten enthielt und als Ergänzung der früheren Sammlung „Der deutschen Spießers Wunderhorn“ gelten konnte, die 1969 im Verlag Volk und Welt erschien und selbstverständlich auch nicht den gesamten Bestand nachdruckte, den Meyrink unter eben diesem Titel hinterlassen hat. Das DDR-Auswahl-Prinzip hatte den großen Vorteil für Herausgeber, immer neue Mischungen zu ermöglichen, Unangenehmes elegant auszusparen und dann später, wenn sich der Wind gedreht hatte, was er kulturpolitisch ja bisweilen rasanter tat als der tatsächliche Wind, der nur Meteorologen vor Rätsel stellt und nicht Literaturfreunde, doch noch auf zwischenzeitlich gereifte Leser loszulassen. Vier Fleischfresser, Löwe, Panther, Fuchs und Rabe spielen Karten und erörtern die Frage, was denn eigentlich Bushido sei, eine Frage, die sich heute ganz anders stellt.
Die Meyrink-Antwort lautet im Text: „Man grinst freundlich, wenn einem etwas Unangenehmes passiert. Zum Beispiel, wenn man mit einem österreichischen Offizier an einem Tisch sitzen muß, grinst man.“ Man darf aus solchen Sätzen heute die Folgerung ziehen, wie herrlich sich doch die Zeiten geändert haben, oder fiele irgendjemandem ein, ausgerechnet einen österreichischen Offizier zu assoziieren beim Stichwort unangenehm? Im eingangs erwähnten Blick auf „Prag“ gab es einen 45 Kilogramm schweren Hauptmann, dem besonderer Mut nachgesagt wurde, ergänzend besondere Gefährlichkeit im Duell, von dem er freilich noch keines geführt hatte. Das Kamel mit dem seltsamen Namen jedenfalls besitzt diese Grinsefähigkeit in exemplarischem Maße. Es freundet sich mit den vier Fleischfressern an, bringt Kultur in deren Welt, zwingt den Raben etwa zu neuer Kleiderordnung und alles läuft bestens, bis es zwar für Kamele noch immer genug vegetarisches Futter, für Fleischfresser aber nicht mehr genug Fleisch gibt. Der finale Satz der Geschichte: „Tja, Bushido ist eben nicht für Kamele.“ Ob es den anderen schließlich schmeckte, verrät Meyrink nicht mehr.
Im Bändchen finden sich außerdem noch „Dr. Lederer“, „Das ganze Sein ist flammend Leid“, „Wozu dient eigentlich weißer Hundedreck?“, „Schöpsoglobin“, „Das Fieber“, „Die Geschichte vom Löwen Alois“, „Der Fluch der Kröte – Fluch der Kröte“, „Dr. Haselmayers weißer Kakadu“, „Der Jazzvogel“ und „Das Grillenspiel“. Es wäre übertrieben zu sagen, eine der Geschichten sei schöner als die andere, dann schon eher, eine sei anders als die schönere, aber auf den Löwen, auf den komme ich abschließend dennoch, ehe ich den Rest seinem Schicksal des Nur-Erwähntworden-Seins überlasse. Denn der Löwe Alois ist ein Waisenkind, das von Schafen aufgezogen wird und sich selbst als Schaf sieht, sogar Gras frisst und bäh sagt. Als Alois den Wunsch entwickelt, später Theaterdirektor zu werden, sagt seine Ziehmutter liebevoll: „Er weiß ja nicht, der gute Junge, ... daß so etwas nur ein wirkliches Schaf werden kann“, was zu Gustav Meyrinks Zeiten noch keineswegs heutige Intendanten-Schicksale zwischen Bad Hersfeld und Wien meinte. Es gibt einen Prediger, der dazu auffordert, das Löwentum in uns allen niederzuwerfen. Alois heiratet Herrn Schnuckes Tochter Scholastika und verspricht das Denken vollkommen aufzugeben, um sich der Leitung des Herrn Pastor ganz zu überlassen. Wenn das kein schöner Schluss ist, auch hier. Dem folgt nur noch der Hinweis auf meinen Text „Hermann Hesse liest Gustav Meyrink“, am 4. Dezember 2012 in der Rubrik JAHRESTAGE erschienen und dort nachlesbar.