Carola Stern: "Ich möchte mir Flügel wünschen"
Mein mutwillig beschädigtes preisreduziertes Mängelexemplar entstammt der vierzehnten Auflage Juni 2012, das Rowohlt-Impressum verrät nicht, wie hoch die einzelnen Auflagen waren, doch dürfte es keinem Zweifel unterliegen, dass eine Biographie, die so viele Auflagen erlebt, eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte ist. Da sie zuerst 1990 erschien, zwei Jahre nach einer anderen Biographie mit gleichem Gegenstand, nämlich Dorothea Schlegel, darf vermutet werden, dass der 1989 anstehende 150. Todestag der einst berühmten Friedrich-Schlegel-Gattin zwei Autorinnen und zwei Verlage antrieb, eine Verkaufschance nicht verstreichen zu lassen. Die 1988 erschienene Biographie von Heike Frank ist vergessener als vergessen, Carola Stern (1925 – 2001) hat ihr ganz zweifellos um Längen den Rang abgelaufen. Tatsächlich ist das Buch, als Taschenbuch immerhin mehr als 300 Seiten umfassend, auch über seinen Gegenstand hinaus interessant. Seit Carola Sterns Autobiographie „Doppelleben“ nämlich haben Passagen überraschend Inhalt gewonnen, über den man ohne Kenntnis jenes Doppellebens ohne Anführungsstriche wohl einfach hinwegliest.
Dort, um gleich zur Sache zu kommen, wo Carola Stern, deren wirklicher Name Erika Assmus war, von geheimdienstlichen Aktivitäten des Metternich-Regimes gegen Friedrich Schlegel in Wien berichtet, tut sie es in einer Weise, die alles Mögliche, nur keine Distanzierung von solcher Aktivität zeigt. Das fiele gar nicht auf, wüsste man nicht, dass sie selbst in jungen Jahren eine Geheimdienstlerin war, eine Spionin, Agentin, wie man es gern hätte. Was sie für einen amerikanischen Geheimdienst tat, während sie noch an der SED-Parteischule in Kleinmachnow lehrte, aus welchen Motiven auch immer, war in Rechts- wie Unrechtsstaaten ein klarer Straftatbestand. Wäre sie, wie sie laut „Doppelleben“ befürchtete, nach ihrer Flucht nach West-Berlin in die DDR entführt worden, was ja in anderen Fällen durchaus vorkam, hätte sie, Susanne Beyer hat es im SPIEGEL seinerzeit genüsslich an die Wand gemalt, sogar mit der Todesstrafe rechnen müssen, je nachdem, welche Schwere ihrem Verrat beigemessen worden wäre oder wie wichtig die Oberen einen zelebrierten Präzedenzfall befunden hätten. In dem Land, für das sie spionierte, landete man wie Ethel und Julius Rosenberg im Vergleichsfall auf dem elektrischen Stuhl, was der sonst assoziationsvollen SPIEGEL-Autorin natürlich nicht in den Sinn kam.
Was will man freilich, die kleine Galligkeit fortführend, von einer Buchbesprechung verlangen, die sich bezüglich des Ehemannes von Carola Stern, Heinz Zöger, mit der arg armseligen Aussage zufrieden gibt, er sei ebenfalls ein aus der DDR geflohener Ex-Kommunist gewesen. Das war er wohl, nachdem er als vormaliger Chefredakteur der Wochenzeitung SONNTAG zum Mitverschworenen von Wolfgang Harich und Co. gemacht worden war und eine längere Haftstrafe abgebüßt hatte. Immerhin sah Susanne Beyer am 5. März 2001 im SPIEGEL einen ihr sehr wichtigen Zusammenhang im Leben Carola Sterns: „Das Paradoxe wurde für sie logisch: Sie war durchaus überzeugte Kommunistin, zugleich agierte sie als willfährige Verräterin.“ So waren sie halt, diese Kommunisten, wenn das Hamburger Nachrichten-Magazin sich ihnen zu widmen hatte. Und so lässt sich, wie bei Carola Stern selbst, auch bei ihrer Kritikerin das „pro domo“ spielend leicht erkennen. Gleich zweimal kommt Beyer auf ihr besonders Auffälliges in der Autobiographie zurück: „... es war ihr wichtig, wichtig zu sein, das gesteht Stern immer und immer wieder.“ „Sich wichtig machen, die Sucht, beachtet zu werden, all das sei sie nie losgeworden.“ Und als Tüpfelchen auf ihre Deutung das Fazit: „Das ist die ungeheuer sympathische Erkenntnis dieses Buchs: Carola Stern konnte den eigenen Schwächen nicht entkommen...“.
Was, um alles in der Welt, ist sympathisch daran, den eigenen Schwächen nicht zu entkommen? Wer seinen SPIEGEL freilich immer aufmerksam liest, wer den von dessen Weltsicht dauerinspirierten Restjournalismus in Deutschland mehr als nur oberflächlich zur Kenntnis nimmt, der weiß, dass Menschen, die sich auf diese besondere Weise wichtig nehmen, wie es Top-Journalisten offenbar fast automatisch tun, auch bei anderen immer zuerst auf deren Wichtigkeit schauen, jede Bewegung dieser Wichtigkeit registrieren, gewissermaßen ständig innerlich an Wichtigkeitskurven arbeiten und im Falle des Sinkens mit unnachahmlicher Häme beschreiben und ausmalen. Die gesamte Politik-Darstellung dieses Medientyps beruht darauf, aus politischen Wichtigkeitsdynamiken Kaffeesatz-Lesung zu betreiben, auf hohem, oder genauer, oft hohem SPIEGEL-Niveaus durchaus genussreich zu lesen, bei den Nachahmern hinter den Bergen bei den sieben schreibenden Politik-Zwergen wirkt es fast durchgängig nur peinlich, peinlicher, am peinlichsten. Zurück zu Carola Stern, die als ehemalige „Super-Linke“, als erste Frau, die im WDR Kommentare sprechen durfte, den Übergang zur Schriftstellerin bewerkstelligte und zwar mit Erfolg. Man spürt auf jeder Seite ihrer Dorothea-Schlegel-Biographie den journalistischen Zugriff, der eben kein literarhistorischer ist. Das bekommt Büchern, wie ich nicht müde werde, an Peter Michalziks Kleist-Biographie zu belegen, man könnte es, bei Kleist zu bleiben, auf Jens Bisky erweitern und sicher diverse andere Fälle.
Der Journalist unterliegt nicht dem Berufsrisiko des in diesem Falle Germanisten, ständig nach Parallelstellen, Vorgängern, Nachfolgern, Ideengeschichte zu schnüffeln, gar überragende Belesenheit kombiniert mit Irrsinnsgedächtnis (respektive Zettelkasten) zu demonstrieren. Die winzige Zielgruppe des Vollblutgermanisten sind die anderen Lehrstuhlinhaber dieser Welt, der Rest wäre Kollateralschaden. Der Lebensgeschichten erzählen wollende Journalist dagegen ist nicht nur trainiert, „auf den Punkt“ zu schreiben, ihm ist auch die verkaufte Auflage herzensnäher als der etwaige Beifall eines südneuseeländischen Frühromantik-Forschers, der den Vollblutgermanisten meist schon nahe an den begeisterten Herzinfarkt treibt. Carola Stern nähert sich Brendel Mendelssohn, der Tochter des großen jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn, vertraulich. Der Jungjournalist lernt im Volontariat sehr früh, dies „anfeaturen“ zu nennen, selbst DDR-Ernte-Reporter konnten das hervorragend, wenn sie in raunendem Ton vor der Fernsehkamera flüsterten: „Es ist vier Uhr zwanzig. Staub liegt über dem Sommergerstefeld der LPG Pflanzenproduktion Schnipfelgüng, während die Mähdrescher in breiter Front der vorzeitigen Erfüllung des Getreide-Ernteplanes entgegen rollen.“
Der deutsche Biographien-Buchmarkt ist offenbar seit vielen Jahren unverändert unersättlich, wer seine diesbezüglichen Kompetenzen einmal unter Beweis gestellt hat, kann, wenn er/sie kann, durchaus mit der Serienproduktion beginnen. Auch Carola Stern ist der Versuchung nicht entgangen, sie durchforstete die Leben von Frauen der Romantik, um sich dann der Welt der Schauspielerei zuzuwenden. Seitenblicke seien aus Platzgründen dennoch hier ausgeblendet. Zunächst fällt auf, dass Stern von ihrem Gegenstand gefesselt ist, sie referiert seitenlang Theorien Friedrich Schlegels, Theorien und Maximen, nimmt den Un-Roman „Lucinde“ verblüffend distanzlos als pures Lebenszeugnis und verliert bei allem immer wieder ihre eigentliche Heldin fast völlig aus den Augen. Das hat die ganz einfache Ursache mangelnder Zeugnis-Überlieferung, weiße Flecken müssen mit Phantasie ausgefüllt werden, Wissenschaftler sind hier meist pikiert zurückhaltend, literarisch ehrgeizige Journalisten und ihre Kolleginnen haben deutlich weniger Hemmungen und sind gar nicht so selten für plausible Thesen gut, die sich zwar nicht beweisen lassen, aber ein Lebensrecht haben, solange sie dem Gebot der widerspruchsarmen oder gar -freien Einordnung in gesicherte Faktenbestände folgen.
Mit der genannten Auffälligkeit verbunden ist eine zweite: Carola Stern schweift gern und ausführlich ab, wenn sie das Gefühl hat, der eigentliche Erzählstoff sei zu dünn für die geplante Buchstärke. Sie verfährt filmerfahren, wenn sie urplötzlich Fragen stellt, die auf den weiteren Gang der zu erzählenden Lebensgeschichte vorverweisen, so arbeiten nicht selten Dokumentarfilme. Will man auf das Gesamt-Ergebnis einen Blick werfen, als wäre man zur Analyse einer Soße gerufen, dann könnte ein Fazit lauten, das Vorschmecken eines der verwendeten Gewürze fällt unangenehm auf, obwohl genau diese Würze im Fall ihres Fehlens kaum weniger auffallen würde, gemeint ist die beigemengte Prise Feminismus. Das Leben, Tun und Lassen von Brendel Mendelssohn, die Simon Veit heiraten musste, weil Vater Moses den für sie ausgesucht hatte, bis sie voller Mut ins Ungewisse startend alles aufgab, um ein wahrlich beschwertes Leben als Dorothea an der Seite des menschlichen Sonderfalls Friedrich Schlegel zu führen, dieses Leben ist als nachahmenswertes Exempel weit weniger geeignet, als der Einstieg ins Buch zunächst suggeriert. Entsprechend haben formulierte Folgerungen und Weiterungen ins modern Frauenrechtliche sicher tiefe Berechtigung, nur wollen sie nicht immer treffen. Dann plötzlich so ein Satz: „Wüßten unsere Freude, wie wir, die Lippen dicht am Hörer, über ihre Eigenschaften wispern, kennten sie die Lauben unserer Liebe, das abwertende Gerede – sie wären über den Verrat entsetzt.“
Wie tief ist diese Aussage aus Eigenem geschöpft, obwohl sie doch nur der widerlichen Jenaer Zerfallsphase des Frühromantiker-Bündnisses gilt, die in zugespitzter Form jener des einstigen Berliner Tugendbundes glich, wo die Verbindung von Wilhelm von Humboldt mit Caroline von Dacheröden, einer der Tugendbunddamen, wirkte, wie in Jena die plötzlichen Stutenbissigkeiten zweier Schwägerinnen, die alles an guter Kinderstube vergaßen, was emanzipatorische Anknüpfungsideen rechtfertigen sollte. Hier ging es zu wie heute im öffentlich-privaten Nachmittagsfernsehen, wo sich simuliert Bildungsferne in „scripted reality“ gegenseitig gar nicht nur verbal an die Gurgeln fahren. Herablassend klingt, wie sich Carola Stern über Helmina Chezy auslässt, befremdlich klingt, wie sie in immer neuen Ansätzen gegen Rousseau zu Felde zieht, als wäre nichts selbstverständlicher, als dass dessen Erziehungsroman „Emile“ direkt für alles verantwortlich zu machen ist, was im Verhältnis von auch aufgeklärten Männern und Frauen der Zeit nicht wunschbildgemäß verläuft. Das wäre denn doch zu viel Ehre selbst für den erfolgreichsten Erziehungsroman der Literaturgeschichte Zentraleuropas.
Es gibt Stellen in dieser Biographie, die legen die Vermutung nahe, dass die endgültige Niederschrift schon begann, als der Überblick über den Stoff noch gar nicht vollständig gewonnen war. Beispiel: „Ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Gesellschaft war viel geringer, als es lange Zeit den Anschein hatte und sie selbst so oft vorgab.“ Natürlich kann man eine Biographie schreiben, indem man gewissermaßen neben dem erzählten Leben synchron erzählend einherläuft, also noch nicht weiß, was als nächstes passieren wird, nur ist das eben bei vergangenen Lebensläufen ein künstlicher Standpunkt, der Souveränität leichtfertig vergibt, obwohl doch die Souveränität gegenüber dem Stoff nichts substantiell anderes ist als die Distanz der Journalisten, die ihr/ihm als selbstverständliche Tugend gilt. Im speziellen Fall der Gleichgültigkeit gegen die Gesellschaft, die auf Seite 223 entdeckt wird, ist der euphorische Umgang mit dem Mut und der Selbständigkeit der jungen Brendel am Anfang unabsichtlich oder unfreiwillig konterkariert. Köln-Sichten auf zwei runden Seiten versöhnen, obwohl sie zweifellos weit eher Stern-Sichten als Schlegel-Sichten sind. Der Übertritt zum Katholizismus, romantikertypisch, hat noch fast jeden Betrachter in Verlegenheiten versetzt, Carola Stern meidet transzendental orientierte Erklärungen.
Doch auch die lapidare Feststellung auf Seite 235 überrascht: „So wie sie zuweilen ihr Glück und Unglück übertrieb, übertrieb Dorothea lebenslang die Frömmigkeit.“ Weiß die Autorin das erst jetzt oder wusste sie es schon, als sie den ersten Satz des Buches zu Papier brachte: „Mehrere Jahre habe ich mit Brendel Mendelssohn verbracht...“. Warum hat sie dann ihr Wissen bis ins letzte Drittel der Biographie geheim gehalten? Immerhin verifiziert sie nun einen anderen Einleitungssatz: „Dorothea Schlegel löst abwechselnd Bewunderung, Wut und Mitleid aus; nur Gleichgültigkeit läßt sie nicht zu.“ Die Ironie freilich, mit der sich Carola Stern über die späte Soldatenmutter Dorothea lustig macht, wird von ihren Abwechslungsbegriffen nicht abgedeckt. Oder sollte man allen Ernstes Mitleid haben mit einer Mutter, die sich Sorgen macht um ihren Sohn, gar Wut, denn eine bewundernde Ironie gibt es doch wohl nicht einmal im Gefolge der romantischen Ironie? Was es im Buch gibt, es sei ausdrücklich und nachdrücklich gelobt, ist ein Apparat hinten, der knapp, aber sehr informativ gehalten ist, das Personenverzeichnis erlaubt Zielsuche und führt zu schönen Fundstellen, ich nenne nur ein für mich besonders schönes Ziel: Karl Philipp Moritz.
Kritische Diskussion vorliegender Dorothea-Literatur war Carola Schlegels Anliegen nicht, das ist im Ganzen wohltuend, im Detail darf man es sicher missen. Mehrfach und offenbar kommentarlos wohlwollend zitiert sie Ricarda Huch, deren runder Geburtstag (150) ebenfalls in diesem Jahr zu feiern war. Ich folge ihrem Beispiel abschließend mehr als gern: „Auch Dorothea ergänzte Schlegel: sie war immer tätig, geschickt zu aller Arbeit, ebenso behende zum Schreiben und Schaffen wie er schwerfällig. Freilich gab es in ihr auch nicht entfernt so viel Gehalt zu verarbeiten. Sie galt für klug und bedeutend; auch dürfte man nicht das Gegenteil von ihr behaupten; aber weder logisch noch tief zu denken war ihre Sache. Daß sie lebhaft, leicht und viel sprach, eine rasche Fassungsgabe besaß, auch gescheit genug war, nichts Dummes zu sagen, Nichtwissen einzugestehen und, wo es angebracht war, zu schweigen, ließ sie geistvoller erscheinen als sie war.“ Ricarda Huch braucht kaum mehr als zwei Seiten, um das Porträt einer Frau zu entwerfen, die, wie sie meint, mit einer Art von Affenliebe zu Friedrich womöglich großen Schaden anrichtete: „Denn mit ihrer blinden Unterwürfigkeit konnte sie nichts als seiner Trägheit Vorschub leisten.“ Man muss Ricarda Huch mögen und deshalb auch jeden Anlass, der wieder einmal zu ihr führt wie eben Carola Sterns Buch.