Max Halbe: Frau Meseck
Die Anziehungskraft, die ein kleines altes und doch gut erhaltenes Buch ausübt auf einen Studenten, der noch jedes frische Stipendium zuerst in einer fast rituellen Antiquariatsrunde durch Berlin dem Kreislauf des Geldes zurückzugeben geneigt ist, ist leichter erklärt als die Anziehungskraft von Autoren, die vergessen wurden. Es reizt natürlich, man ist weder Holzfäller noch Lagerist im Getränkehandel, die Exklusivität des eigenen Umgangs: worüber alle reden, muss man nicht auch noch unter die Lupe nehmen. Es reizt zudem ein gewisses Risiko, denn das Vergessenwordensein kann ja sehr gut auch einen hochverdienten Status darstellen. Die nicht auszuschließende Enttäuschung dann ist immer noch weit exklusiver als die Fähigkeit mitreden zu können, wenn das Mitreden zum gegenstandsunabhängigen Wert geworden ist. Das war hoffentlich umständlich genug als Einstieg in einen Vorgriff. Den nur ein Vorgriff kann diese Zuwendung zu dieser alten Dorfgeschichte des am 4. Oktober 1865 geborenen und am 30. November 1944 gestorbenen Dichters Max Halbe sein.
Mehr als ein Vorgriff wäre bereits die Erörterung von Lebens- und Schreibumständen, das Eingehen auf Rezeptionsgeschichten, obwohl, zugegeben, der Reiz nur schwer abzuweisen ist, wenn man einmal weiß, mit wem der Mann Umgang pflegte. Ein Personenkreis, der auf den ersten und noch auf den dritten Blick vor allem den Eindruck macht, auf gar keinen Fall unter gar keinen Hut zu passen, Orte, die separate Erscheinungsweisen von Boheme im Norden und im Süden darstellen und von eben den Männern (und Frauen) verbunden werden, die mehr oder minder lange den steten Ortswechsel, die Unstetigkeit selbst zu ihrer Daseins- und Wegseinsweise gemacht haben. Max Halbe muss sogar herhalten im bereits fortgeschrittenen Alter als Musterknabe einer wie auch immer näher definierten Blut-und-Boden-Ästhetik. Doch im größeren Teil des einigen Deutschlands ist viel mehr ausgehalten worden, die tonangebenden Germanisten haben fast ohne Kurzbremsung an der Stelle weiter gemacht, wo sie ihre eben noch braunen Mythen webten. Wo also das biographische Lexikon „Literatur in Nazi-Deutschland“ zu Halbe auf Heinz Kindermann hinweist, den „NS-Literaturwissenschaftler“, hätte es dem Mann gut selbst einen Beitrag widmen können.
Nur so viel im Vorgriff: Zwiespältiger als Gerhart Hauptmann hat sich Max Halbe zwischen 1933 und 1944 auch nicht gegeben. Es bleibt somit auch dem Literaturhistoriker nur die angenehm ärgerliche Aufgabe, anzuerkennen, dass es wohl ein Schwarz, wohl ein Weiß, dazwischen aber eine positiv unendliche Abstufungsbreite von Grautönen gibt, falls man denn überhaupt mit solchen Symbol-Spielchen operieren will. Man kann harter Polenfeind sein, fast rassistischen Antislawismus vertreten und dennoch jeden Antisemitismus voller Empörung zurückweisen. Wer je beobachtet hat, wie ein einfacher Erbstreit friedliche Familienmitglieder in Hyänen verwandelt, die von Hass zerfressen werden, die sich auf endlose, selbstzerstörerische Gerichtsverfahren einlassen, nur um den blutsverwandten Gegnern das Leben so schwer wie irgend möglich zu machen, der sollte keine künstliche Entrüstung vorspiegeln oder seine vielleicht doch echte Entrüstung rational überprüfen, wenn es um den Verlust ganzer Heimaten geht, die von Wert und Größe doch im Regelfall nicht nur ein Baugrundstück darstellen.
Der Max Halbe von 1897 aber, das war das Jahr, als die Dorfgeschichte zuerst im Druck erschien, die von höchst unterschiedlichen Leuten als exemplarisch angesehen wird in Form und Gehalt, der hatte noch keine politisch-ideologischen Verdächtigungen oder gar Schuldzuweisungen zu überstehen, der rang mit dem extrem wechselhaften Erfolg, der rang mit seiner keineswegs durchgehend glücklichen Liebe zum Theater, der rang mit seiner sprudelnden Produktivität, die eben nicht nur Spitzenleistungen zu Tage förderte, sondern auch kleinere Formate. Doch warum soll, das ist nicht nur eine rhetorische Frage, dem einem angelastet werden, was dem anderen großzügig nachgesehen wird. Meine erste Entdeckung nach 33 Jahren, ich las die „Frau Meseck“ Anfang Juni 1981 zuerst und nun wieder, ist eine an mir selbst: ich bin milder im Urteil geworden. Am 3. Juni 1981 notierte ich mit meiner leidlich zuverlässigen Schreibmaschine: „Alles in allem hat diese Geschichte doch wohl nur mehr dokumentarischen Wert. Sie bietet in keiner Hinsicht einen Anknüpfungspunkt für den heutigen hiesigen Leser, es sei, er brauche Illustration zu bestimmten allgemeinen Wissensdaten über soziale Zustände.“ Was ich nicht aufschrieb, aber sehr wohl glaubte, war die Überzeugung, in Literatur mehr Faktisches finden zu können, wenn man sie entsprechend liest, als mit sehr viel soziologischer Mühe anderen Quellen zu entnehmen wäre.
Man erfährt, um das jenseits der Literatur zu demonstrieren, ja selbst aus den größten Gemälden der bedeutendsten Sammlungen immer auch Profanes von Bedeutung: Kleidermoden, Frisuren, Schönheitsideale, Techniken, Farbzusammensetzungen. Dennoch ist „Frau Meseck“ vor allem erst einmal eine starke Geschichte. Rechnet man ein, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die durchschnittliche Lebenserwartung deutlich unter der heutigen lag, dann ist ein Sujet um eine Frau, die mit fast 95 Lebensjahren im Begriffe steht, Silberhochzeit zu feiern, nachdem sie mit ihrem ersten Gatten bereits die Goldene Hochzeit erlebt hatte, fast eine Wunderstory. Diese Frau Meseck, die früher Frau Gerlach hieß, hat beide Ehen mit Partnern geführt, die sie sich sehr aktiv und gegen alles Herkommen selbst ausgesucht hat. Als Hoferbin in der Landschaft um Danzig will sie nicht die üblichen strammen Burschen, die im Idealfall auch noch einen kräftigen Zugewinn bedeuten, sondern sie will den schwindsüchtigen Lehrer, von dem alle denken, er lebt nicht mehr lange. Dann aber reicht es für fünfzig schier endlose Ehejahre. Frau Gerlach ist fast 70, als sie einen 45 Jahre jüngeren Mann als Inspektor auf den Hof nimmt und sie bietet ihm die Ehe an, die der junge Herr Meseck, der im Geiste das ganze Gegenteil seines Vorgängers ist, ohne viel Umstände auch eingeht.
Mesecks Standpunkt wird folgendermaßen charakterisiert: „Wer den goldenen Wagen und das silberne Geschirr wollte, mußte auch das Pferd mit in Kauf nehmen, das darin eigespannt war.“ Der junge Mann schickt sich in die Überlieferung, die das väterliche Erbe an den ältesten Sohn gibt, mit einer heute kaum vorstellbaren Selbstverständlichkeit und sieht seinen Weg deshalb erst jenseits dieses Horizonts. Zugleich empfindet er auch wieder nicht so dumpf, darin nicht die Chance zu sehen, die sich im Nebeneffekt bietet: „Dort ging erst die wirkliche Welt an, nach der er sich immer gesehnt hatte und in die er nie hinausgekommen war.“ Das Eingehen einer reinen Zweck- oder Vernunftehe stimmt ihn selbst angesichts des nun wahrlich extremen Altersunterschiedes in dieser Konstellation nicht eine Sekunde nachdenklich, führt zu keinerlei moralischem Selbstzweifel. Nicht einmal das für den jungen Mann ja so fern nicht liegende Problem des „Vollzugs“ der Ehe, wie man das etwas schräg zu nennen pflegte, gerät auch nur irgendwie ins Blickfeld. Frau Gerlach ist kinderlos geblieben, sieht den zweiten Gatten, dessen Großmutter sie problemlos sein könnte, wie einen späten Sohn und mehr nicht. Mehr jedenfalls lässt Max Halbe nicht verlauten.
Nahezu unvermeidlich tritt eine zweite deutlich jüngere Frau ins Geschehen, es ist die Magd Gustl, verführerisch ausgestattet und gewillt, sich ein Glück zu finden. „Das Mädchen seinerseits, mit dem instinktiven Einvernehmen, das so oft feindliche Frauen schweigend verbindet, wußte ganz genau, was ihr von ihrer Dienstherrin bevorstand, und hatte sich ihren Plan danach eingerichtet.“ Es klappt aber nicht mit dem Plan, denn Frau Meseck bleibt Herrin der Lage, noch in der zugespitztesten Situation, als der junge Gatte tatsächlich die Hand gegen sie erhebt, beherrscht sie ihn allein mit ihrem durchdringenden Blick. Halbe schildert ihre Augen in ihrer noch im höchsten Alter verbliebenen Schönheit. Das gesamte Geschehen ist auf den Tag der Silberhochzeit begrenzt, der aber den Rahmen abliefert für eine unspektakulär chronologische Rückblende. Man hat eingewendet, Max Halbe neige zu melodramatischem Einsatz von Naturereignissen in seinen Arbeiten und tatsächlich blitzt es auch in „Frau Meseck“ im genau passenden Moment. Doch wir wissen mit Edgar Wallace, dass der Mörder im bedrohlichen Londoner Nebel einfach besser schleicht als froh pfeifend im Sonnenschein hinter einer japanischen Touristengruppe.
Auch wenn der Blickwinkel des Erzählers, für einen Mann kaum ganz vermeidbar, sich von der Titelfigur in Richtung des Inspektors verschiebt, es bleibt Frau Meseck, die erleben muss, dass der junge Mann vom Moment an, da die Magd aus dem Hauswesen entfernt wurde, schneller altert als seine alte Frau. Die hat, als sie aus dem Wagen steigt und sich den Blicken der neugierigen Dorfbewohner nach langer, langer Pause wieder einmal, etwas vom mythischen Antäus, der Kraft aus der Berührung mit der Erde schöpft. Und sie überlebt natürlich auch den zweiten Mann, der freiwillig aus dem Leben scheidet: „... immer der gleiche eintönige Inhalt: Leben müssen, immer wieder leben müssen für nichts und wieder nichts, nur weil man einmal da war und nicht fort durfte, ehe man gerufen wurde.“ Mit ihren Tränen und dem Läuten der Glocken endet die Geschichte. Eine letzte, eine allerletzte Leidenschaft leistet sich die uralte Frau: Sie richtet ihre Neugier auf den Sternenhimmel. Was kitschig klingt, ist eine starke Pointe für alle Leser, die nicht vergessen haben, worin die Lektüre der Frau bestand, wenn sie las: „Meistens waren es populäre philosophische oder naturwissenschaftliche Schriften über die Unsterblichkeit der Seele oder den Bau des Weltalls, alle noch aus dem Anfange des Jahrhunderts und von vergessenen Autoren...“.