Günter Grass: Deutscher Lastenausgleich
In der kurzen Phase während des Untergangs der DDR, als deren Verlage noch meinen konnten, mit Ausgaben bisher verpönter oder gar verbotener Autoren Wandlung zu demonstrieren, die man noch Perestroika nennen durfte, gab es auch Einübungen in das Genre des operativen Buches. Diese Art von Aktualität war bis zur Abschaffung des umständlichen Druckgenehmigungsverfahrens ohnehin undenkbar gewesen, jetzt, als die Papierkapazität nicht mehr als alleiniges Totschlagargument herhalten musste, gab es plötzlich „Texte zur Zeit“. In dieses kurzlebige Projekt des Berliner Aufbau-Verlages passte beinahe wie die Faust auf den Topf Günter Grass. Mit ihm hatte sich die DDR schwerer als mit vielen anderen Autoren aus dem Westen Deutschlands getan, schwerer vor allem natürlich als mit all denen, denen zeitweilige oder dauerhafte Nähe zur DKP als Gratis-Eintrittskarte auf den DDR-Buchmarkt diente. Die gab es in schöner Regelmäßigkeit, wie armselig bisweilen auch die literarische Qualität dessen war, was da fix zwischen Buchdeckeln landete. Umgekehrt, nur um keinen falschen Eindruck zu hinterlassen, umgekehrt verfuhr der Westen mit Dissidenten der DDR ebenso: etwas Mauer, Stacheldraht und Stasi im Text und schon lauerten die Literaturpreise selbst für mäßige bis mittelmäßige Systemkritiker.
Grass aber war plötzlich da mit „Die Plebejer proben den Aufstand“: Brecht und der 17. Juni 1953 jenseits des mehr als dreißig Jahre in der DDR gepflegten Geschichtsbildes und eben auch „Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot. Reden und Gespräche“, wie der komplette Buchtitel lautet. Plötzlich war der verpönte Grass, dieser mehr als seltsame SPD-Parteigänger, der sich über Jahre nie zu schade war, direkt als Wahlkämpfer aufzutreten, der sogar, der überraschte DDR-Leser, falls er das Buch denn überhaupt zur Kenntnis nahm, durfte ein Beispiel nachlesen, wild vor sich hin reimte für seine Partei, dieser Grass war plötzlich als Kronzeuge brauchbar gegen das „dumpfe Einheitsgebot“. Man darf 25 Jahre später darüber nachdenken, wen das wohl warum und wie sehr gefreut hat, manchmal sind es ja die plötzlich gewonnenen Freunde, die einen stutzig machen sollten. Der Aufbau-Verlag präsentierte seinen Lesern eine Sammlung von Grass-Texten, keineswegs nur Reden und Gespräche, die mehr oder minder eng genau dieses aktuelle Kernthema behandeln, für das der Untertitel prägnant steht. Heute jährt sich zum 25. Male der Tag, da Grass vor dem SPD-Parteitag in Berlin seine „Lastenausgleich“ betitelte Rede hielt, schon am Folgetag war sie in der Frankfurter Rundschau nachzulesen. Sie eröffnet nach einem kurzen Vorspruch das Buch.
Viele Parteien gab es nicht in der deutschen Geschichte, die sich eigene Parteitagsredner aus dem Berufsstand der Schriftsteller ans Rednerpult holen konnten, ein Mann wie Grass bei solcher Verrichtung ist singulär. Und die Merksätze, die er seinen Genossen vortrug, waren für all jene, die ihren Grass halbwegs kannten, keineswegs überraschend. DDR-Lesern aber offenbarte das in Lizenz von Luchterhand übernommene Buch eine in vieler Hinsicht frappierende Denkkontinuität. Denn die Mitte Dezember 1989 schon wie ein kontraproduktiver Querschlag wirkende Polemik gegen eine Wiedervereinigung trieb Grass schon seit mehr als zwanzig Jahren um. Das Buch präsentiert die Beiträge im wesentlichen in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge, der älteste Text, jener in der DDR nie veröffentlichte „Offene Brief“ vom 14. August 1961 an Anna Seghers, schließt es ab und auch da darf man bis heute überrascht sein, wie scheinheilig die Annahme der Absenders war, der Brief könne tatsächlich in NEUES DEUTSCHLAND veröffentlicht werden wie Tage später in der Hamburger ZEIT. Wer Ulbricht, den obersten Repräsentanten der DDR in wilder Wallung einen KZ-Kommandanten nennt und auf wahrhaft hinterhältige Weise Anna Seghers mit „dem Faschisten Gottfried Benn“ über einen Kamm schert, der ist entweder unfassbar naiv oder ein wirklich böser Demagoge. Zum Ende der DDR hatte bekanntlich auch Walter Janka, in den fünfziger Jahren Chef des Aufbau-Verlages, die mäßig schöne Idee, ausgerechnet Anna Seghers an den Pranger zu stellen, an den ganz andere gehörten.
Die Parteitagsrede aber, die Günter Grass hielt, malt ein Gespenst an die Wand, das Gespenst des allen Nachbarn unvermeidlich Furcht einflößen müssenden Groß-Deutschlands. Allen Ernstes schlug Grass vor: „Lernen wir vielmehr von unseren Landsleuten in der DDR ...“, was genau, verriet er freilich nicht. Das kann man ausführlicher, wenn auch nicht wesentlich substantieller, einem Interview entnehmen, das Grass dem SPIEGEL gab und in der Ausgabe vom 20. November 1989 veröffentlicht wurde, es folgt im Buch direkt auf den Redetext. Dort will Grass einen Impuls haben, der in der BRD von der DDR aufgenommen wird: „Hätten wir nicht allen Anlaß, den gewaltlos revolutionären Impuls, der von der DDR ausgeht, auf uns zu übertragen?“ Wer sollte was worauf übertragen? Der Schriftsteller Grass, der, ebenfalls im Buch nachlesbar, das Loblied Eduard Bernsteins singt, der innerhalb der Sozialdemokratie die Praxis gegen die scheinrevolutionäre Theorie des Erfurter Programms von 1891 vertrat, schlägt sich hier überraschend auf die Seite der platten Phrase. Beim Parteitag aber sprach er von den Lasten, die die DDR nach dem Krieg mehr als die BRD zu tragen hatte, von einem Lastenausgleich, der allem vorauszugehen hätte. Und während viele Prognosen, die Grass zwischen 1961 und 1989 im Brusttone der Überzeugung geäußert hatte, sich als Fehlgriffe erwiesen, es wird darauf zurückzukommen sein, hatte er in Bezug auf den praktischen Vollzug der Wiedervereinigung in fast ebenso vielen Punkten recht.
Grass forderte Gleichberechtigung und Augenhöhe zwischen den beiden deutschen Staaten als Voraussetzung für alle weiteren Schritte. „Selbstbestimmung setzt umfassende, also auch ökonomische Unabhängigkeit voraus.“ In der Tat, möchte man heute immer noch meinen, freilich wissend, dass es demnach so gut wie keine selbstbestimmten Staaten auf Erden gibt, Tendenz abnehmend, wenn man das einrechnet, was seit Jahren immer Globalisierung genannt wird, um uralte, das gleiche meinende Begrifflichkeiten von Marx und Engels zu vermeiden. „Ein wiedervereinigtes Deutschland wäre ein komplexgeladener Koloß, der sich selbst und der Einigung Europas im Wege stünde.“ Irrtum, Exzellenz, schwerer Irrtum. „Allen Beteuerungen, selbst den gutgemeinten zum Trotz, wären wir Deutschen wieder zum Fürchten.“ Weshalb wir heute in repräsentativen Umfragen das weltweit beliebteste Land sind, das mit fußballerischen Sommermärchen aufwartet und später sogar noch tatsächlich Weltmeister wird. Weshalb die alte Reichshauptstadt, in den Zukunftsplänen, die Grass entwirft, nicht einmal erwähnt, er favorisiert den wechselweisen Sitz einer deutschen Konföderation, seiner Lieblingskonstellation, in den beiden Messestädten Frankfurt am Main und Leipzig, weshalb also Berlin zum beliebtesten Reiseziel von jungen Israelis geworden ist. Die müssten sich nach Grass dann also am liebsten fürchten. Am SPIEGEL-Interview wird deutlich, dass ihn inzwischen sogar das Ozonloch widerlegt, dem er 1989 mehr Priorität einräumen wollte (dem Waldsterben auch) als der deutschen Einheit. Der Wald lebt immer noch und das Ozonloch ist vollkommen verschwunden.
„Vereinigung als Einverleibung der DDR hätte Verluste zur Folge, die nicht auszugleichen wären: denn nichts bleibe den Bürgern des anderen, nunmehr vereinnahmten Staates von ihrer leidvollen, zum Schluss beispiellos erkämpften Identität; ihre Geschichte unterläge dem dumpfen Einheitsgebot.“ Dem pauschal zu widersprechen, müsste man die zurückliegenden 25 Jahre nicht erlebt haben, dem Verlustausgleich könnte man immerhin eine kleine Chance geben vor einem freilich langen Zeithorizont. Was die DDR einbringen könnte, fragte der SPIEGEL, Grass antwortete: „Etwas, das vielleicht jedem aufgefallen ist, der mehrmals in der DDR gewesen ist, etwas, das uns hier fehlt: ein langsameres Lebenstempo, entsprechend mehr Zeit für Gespräche.“ Unter dem Schlagwort Entschleunigung führen das heute auch andere im Munde, von der DDR spricht dabei niemand mehr, denn die so hübsch biedermeierlich erscheinende langsame DDR hatte, wenn überhaupt, andere Primärqualitäten. Erkennbar wird aber und das darf nur sehr naive Leser wirklich wundern, ein rein intellektueller Blick auf die Dinge. In fast schon peinigender Weise verdeutlicht das gesamte schmale Buch ein Denken, über das jeder Philosophie-Erstsemestler in der DDR ohne äußeren Zwang den Kopf geschüttelt hätte.
Denn Günter Grass offenbart fast in jedem Text ironiefrei seine Überzeugung, dass Geschichte die Bewegung von Begriffen ist. Der Begriff der Nation ist zweimal gescheitert, nicht etwa der deutsche Imperialismus in zwei Kriegen, Begriffe müssen neu gedeutet, abgeschafft, mit anderem Inhalt erfüllt werden, immer wieder, immer wieder, was man einem Schriftsteller nachzusehen geneigt wäre, nicht aber einem, der seine Leser im gleichen Buch darüber unterrichtet, dass es gelte Leninismus von Marxismus zu trennen, weil Lenin die Basis für Stalin war. Ein solcher Verkünder müsste mit eiserner Logik als nächstes vor Marx stehen und der hat bekanntlich mit seinem Kompagnon Engels die Grundfrage aller Philosophie ziemlich eindeutig beschrieben. Und er hat nun wirklich stringent nachgewiesen, dass auch alle jene Denker diese Grundfrage so oder so beantworten, die sich dessen entweder nicht bewusst sind oder meinen, sich darüber hinwegsetzen zu können. Der Schriftsteller Günter Grass glaubt, mit ein paar neuen Begriffsinhalten, die er sicher zu liefern bereit wäre gegen ein geringes Entgelt, die Kulturnation Deutschland auf den richtigen Weg zu leiten. Weit von Hybris entfernt ist er nicht, wenn er mit solchem Selbstbewusstsein Forderungen an seine Partei stellt und wenig später in seinen Wort gewordenen Aktivitäten des Jahres 1990, die zum Buch „Ein Schnäppchen namens DDR“ gerieten, noch weit dünner nicht nur äußerlich, Beleidigung erkennen lässt, weil die Welt in ihrem Lauf sich nicht nach seinen Lieblingsansichten richtete.
In gekürzter Form findet sich im Buch auch ein in Brüssel 1984 für die Öffentlichkeit geführtes Gespräch zwischen Grass und Stefan Heym. Es gehört zum Material, das seinen, den weit in der Geschichte verankert gesehenen sozialdemokratischen Begriff der Kulturnation expliziert. Grass meint dort, es „läßt sich zu meiner eigenen Überraschung nachweisen, daß es in der DDR eben nicht gelungen ist, eine Nationalliteratur zu schaffen.“ Umgekehrt: Wenn es gelungen wäre, eine zu schaffen, hätten viel mehr Leute als der begriffsstutzige spätere Nobelpreisträger überrascht sein müssen, denn wer, bitte schön, „schafft“ denn eine Nationalliteratur? Dass in der DDR eine andere Literatur entstand als in der BRD, in der Schweiz, in Österreich, eine Literatur, von der es nicht zwingend heißen muss, sie sei eine Nationalliteratur, von der es aber auch kein großer Unfug wäre, sie DDR-Literatur zu nennen, ist ein Faktum, kein Gegenstand definitorischer Spitzfindigkeiten. Grober greift Grass daneben, wenn er sein eigenes Land, seinen Staat, seine Teilnation meint: „Und es ist trotz der Ignoranz im Westen, dem langen Abblocken der DDR-Literatur, nicht gelungen, das Interesse an der Entwicklung drüben zu stoppen.“ Vielleicht sollte das eine freundliche Verbalgeste gegen Heym sein, denn für Heym interessierte sich der Westen freilich, während ihm 99 Prozent der anderen DDR-Autoren immer herzlich gleichgültig waren und bis heute (die ehemaligen weiterhin)sind. Man muss nur die 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR immer noch erschreckend hohen Zahlen von Bürgern des Altbundesgebietes heranziehen, die noch nie das Territorium der ehemaligen DDR betreten haben und auch bekennen, nicht zu wissen, warum sie das tun sollten. War Grass tatsächlich so blauäugig oder stellte er sich nur so?
Nur noch peinlich wirkt heute, wenn man liest, wie Grass Lessing, Heine und Biermann in eine Reihe stellt. Gestorben und vergessen sind Ideen wie die einer Nationalstiftung. Die sieben Thesen zum demokratischen Sozialismus wären heute wahrscheinlich sogar jenen Sozialdemokraten unheimlich bis peinlich, die sich für rot-rot-grüne Bündnisse geöffnet haben. Die Thesen werden genau an der Stelle verwaschen, wo es an die Substanz geht, nämlich an die Eigentumsfrage. Nichts hat die DDR-Bürger 1989, 1990 und danach mehr belehrt, wie zutreffend die steißtrommlerisch wiederholten Thesen ihrer Staatsbürgerkundelehrer, ihrer Gewerkschaftsschulungen und Parteilehrjahre gewesen sind, wonach die Grundfrage die Frage nach dem Eigentum ist. Nichts wurde in der ehemaligen DDR schneller und brutaler neu geregelt als die Eigentumsfrage, die vielen Geschichten darüber und davon haben viele Zeitungen gefüllt und es ging gar nicht nur um die Machenschaften der Treuhandanstalt allein, es ging auch über den einfachen Bürger aus dem Westen, der mit Rückübertragungsforderungen kam, um sofort nach Erfolg weiterzuverkaufen, um das Eigentum ging es da nie, wohl aber um den Verkehrswert. Man muss das nicht schlimm finden, aber nennen sollte man es als das, was es war: Kapitalismus pur. Den aber wollte Grass mit dem Wunderheilmittel „Mitbestimmung“ erträglicher machen. Auch dieser Begriff ist, soweit es ich sehe, vergessener als vergessen.
„Der demokratische Sozialismus ist kein Dogma. Da er kein Endziel beschreibt und da die Ziele von gestern morgen schon Hemmschuh sein können, muß er sich immer wieder neu definieren.“ Das aber hat den Vorteil, dass er hinreichend mit sich selbst beschäftigt ist, während die Verhältnisse, dieser nun wenig stalinistische oder orthodoxe Begriff darf benutzt werden, während die Verhältnisse bleiben, wie sie sind. Die DDR, auch daran ging sie zugrunde, hatte nie eine Führung, die verstand, ihren Bürgern so viel Leine zu lassen, dass sie sich in einem hinreichend großen Kreise drehen konnten wie ihre Onkel und Tanten im Westen. Im Westen kann der Kabarettist Kanzlerdreschen spielen, bis die Funken fliegen, im Osten konnte schon ein vereinzelter Witz nach Hohenschönhausen in den Keller führen, im Osten hat sich alles geändert, im Westen nichts. Das ist der Unterschied. Einer wie Böll, nicht einer wie Grass, der wusste, was es heißt, der Hofnarr zu sein. Die Folgenlosigkeit der Freiheit ist vielleicht hautfreundlicher als die Erfolglosigkeit der Diktatur. Am 23. Mai 1970 orakelte Günter Grass bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bergneustadt: „Es wird keine Vereinigung der DDR und der Bundesrepublik unter westdeutschem Vorzeichen geben; es wird keine Vereinigung DDR und der Bundesrepublik unter ostdeutschem Vorzeichen geben.“ Trefferquote fünfzig Prozent, wenn das nichts ist?