T. S. Eliot: Ein verdienter Staatsmann

Als die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG am 10. Januar 1965 Hans Egon Holthusens Nachruf auf den am 4. Januar 1965 verstorbenen Literatur-Nobelpreisträger von 1948, Thomas Stearns Eliot, veröffentlichte, war nicht die heute unvorstellbar lange Zeit zwischen Anlass und Text das Verblüffende, sondern der Umstand, dass Holthusen das dramatische Schaffen Eliots mit keiner Silbe erwähnte. Gut dreißig Jahre später ließ Ina Schabert, zweifellos bekannter als Herausgeberin des Shakespeare-Handbuches, ihre „Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung“ bei Kröner erscheinen. Dort figuriert Eliot nur noch als im Vorbeigehen zu attackierendes Feindbild-Element männlichen Denkens, sein Beitrag zur englischen Literaturgeschichte ist komplett eliminiert, was auch nicht damit pauschal entschuldigt werden kann, dass die Geschichte nur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts geführt wird. Aus dieser Perspektive erscheinen die zeitgenössischen deutschsprachigen Kritiken zu Eliots letztem Drama „Ein verdienter Staatsmann“ schon fast wie chorale Lobeshymnen, obwohl sie durchweg verschieden akzentuierte Distanz artikulieren.

Der gelegentlich geäußerte Verdacht, die kritische Milde rühre aus dem Respekt vor dem großen Mann und seinem früheren Werk in den Genres Lyrik und Essay, weniger, weit weniger aus der Hochschätzung des später hinzugekommenen Schaffens für die Bühne, ist wohl berechtigt. Fünfzig Jahre nach Eliots Tod gibt es keinen Grund mehr, den Dreiakter, der am 25. August 1958 zu den Edinburgher Festspielen uraufgeführt wurde und am 29. Januar 1960 seine deutsche Premiere in den Kammerspielen der Bühnen der Stadt Köln erlebte, Regie Oscar Fritz Schuh, mit besonderer Rücksicht zu behandeln. Man kann, ohne sich dabei für seine Respektlosigkeit in die Brust werfen zu müssen, festhalten, dass insbesondere der dritte Akt eine einzige Katastrophe darstellt in seiner zweiten Hälfte. Hier gerät das Theater als moralische Anstalt hart an die Grenze zur Heilsarmee-Rhetorik, zum dialogisierten Traktat, die Sprache der Liebe zwischen der Tochter des Elder Statesman und ihrem künftigen Gatten Charles ist in einem Maße gestelzt, dass einem die Haare zu Berge stehen.

Erschwerend wirkt für den Gesamteindruck auch, dass die zunächst geweckte Erwartung des Lesers und Theaterbesuchers in mehrfacher Hinsicht enttäuscht wird. Denn der verdiente Staatsmann und Wirtschaftsboss, der scheinbar zwei ziemlich heftige Leichen im Keller liegen hat: fahrlässige Tötung und Unfallflucht sowie Bruch eines Eheversprechens, wird tatsächlich erpresst, keineswegs aber mit dem Ziel, einen öffentlichen Skandal zu erzeugen oder an Geld zu kommen. Beide Erpresser sind selbst reich, wohl sogar reicher als der Erpresste, sie wollen nur seine Freundschaft, seine Zuneigung, vielleicht auch etwas Liebe. Die fahrlässige Tötung löst sich in Luft auf, weil der überfahrene alte Mann schon tot war, als er überrollt wurde und zwar eines natürlichen Todes gestorben, die Unfallflucht bleibt, galt aber damals offenbar als Kavaliersdelikt, von dem man kein Aufhebens machte, auch die Kritiker der Kölner Aufführung haben alles Mögliche eingewendet, nur nichts gegen die Verharmlosung jener Schatten der Vergangenheit, die über dem späten Leben des Lord Claverton liegen. Der ist im Ruhestand, sieht sein Leben in den leeren Seiten seines Terminkalenders symbolisiert und soll sich nach einem Schlaganfall erholen.

Er hat eine Tochter Monica, die ihren Charles erst erhören will, wenn sie dem Vater gegenüber keine Verpflichtungen mehr hat, sie will ihn ins Sanatorium begleiten und ihm zur Seite stehen. Er hat einen Sohn Michael, der mit seiner Rolle als Sohn eines berühmten Vaters nicht zurecht kommt und mit allem scheitert, was er unternimmt und auch ganz handfesten Schwierigkeiten ausgesetzt ist, Schulden. Wie es der dramaturgische Zufall so will, tauchen just jene beiden Personen bei dem kranken Lord Claverton auf, die Zeugen seiner vergangenen Verfehlungen sind, beide agieren durchaus drohend und lassen eben nicht sofort erkennen, worum es ihnen letztlich geht. Der Lord hat seine Geheimnisse vor seinen Kindern, insbesondere aber vor seiner Tochter, natürlich gehütet. Je länger dies dauerte, um so schwerer war es für ihn, sein Schweigen zu brechen. Erst jetzt, buchstäblich im Angesicht des Todes, hat er ein Beichtbedürfnis und gesteht, was einst geschah. Das bringt ihn wieder ins Gleichgewicht, ins Reine mit sich selbst und lässt ihn ruhig und entspannt in den Tod gehen. Reclams Schauspielführer hält in seiner 19. Auflage nicht nur einen falschen Uraufführungsort parat, er verzichtet auch auf die ausführlichere Vorstellung des Stückes, anders als für die vier anderen nennenswertes Dramen Eliots.

Dafür zieht das Nachschlagewerk eine Parallele zu Sophokles  und dessen Alterswerk „Ödipus auf Kolonos“: „Auch hier wird der Konflikt zwischen Scheinexistenz und Identität, zwischen Lebenslüge und dem Mut zur Wahrheit ausgetragen. Lord Clavertons Rechtfertigung und Beichte vor der Tochter Monica erinnern an den Dialog zwischen Ödipus und Antigone, ebenso der Schluss mit dem friedlichen Tod unter dem Baum, ein Tod, der zum Segen und Vermächtnis werden soll für die Nachwelt.“ Substanzhaltiger ist da schon Georg Hensel im zweiten Band seines „Spielplan“, der vom antiken Modell nur erkennt, es sei „nicht viel mehr übriggeblieben als der Anreiz, eine Grundsituation zu benutzen ...und sie durch Beichte und Reue christlich auszudeuten.“ Anlässlich seines 125. Geburtstages habe ich zu dieser Seite in Eliots dramatischem Schaffen schon einige Ausführungen gemacht (siehe JAHRESTAGE, 26. September 2013). Die forcierte katholische Grundierung hilft dem Stück nicht auf, sie führt eher zu Abwehrreaktionen, denn der Theaterbesucher möchte nicht missioniert werden von der Rampe herunter.

Die Kritiken nach der deutschsprachigen Erstaufführung in Köln lobten fast ohne jeden Abstrich die Regie von Oscar Fritz Schuh und das Bühnenbild von Caspar Neher, die Schauspielerleistungen fanden dagegen von Fall zu Fall sogar gegensätzliche Beurteilungen. Albert Schulze Vellinghausen schrieb: „Der Referent aber steht nicht an, tiefe Bewegtheit zu bekennen. Er hat sich öfter die Augen getrocknet.“ Das ist einerseits ein schönes Bekenntnis, sagt andererseits aber mehr über den vermutlich tränenseligen rheinischen Katholizismus des Kritikers als über die tatsächlichen Qualitäten des Stücks. Und weiter: „Aus der Reife des Textes zeugt sich Nachdenken, Forschen, Gewissensforschung.“ Jeder deutsche Frühaufklärer der Gottsched-Gellert-Zeit hätte seine helle Freude an einer solchen alten Ministrantenseele gehabt, die sich erbauen lässt, übrigens auch mancher frühe realsozialistische Theaterplaner, womit bewiesen wäre, dass auch in Köln nicht alles schlecht war früher trotz Adenauer und Heinrich Böll. Als Elder Statesman trat Bernhard Minetti auf, in dem Schulze Vellinghausen „eine Art Anthony Eden mit Prospero-Ton“ entdeckte. Eden (1897 bis 1977) war in den fünfziger Jahren Außenminister, später Premierminister in London. Walter Karsch sah einen Minetti „von atemberaubender Intensität“, insgesamt aber: „Erich Frieds deutsche Übertragung macht das zuweilen mühsame Gerede noch spürbarer als das Original, und selbst Oscar Fritz Schuhs brillante Inszenierung der deutschen Erstaufführung in den Kölner Kammerspielen vermochte im dritten Akt nicht mehr das seichte Geschwätz zu überspielen.“

Heinz Beckmann hatte diese Einwendungen: „Es fragt sich, ob für eine derart feingefädelte Zubereitung zur Beichte gerade das Drama der rechte Ort ist. Das Drama benötigt nun einmal gewisse explosive Elemente; es ist nicht die dichterische Form für feinere Seelenstickerei.“ Die sich allerdings in diesem Dreiakter auch nicht tatsächlich findet. Beckmann ist der einzige Kritiker der Kölner Inszenierung gewesen, der zu erkennen gab, dass er den Text vorher gelesen hatte und deshalb wusste, was die Regie strich. Sein Gesamturteil ist kaum brutaler zu formulieren als mit: „Fast der schönste Teil in Eliots jüngstem Theaterstück ist die Widmung an seine Frau...“. Das erinnert mich an eine Lesung, deren Zeuge ich war, wo eine Zuhörerin meinte: „Besonders hat mir der Schluss gefallen, weil die Geschichte da zu Ende war.“ Für Manfred Vogel waren „Ein verdienter Staatsmann“  und Eliots Stücke generell „kein „normales“ Gebrauchstheater, sondern moralphilosophische Seminare in Gleichnis- und Dialogform.“ Was sicher den allgemein geringen Erfolg beim Publikum mehr als erklärt. „Seit Jahren hat man Bernhard Minetti nicht so überzeugend gesehen wie hier in der Rolle des nicht ganz unlädierten Ehren- und Staatsmannes.“ Immer gelobt: René Deltgen in der Rolle des Beifahrers beim Unfall. Friedrich Torberg sah 1961 eine Inszenierung am Wiener Volkstheater und schrieb: „Auch die gehobene Sprache hat ihre heimlichen Niederungen...“. Hans Frank spielte dort den Lord Claverton.

Dass es neben der vermutlich weithin gar nicht registrierten Tatsache, dass eines der erfolgreichsten Musicals der Geschichte, „Cats“ von Andrew Lloyd Webber, auf T. S. Eliots „Old Possums Katzenbuch“ basiert, noch etwas gibt, was Eliots Fortleben sichern müsste, sei hier nur noch knapp vermerkt. Die Lyrik ist etwas für Professoren und Bildungssnobs, bei Holthusen liest sich die Einschätzung so: „Ganze Bataillone von Professoren und Kritikern sind ins Brot gesetzt worden und haben ein bißchen Karriere machen dürfen, weil dieser schwierige Autor ihnen mit fast jedem einzelnen seiner Gedichte, mit jeder neuen kritischen Entscheidung und schließlich noch mit jedem Widerruf früher einmal getroffener Entscheidungen was zu brechen und zu beißen gab.“ Komplett verblüfft darf man jedoch sein, wenn man sich Essays von Eliot vornimmt, etwa die am 16. Oktober 1944 vor der in Gründung befindlichen Virgil Society gehaltene Rede „What is a Classic?“, die in der deutschen Fassung den nahe liegenden Titel „Was ist ein Klassiker?“ erhielt. Dort findet sich nicht nur eine den deutschen Goethe-Stolz ins Mark treffende Formulierung zum Dichterfürsten aus Weimar, nicht nur eine natürlich ausführliche Würdigung des römischen Vergil. Es ist von der ersten bis zur letzten Zeile anregend, aufregend, herausfordernd, modern. Vor allem aber in einem Maße unprätentiös, dass es eine Freude ist.


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