Otto Ludwig: Der Erbförster
Komisch ist das schon: wo immer man überhaupt etwas findet über den Dichter Otto Ludwig und sein Drama „Der Erbförster“, taucht wie der Dackel des Försters im wirklichen Leben das Wort „erfolgreich“ auf. Selbst die Formulierung vom „erfolgreichsten“ Stück Ludwigs wird nicht verschmäht, obwohl doch bereits die erste zarte Kontaktaufnahme mit dem Stoff seines Lebens jedem Rechercheur sagen müsste, dass von diesem Ludwig ja überhaupt nur zwei Stücke je das Licht einer Theaterbühne erblickten. Die schiere Zahl der vollendeten Dramen verbietet es somit, überhaupt irgendeinen Superlativ zur Anwendung zu bringen, der diesen Teil der schriftstellerischen Produktion des Mannes betrifft, den selbst runde Jubiläen und namhafte Fürsprecher nicht der Vergessenheit entreißen können. So hat auch der mit Abstand substanzhaltigste Printmedien-Beitrag zu Otto Ludwig im Jubiläumsjahr 2013, dem Jahr des zweihundertsten Geburtstages, das für Ludwig leider eben auch Büchner-Jahr, Wagner-Jahr und selbst Hebbel-Jahr war, der von Edo Reents in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN, mit zwei unauffälligen Weglassungen gegen seine eigene, sehr erfreuliche Tendenz geschrieben.
Reents verschwieg seinen Lesern aus Gründen, die jeglicher Spekulation jeglicher politischer Ambition Raum lassen, sowohl den Geburts- als auch den Sterbeort Otto Ludwigs. Beide Angaben hätten ihn zwangsläufig in den „Osten“ geführt, nach Eisfeld in Thüringen und nach Dresden in Sachsen, auch Leipzig spielte im Leben Otto Ludwigs eine nicht unwichtige Rolle, nicht aber beispielsweise Frankfurt am Main. Eine auch nur bescheidene Recherche hätte ergeben, dass die kleine Geburtsstadt Ludwigs, dass Eisfeld 2013 sogar zu einem Otto-Ludwig-Jahr ausrief und mit einer wackeren Reihe von Veranstaltungen, mit einer Ausstellung und einem neuen Buch für den verkannten und vergessenen Sohn der Stadt antrat, im Nachgang wäre freilich zu sagen: vergebens, weitgehend vergebens. Immerhin: Das Buch aus dem Salier-Verlag mit dem etwas umständlichen und überlangen Titel „Und Wahrheit ging mir von jeher über alle Schönheit. Otto Ludwig neu entdecken“, Herausgeberin Helga Schmidt, lohnt immer noch die Lektüre. Wenngleich ihm Sätze, wie sie Edo Reents niederschrieb, sicher mehr Schwung verliehen hätten.
Ich zitiere hier nur zwei davon: „Otto Ludwig ist der wohl krasseste Fall von Verkennung eigenen Talents, wobei er durchaus nicht glaubte, dass er gar keines besitze, er fühlte sich nur zu Falschem berufen.“ Und: „Denn Otto Ludwig war das wahrscheinlich bedauerlichste Paradoxon, das die deutschsprachige Literatur kennt: eine Mensch gewordene Zwangsneurose gewissermaßen, aber auch ein trotz seines provinziellen Habitus aufgeschlossener, für damalige Verhältnise geradezu gesamteuropäisch gesinnter Theoretiker...“. Hätte Reents das Helga-Schmidt-Buch zur Kenntnis genommen, wäre ihm die Formulierung vom „Studium“ in Leipzig nicht mehr so selbstverständlich vorgekommen. Das entsprechende Arbeitsergebnis von Maren Goltz, Kustodin Musikgeschichte der Meininger Museen, ist Ralf Julke in der „Leipziger Internet-Zeitung“ aufgefallen, sonst aber offenbar niemandem wie eben leider auch das Buch insgesamt außerhalb des engen Umfelds seines Verlages, der die Verlagsorte Hildburghausen und Leipzig vereint.
Da es Edo Reents um den Erzähler Otto Ludwig geht, dem er größte Hochachtung zollt und wichtige Leistungen innerhalb der deutschen Literaturgeschichte bescheinigt, ist die Dramatik bis auf „Der Erbförster“ komplett ausgeklammert. Es lässt sich gar der Verdacht nicht von der Hand weisen, dass der Feuilletonist hier Aufwand sparte, wie dies andeutet: „Selbst mit seinem wichtigsten Stück, dem unwahrscheinlichen, reißerisch-kolportagehaften „Erbförster“, mit dem er 1850 in Dresden kurz Furore machte, kam er aus dem Stande des „deutschen Möchtergern-Shakespeare“ (Gerhard Stadelmaier) nicht heraus.“ Auch hier ein unsinniger Superlativ, verbunden mit einem wahrhaft irreführenden Verweis auf den Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier, der nun wirklich im Ludwig-Zusammenhang andere Aspekte verkörpert als die etwas hochnäsige Titulierung vermuten lässt, die Reents aus dem Archiv des Hauses gefiltert hat. Stadelmaier war es, der in seine von mir gern benutzte Sammlung „ Traumtheater. Vierundvierzig Lieblingsstücke“ (Eichborn Verlag Frankfurt am Main 1997) ausgerechnet den „Erbförster“ aufnahm.
Dem Ahnungslosen macht ein Titel wie „Der Erbförster“ ja eher Assoziationen locker, die in Richtung Heftroman und Fünfziger-Jahre-Filmschnulze gehen, wovon der Fünfakter Ludwigs natürlich in jeder Hinsicht meilenweit entfernt ist, allenfalls nicht, wenn es um unfreiwillige Vorleistungen geht. Aber auch von Charles Dickens, den Ludwig übrigens eifrig studierte, führt eine sehr direkte Linie zur Kolportage. Die Situation: Christian Ulrich, verheiratet, Vater der drei Kinder Andres, Marie und Wilhelm, ist der Förster des Gutes Düsterwalde. Tochter Marie will sich mit Robert Stein verloben, Robert Stein ist der Sohn des Fabrikanten und Grundbesitzers Stein, der das Gut Düsterwalde erworben hat. Es beginnt mit den Vorbereitungen für die Verlobungsfeier, der Leser erfährt, dass es zwischen den Freunden Stein und Ulrich einen Streit gibt ums Durchforsten des Waldes. Der Erbförster hat Bedenken, der neue Eigentümer Stein will es dennoch und ist auch entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Der Konflikt spitzt sich am Ende des ersten Aufzuges so zu, dass dem Ulrich die Stellung gekündigt wird, im Auftrag von Stein erledigt das Buchhalter Möller. Damit verbunden ist die Aufforderung, binnen dreier Tage das Forsthaus zu räumen.
„Möchtergern-Shakespeare“ Otto Ludwig litt jedoch nicht, wie das abschätzige Etikett suggeriert, an zuviel Selbstvertrauen, sondern am Gegenteil. Er sah seine Prosaarbeiten, sobald er an ihnen war, eher als Brotarbeit, dem Drama billigte er dagegen den absolut höheren literarischen Rang zu. Das war angesichts des Siegeszuges des Romans, der ja so etwas wie das Leitfossil der bürgerlichen Literaturepoche darstellt und bis heute eine der Mehrzahl seiner Produkte nicht annähernd zukommende Hochschätzung erfährt, schon mindestens leicht zeitblind. Aus historischem Abstand gesehen, hat es der englische Literaturhistoriker Edward McInnes so formuliert: „Wenn man auf die Entwicklung des Dramas in diesen Jahrzehnten zurückblickt, fällt vor allem auf, in welch hohem Maße das Drama sich von den empirisch-realistischen Tendenzen abschließt, die die Entwicklung des Romans bestimmten ... Das Drama wird in der Tat zu einer Art Welt für sich.“ Otto Ludwig sah sich, so McInnes, vor der Aufgabe, „das deutsche Drama der Zeit zu regenerieren“ und scheiterte letztlich an dieser Aufgabe. Er schaute, nicht nur um Maßstäbe, sondern auch um ganz praktisches Handwerk zu gewinnen, zuerst auf den Größten der Zunft, auf Shakespeare.
Die dabei entstehenden „Shakespeare-Studien“ werden von gar nicht so wenigen unter den wenigen bekennenden Ludwig-Freunden immer noch gern zur Hand genommen. Und wenn Betrachter des „Erbförsters“ auf Parallelen wie den Meister Anton aus Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“ kommen, auf den archetypischen Michael Kohlhaas gar des Heinrich von Kleist, so sieht unter ihnen auch jemand Anklänge an Shakespeares „Othello“. Dergleichen könnte in Feinanalysen verfolgt werden, die hier aber nicht angestrebt sind. „Der Erbförster“ ist allein aus den sehr unterschiedlichen bis gegensätzlichen Wertungen her von Interesse, die er erfuhr. Franz Mehring etwa donnerte regelrecht gegen das Drama, ohne dem Verfasser jedoch das Talent abzusprechen, was Ludwig kaum getröstet haben würde, hätte er davon gelesen. „...der Held geht nur an seiner unglaublichen Beschränktheit unter; es ist sein tragisches Verhängnis, daß er den „freien Arbeitsvertrag“ nicht zu kapieren vermag.“ Und: „... ganz unverständlich ist die Schrulle, in die er sich verbeißt, nämlich, daß der Besitzer kein Recht habe, ihm zu kündigen. Er tobt wie unsinnig in den Tag hinein...“.
Die Sicht von Franz Mehring hat unveränderte Aufnahme in die DDR-Rezeption erfahren, maßgebend vor allem sein Urteil: „Man möchte sagen, daß der dichterische Verstand Ludwigs durch das Medusenantlitz der Revolution gelähmt worden sei. Sein Held ist ein Zerrbild halb auf Kleists Kohlhaas, halb auf Hebbels Tischlermeister Anton: wenn an seinem Stumpfsinn alle Belehrungen über ein jedem Kinderverstand zugängliches Rechtsverhältnis abprallen, so ist er kein Kämpfer der Revolution, sondern nur ein beklagenswertes Opfer jener Macht, mit der die Götter nicht nur, sondern auch die dramatischen Dichter vergeblich kämpfen.“ „Der Erbförster“ war dem kulturellen Vordenker der deutschen Sozialdemokratie ein antirevolutionäres, damit reaktionäres Stück, das zudem auch das Antlitz des Revolutionärs absichtsvoll entstellte. Diese Lesart sieht vom Kern des Geschehens in den fünf Akten sehr weit ab. Das wird, wenn es kritisch gesehen wird, und kritisch wird es sogar von den wohlwollendsten Betrachtern wie Heinrich Laube oder Theodor Fontane gesehen, bei seinen auffallenden dramaturgischen Schwächen genommen. Denn alles Studium des Shakespeare, alle hehre Absicht haben nicht verhindert, dass „Der Erbförster“ wie auch „Die Makkabäer“ uneinheitlich daherkommen, ihre spezifischen Brüche beeinträchtigen vor allem die Wirkung auf das Theaterpublikum.
Heinrich Laube, unter den Burgtheater-Direktoren sicher nicht der mit der geringsten Bedeutung, hat seinen Umgang mit beiden Stücken in „Das Burgtheater. Ein Beitrag zur deutschen Theater-Geschichte“ recht ausführlich geschildert. Es ist noch heute ein frappierender Genuss, Laubes Aussagen zum Theaterpublikum zu lesen und was für Folgerungen er daraus zog, meilenweit entfernt von heute unmäßig verbreiteter Publikumsverachtung, Publikumsbeschimpfung, Publikumsunterschätzung. Stellvertretend eine Passage über seine Wiener: „Ich rechnete ferner auf das große Gewicht, welches ein echtes Theaterpublikum wie das Wiener auf die Darstellung legt. Nur in Wien kann ein Stück lange leben durch die einleuchtende Trefflichkeit der Darstellung; draußen nicht. Und Anschütz wurde als Erbförster unübertrefflich gefunden.“ Die Rede ist von Heinrich Anschütz, der volle vierzig Jahre von 1821 bis 1861 am Burgtheater spielte und 1865 starb im Alter von fast 81 Jahren, in Otto Ludwigs Todesjahr übrigens, der am 25. Februar 1865 in Dresden starb und dort auch seine Grabstätte hat.
Heute jährt sich der Tag, an dem „Der Erbförster“ in Dresden am Hoftheater seine Uraufführung erlebte, es war der 4. März 1850. Auch daran nahm übrigens Franz Mehring nachträglich heftigen Anstoß: Gast der Premiere war ausgerechnet, aus Mehrings Sicht ausgerechnet, ein Minister, der die Revolutionäre in Dresden hatte malträtieren lassen. Das gäbe vielleicht schöne Schlagzeilen, wenn Theaterautoren neuerdings Aufführungen untersagen ließen, nicht, weil die Regie ihre Texte verhunzt, sondern weil im Publikum Menschen sitzen, die das revolutionäre Wohlwollen oder das wahlweise auch weniger revolutionäre der Dichter nicht haben. In Zeiten, wo eine erstaunlich breite Öffentlichkeit es nicht komisch findet, wenn Immobiliengeschäfte mit dem Vorzeigen von Parteibüchern verbunden würden, soweit es bestimmte ausgewählte Parteien beträfe, in solchen Zeiten hätte das Feuilleton wohl mehr Aufregung und Action, der Theatersache aber wäre ein weiterer Bärendienst erwiesen. Aber natürlich kommt kein halbwegs bei Troste sich findender Autor auf eine derartige Idee, es sei, er benötige einen besonders abgefeimten Marketing-Gag.
Der Erbförster erscheint im Stück als ein Mann mit einigermaßen seltsamen Prinzipien, das wird am deutlichsten, als er seinem künftigen Schwiegersohn Ratschläge gibt, wie er mit Marie umgehen soll. Obwohl er gesteht, dass er die Nacht nicht schlafen konnte, als seine Marie mit vier Jahren einmal verschwunden war, verkündet Christian Ulrich: „Kinder dürfen nicht wissen, wie lieb man sie hat, beileibe nicht; aber Weiber noch weniger. Sie sind auch nichts als erwachsene Kinder, nur pfiffiger.“ Das macht seine Weltsicht heute viel eher suspekt als eine möglicherweise krude Darstellung von Revolutionären, die im Stück übrigens gar keine sind. Die Erbförsterin weiß ein vielstrophiges Lied davon zu singen, wie man als Gattin und Mutter mit einem solchen Manne lebt. Aus Otto Ludwigs 1852 geschlossener Ehe mit Emilie Winkler gingen laut Walther Killys „Literaturlexikon“ vier Kinder hervor, bei WIKIPEDIA sind es nur drei, haben dafür aber eigene Namen. Vatererfahrungen hat er also definitiv nicht in seinen Erbförster gesenkt, vielleicht aber Sohneserfahrungen, was letztlich jedoch der Spezifik des Stückes weder etwas bringt noch nimmt.
Das Meininger Theter trug 2013 sein Scherflein zum Otto-Ludwig-Jahr bei, indem es eine szenische Lesung des „Erbförster“ veranstaltete, was die lokale Presse mit rührender Begeisterung und Entdeckerlust begleitete, sonst aber kaum registriert wurde. Immerhin findet sich im Theaterfoyer ja eine eindrucksvolle Ludwig-Büste aus dem Jahr 1909, etwas älter ist die Bronzebüste im Landschaftspark Herrenberg. Dennoch gilt festzuhalten, dass auch den Meiningern eine echte Neuinszenierung wohl zu riskant erschien und das ist durchaus nachvollziehbar. Denn aus dem Schicksal eines Mannes, der die Zeichen der Zeit nicht versteht und auch nicht gewillt ist, sie zu verstehen, der ein Sturkopf ist wie sein Gegenspieler, nur hat der die Geschichte auf seiner Seite, lässt sich eben kein sozialkritisch-aktualisiertes Drama über Rechtsbewusstsein destillieren, will man die Vorlage nicht vollkommen verkennen. Ein Mann, dem ein Eigentümer und Arbeitgeber kündigt, weil die Berufsauffassung des Mannes den Absichten des anderen Mannes widerspricht, hätte heute vielleicht bei der Vorgeschichte, die der Erbförster für sich in Anspruch nimmt, gute Chancen auf eine Abfindung, eine Kündigungsschutzklage aber mit den Gründen, die Christian Ulrich im Stück gelten macht für sich und vor anderen, würde wahrscheinlich nicht einmal angenommen vom Arbeitsgericht. Mit seiner Meinung dazu hat Franz Mehring vollkommen recht in seiner Kritik an der Person auf der Bühne.
Für Theodor Fontane war „Der Erbförster“ ein Stück ersten Ranges, doch auch seine Theatererfahrung mit Publikum sagte ihm: „... niemand wird sich danach drängen, diese fünf Schreckensakte zum zweiten Male zu sehen.“ Dabei stört sich Fontane nicht einmal an der sonst gern und oft kritisierten Übermacht des Zufalls im Stück, das ist ihm eher Poesie, die ihm gefällt: „Es waltet ein Gesetz darin, daß der Erbförster, als er den vermeintlichen Mörder seines Sohnes zu treffen glaubt, statt seiner die eigene Tochter trifft. Und von Zufall ist von dem Augenblick an nicht mehr zu sprechen, wo wir alles was er bringt, als prädestiniert, als eine bloße Frage der Zeit empfinden. Und so ist es hier.“ Die Kritik ist übrigens erfreulicherweise auch in den Salier-Band von Helga Schmidt aufgenommen. Sie enthält aber auch diesen Satz: „Es hat so gut wie gar keine Fehler, wogegen man das ganze Stück freilich als einen einzigen großen Fehler bezeichnen kann.“ Georg Witkowski hat das in „Das deutsche Drama des neunzehnten Jahrhunderts“ konkretisiert: „ ... das Kleinliche in den Motiven der letzten Akte läßt den Zuschauer die großen Absichten des Dichters verkennen, und die Handlung scheint in ihrem zweiten Teile, mehr von außen als von innen her ihren Antrieb zu empfangen.“
Erbförster Christian Ulrich erschießt versehentlich seine eigene Tochter und richtet sich am Ende selbst. Es wäre ein trefflich Spalten und Seiten füllendes Unternehmen, nunmehr zu ergründen, ob, wenn alle fünf Akte gelaufen sind, da eine Tragödie, ein Trauerspiel, ein bürgerlices Trauerspiel, ein Schicksalsdrama zu Ende ist, Zitate fänden sich zuhauf. Was dem Dramenanalytiker oder dem Theaterhistoriker eine quellensatte Publikation einbrächte in einem der nie von jemandem außer den Autoren selbst gelesenen Hochpreis-Büchern, das ist für den Theatergänger vollkommen irrelevant. Denn der fühlt sich vom Spiel auf der Bühne berührt oder nicht, angeregt oder nicht, der empört sich oder begeistert sich oder hakt ganz einfach ein bildungsbürgerliches Surplus ab. Für den eingangs schon erwähnten Gerhard Stadelmaier haben Aspekte eine Rolle gespielt, die frühere Betrachter gar nicht ins Sichtfeld bekamen: „Der Erbförster ist das erste Drama, in dem der Wald die Hauptrolle spielt.“ Um dann wenig später zu schreiben: „Ein Walddrama ist wie ein Revolutionsdrama auch nur ein Wahnsinnsdrama.“ Und natürlich ist ihm Shakespeare präsent: „Shakespeares Wald ist ein Wunder. Ludwigs Wald ist ein großer Wahnsinn.“
Reiner Entdecker war freilich auch Stadelmaier nicht, denn Georg Witkowski wusste bereits achtzig Jahre vorher, es: „... verschwindet diesem die Wirklichkeit und ihre Bedingungen hinter den dichten grünen Bäumen seines Forstes, mit dem sein Leben verwachsen ist. Während er sein Recht zu behaupten glaubt, begeht er nicht nur eine Reihe von schweren Unrechtmäßigkeiten, auch sein klares Auge verliert die Fähigkeit der klaren Unterscheidung, er wird dadurch eine Beute unglücklicher Zufälle, die ihn zum Verbrecher, zum Mörder seiner Tochter machen.“ Bei allem aber verliert Erbförster Christian Ulrich die Fähigkeit nicht, Mitgefühl zu erzeugen. Es gibt sogar eine Stelle, an der der regelrechte Schiller-Feind Otto Ludwig im Stück eine der berühmtesten Schiller-Stellen, eine aus dem „Don Carlos“, in sein Milieu abwandelt. Tochter Marie sagt zu ihrer Mutter, der Erbförsterin: „Mutter, er hat geweint! Ich sah eine Träne an seiner Wimper hängen, Mutter! und ich will ihn betrügen.“ Der König hat geweint! In diesem Fall zwar nur der König des Waldes, der zum Gut Düsterwalde gehört, doch immerhin. Lesen kann man den „Erbförster“ auf alle Fälle.