Bruno Frank: Zwölftausend

Wer sich um Bruno Frank bemüht, stößt unvermeidlich auf das Phänomen seiner Abwesenheit. Nachschlagewerke und Überblicksdarstellungen zu deutsch-jüdischer Literatur haben ihn nicht (Hans Schütz: Juden in der deutschen Literatur; Deutsch-jüdische Literatur, Metzler Kompakt; Grimm/Bayerdörfer: Im Zeichen Hiobs) oder nur en passant (Willi Jasper: Deutsch-jüdischer Parnass; Hanjo Kesting: Ein bunter Flecken am Kaftan). Das „Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur“ hat für Frank immerhin eine reichliche Seite übrig. Briefe, Aufsatzsammlungen oder Tagebücher anderer einst oder immer noch bekannter Autoren: Fehlanzeige, Fehlanzeige, Fehlanzeige. Bei Siegfried Kracauer – nichts, bei Stefan Zweig – nichts, bei Tucholsky – nichts, bei Alfred Polgar nichts, man muss suchen, sehr suchen. Mein vor mittlerweile 28 Jahren gleich mehrfach geäußerter Optimismus (vgl. Rubrik ALTE SACHEN heute und am 13. Juni 2012), der sich an eine Schein-Renaissance für Bruno Frank knüpfte, die sich in der DDR abzuzeichnen schien: rückblickend betrachtet ein Irrtum.

Ein knapper Schlag von Erich Kästner, veröffentlicht unter der Überschrift „Berliner Theater unter Null“ am 8. März 1928, scheint geeignet, mir auch am heutigen 70. Todestag von Bruno Frank den Wind sofort aus den Segeln zu nehmen, da ich gewillt bin, mich mit dem Dreiakter „Zwölftausend“ zu befassen, der doch einmal ein fast irrwitziger Bühnenerfolg war. Kästner lapidar: „Das Deutsche Theater bringt Bruno Franks „Zwölftausend“, ein Stück, das hundertfünfzig Jahre zu spät geschrieben und zu sehr auf Theatralik gestellt ist.“ Hundertfünfzig Jahre früher wäre, es sei vorsorglich festgehalten, fast exakt die Zeit der Spielhandlung gewesen, die der Autor ins Jahr 1776 gelegt hat. Das hat, freilich vor allem aus Altersgründen, auch Friedrich Schiller nicht geschafft, der auf sonderbare Weise durch das Frank-Stück geistert und das keineswegs nur im Vordergründig-Stofflichen. Und Theatralik, will ich meinen, hat doch im Theater auf alle Fälle eine größere Berechtigung als in der Politik oder im Feuilleton. Was nicht alles entschuldigt, einiges sehr wohl.

„Zwölftausend“ thematisiert den deutschen Soldatenhandel. Ein nicht näher verorteter Herzog will just zwölftausend Rekruten zu fünfzig Talern das Stück, also der Mann, ans Königreich England verscherbeln, das diese wiederum in den Krieg gegen die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung schicken will. Für diesen Herzog ist es bereits die zweite Tranche, der Autor Bruno Frank lässt seine Leser und die Theaterbesucher einen ziemlich profanen Schacher miterleben, es wird gefeilscht wie auf dem Jahrmarkt. Wirksam wird solch ein Stoff in äußerster Verknappung, wenn ein Friedrich Schiller ihn zu einer einzigen Szene verdichtet, der berühmten Kammerdiener-Szene nämlich, die den heutigen Theatern zur beliebtesten Streichmasse in „Kabale und Liebe“ geworden ist. Ist solch ein Stoff hundertfünfzig Jahre später automatisch und selbstverständlich wirkungslos, wenn er drei ganze Akte lang ein Bühnengeschehen bestimmt? Man kann sich an Erich Kästner halten. Dazu aber passt gar nicht eine Information, die in der einzigen Theaterkritik zu finden ist, die mir zu „Zwölftausend“ jetzt zugänglich war, geschrieben hat sie Walther Victor, als er noch ständiger Theatergänger in Zwickau war. Demnach hatten 1928 200 (in Worten: zweihundert) deutsche Bühnen das Stück von Bruno Frank angenommen. War das der Lohn für Vorgestrigkeit?

Für den SONNTAG zitierte ich 1987 aus Thomas Manns wohlwollender, vor allem gegen Bernhard von Brentano gerichteter Besprechung der „Politischen Novelle“: „Er nennt es eine deutsche Besonderheit, dass hier der Erfolg infamiere.“ Wie wahr, und dagegen spricht keinesfalls, dass Thomas Mann und Bruno Frank eng befreundet waren, dass Frank den zwölf Jahre älteren Mann zu seinen Hausgöttern zählte. Wenn schon, könnte man den Gedanken fortsetzen, fremder Erfolg nicht zu verhindern ist, muss man ihn sich selbst klein denken, klein reden, klein schreiben. Das geschieht am radikalsten durch Ignoranz, durch Verschweigen. Schlimmer als der schlimmste Verriss, das wusste der große Verreißer Marcel Reich-Ranicki, der auch ein großer Lober war, was gern übersehen wird (auch er war ja ein Erfolgreicher, nur eben schlecht zu Ignorierender), schlimmer ist die schlichte Missachtung. Alles Verschweigen des Namens Bruno Frank ist, nur wenig verkürzt gesagt, das „Infamieren“ des Erfolges.

In „Zwölftausend“ gibt es einen Geheimen Sekretär namens Piderit, die Hauptfigur, die man am Ende durchaus als Helden im sehr direkten Sinne bezeichnen darf. Piderit hat einen älteren und einen jüngeren Bruder, beide fallen der Werbung für England anheim, beide werden vom Bruder vertröstet und hingehalten, beide sind wütend auf ihn, als sie sich verraten fühlen und beide folgen ihm am Ende, als sie wissen, was wirklich geschehen ist. Sie folgen ihm nach Amerika. Da aber sind wir noch nicht. Es gibt im Stück neben dem Herzog mit der begrenzten Machtvollkommenheit dessen Minister, dessen Mätresse, eine Gräfin Spangenberg. Es hilft, auf Schiller zu kommen, sich dessen Konstellation in „Kabale und Liebe“ vor Augen zu führen, um den Personen Bruno Franks auf den Grund zu blicken. Da darf man sich der Lady Milford erinnern, die, vom Kammerdiener sensibilisiert, dem vergeblich geliebten Major ihr Leben vorstellt, das dem Schein widerspricht. Bei Bruno Frank macht der englische Verhandlungsführer Faucitt dieses Kompliment: „Madame, es ist unbegreiflich, daß Sie keine Engländerin sind.“

Faucitt, der auch sagt: „Oberst, Sie sagen: Englisch sein heißt vollkommen sein. Dafür heißt deutsch sein unverständlich sein. Ich könnte zehn Jahre in diesem Lande herumreisen und würde nicht einmal seine Verfassung begreifen.“, kann seine Verachtung für die deutsche Kleinstaaterei kaum verbergen. Und doch, bei aller Klugheit, setzt er auf so etwas wie die Solidarität der Throne und holt sich dafür vom Abgesandten des preußischen Königs Friedrich II., einem Obersten mit geheimer Vollmacht, wie sich am Ende des dritten Aktes zeigt, eine fast höhnische Abfuhr. Es komme, kolportiert der Oberst eine Meinung seines Herrschers in Potsdam, immer darauf an, wer auf dem Thron sitzt. Hier wäre ein Exkurs über Bruno Frank und sein sehr besonderes Verhältnis zum Alten Fritz einzuflechten, der aus Platzgründen unterbleiben muss. Lediglich eine Meinung von Carl von Ossietzky sei angeführt: „Durch die Friedrichbücher ist der Schriftsteller Bruno Frank, nehmt alles nur in allem, eine öffentliche Macht geworden.“ (Weltbühne vom 6. März 1928)

Auch Ossietzky sah Bruno Frank, vor allem seine „Politische Novelle“, sehr kritisch, fast brutal kritisch: „Noch ein paar solcher Bücher, und wir werden den nächsten Krieg nicht eher spüren, als bis die Flieger über den Dächern surren.“ Verblüffend bis heute, dass ein so hellsichtiger Kopf sich so hemmungslos irren konnte, die Wirkung von Büchern betreffend. Aber er musste sich wohl so irren, sonst hätte er manchen aussichtslosen Kampf nicht so ausdauernd gefochten. „Der Kinofriedrich, der Friedrich der Geschichtslüge und der Schulbücher und der sentimentale König des Bruno Frank – in den „Zwölftausend“ streifen sie sich schon. Wann werden sie identisch sein?“ Der Autor Frank brauchte eine Kontrastfigur. Und tatsächlich lässt ein Blick in die reale Geschichte des Soldatenhandels in Deutschland unschwer erkennen, dass nur eine überschaubare Zahl von Kleinstaaten das Geschäft betrieb, an der Spitze Hessen-Kassel, gefolgt von Nassau, Waldeck, Ansbach-Bayreuth, Braunschweig und Anhalt-Zerbst. Rund 30.000 Soldaten kaufte England aus diesen deutschen Staaten für den Amerikakrieg, 16.000 waren die erste Tranche bei Bruno Frank noch vor Einsetzen der Handlung, die 12.000 des Dramas hätten in der realen Geschichte für die anderen Menschenhändler nur noch Restposten offen gelassen.

Auf der Bühne aber sollte die Realgeschichte nicht den ersten oder gar einzigen Maßstab bilden, an dem das Geschehen zu messen wäre. Auf der Bühne geht es, natürlich nicht allein, um besondere Charaktere. Je facettenreicher sie sind, um so eher ist ein spannender Plot zu gestalten, eine Fabel mit Widersprüchen, plötzlichen Wendungen, überraschenden Einblicken. Piderit, der Geheime Sekretär, ein Aufsteiger aus dem Volk, die Brüder sind immer noch Bauern, hat sich scheinbar vollkommen von seiner Herkunft gelöst, er verleugnet sie, er vertritt die Weltsicht des Fürsten. Damit verunsichert er die Brüder, provoziert sie, damit täuscht er aber auch die Gräfin so sehr, dass sie auf dem Höhepunkt des Getäuschtseins verlangt, ihn nie wieder zu sehen. Dass er ein gefährliches Spiel spielt, dass er Mittel für einen edlen Zweck einsetzt, die ihn verächtlich machen, das nun erinnert nicht an „Kabale und Liebe“, wohl aber an den berühmten Marquis Posa im „Don Carlos“. Als Piderit das Angebot des preußischen Obersten ablehnt, in die Dienste des Königs zu treten, sagt er das mit verräterischen Worten: „Ich kann nicht mehr dienen.“

Bruno Frank leistet sich in „Zwölftausend“ einen Fehler, der ihm als Erfolgsautor sicher doppelt angerechnet wird: Er lässt alles gut ausgehen. Piderit, der unter der Vorspiegelung, einen französischen Hoffriseur aus der preußischen Hauptstadt abzuwerben, der allein an Jahresgehalt die Hälfte jener Summe verbrauchen würde, die dieser aktuelle Soldatenhandel einbringt, wenn er gelingt, verrät den Soldatenhandel an Friedrich II. Und das im sicheren Wissen, jener werde das Geschäft nicht zustande kommen lassen. Aus Sicht des Herzogs ist das purer Hochverrat, nur mit der Todesstrafe zu ahnden, und tatsächlich droht der Herzog seinem geheimen Sekretär sogar den Tod durch Rädern an, malt ihm die Grausigkeit dieses Todes sogar noch aus. Nun hat aber nicht nur der preußische Oberst die schriftliche Order, den Verräter nach Preußen zu holen, die Rekruten verweigern auch den Abmarsch. Es ist also offene Rebellion, der Herzog will schießen lassen. Jetzt macht die Gräfin ihren Einfluss geltend, jetzt siegt im Minister die nackte Existenzangst und führt ihn an die Seite der Gräfin: der Herzog macht alles rückgängig, entlässt die Soldaten.

Bruno Frank hat in seinem Stück einen Herzog, den es bei Schiller nicht als Bühnenfigur gibt, er kann so im Detail vorführen, dass nicht nur der Menschenhandel als solcher, sondern auch fast alle Begleiterscheinungen eine widerliche Sache sind. Man erfährt vor allem von der mangelhaften Ausrüstung, es gibt weder genügend Stiefel noch halbwegs moderne Gewehre. Vor allem aber will der Herzog, um sich von Kriegsheimkehrern nicht die Stimmung im Volke verderben zu lassen, Heimkehrern die Heimkehr verweigern. Die Brüder Piderit aber werden nach Amerika gehen, sie werden als freie Bauern siedeln, auf ihre Kräfte vertrauen. „Wer sich auflehnt gegen Gewalt und Menschenverletzung, der übt ein Recht.“, sagt der Sekretär. Und die Gräfin: „Es muß doch sonderbar mit uns stehen, wenn diese Fremden genötigt sind, unsere Würde wahrzunehmen.“ Sie meint die Engländer, die sich gegen des Herzogs Ansinnen mit den Heimkehrern verwahren.

In der Wochenendausgabe der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 19./20. Juni 1965 schrieb Ludwig Marcuse aus Anlass des zwanzigsten Todestages von Bruno Frank: „Als Schriftsteller war er im neunzehnten Jahrhundert zu Hause, er verließ sein Haus nicht. … Bruno Frank überlebte, wie mir scheint, besser als mancher Berühmtere jener Epoche, weil er weniger ihr Exponent gewesen ist. Vielleicht, weil er nichts von einem Neutöner hatte, tönt er heute nicht so veraltet.“ Gern würde ich sagen: Glaubt doch Ludwig Marcuse! Den aber kennt ja auch niemand mehr. Er beendete seinen Gedenkartikel seinerzeit so: „Was aber die Menschen angeht, die Bücher geschrieben haben, so verschwinden sie alle nach dem gleichen Gesetz: sie sterben mit den letzten Freunden, die sie in sich am Leben halten.“ Für Klaus Mann, den Sohn Thomas Manns, war Bruno Frank ein Schriftsteller, „der immer einen tapferen Pessimismus vereinigt hat mit einer warmen und hellen Sympathie für alles bedrohte, bedrängte, komische und heiße Leben.“ Tapferer Pessimismus scheint mir eine ziemlich anständige Sache zu sein.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround