Karl Mickel: Celestina
Die DDR war, neben vielem, was sie war, auch ein Land der seltsamen Zeitverschiebungen. Helene Weigel, Gattin Brechts, Intendantin des Berliner Ensembles, äußerte gesprächsweise den Wunsch, es möge ihr eine tragende Rolle auf den Leib geschrieben werden, „eine große Rolle, welche ihrem Kräftehaushalt Rechnung trüge.“ Sie war von Krankheit gezeichnet, der junge Dramaturg, der 1970 von der Hochschule für Ökonomie an ihr Theater am Schiffbauerdamm gewechselt war und den Wunsch vernahm, hieß Karl Mickel. Helene Weigel starb am 6. Mai 1971, sechs Tage vor ihrem 71. Geburtstag. Karl Mickel hat ihr posthum den Wunsch erfüllt. Am Ende seines Fünfakters „Celestina“ steht die Zeitangabe Januar/Juli 1972. Das Stück trägt den kompletten Titel „Celestina oder Die Tragikomödie von Calisto und Melibea. Nach dem spanischen Dialogroman“. Die große tragende Rolle ist die der Titelfigur Celestina, sie ist eine spezielle Wiedergängerin der Mutter Courage und wurde nach der Uraufführung auch sofort so gesehen. Die Uraufführung war am 31. Dezember 1974. Heinz Jürgen Staszak (Rostock) lag also gar nicht so weit daneben, als er für seinen Beitrag zu Karl Mickel in „Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen. Band 3“ das Uraufführungsjahr 1975 angab.
Kritiken dieser Premiere gab es in der „Weltbühne“ (Günther Cwojdrak), in „Der Morgen“ (Christoph Funke), in „Neues Deutschland“ (Rainer Kerndl), in „Theater der Zeit“ (Knut Lennartz), in der „Berliner Zeitung“ (Ernst Schumacher) und im „Sonntag“ (Erika Stephan). Am längsten brauchte „Theater der Zeit“ (April-Heft), am schnellsten war „Neues Deutschland“. Der Stücktext aber erschien erst volle fünf Jahre später in „Neue Deutsche Literatur“ (NDL 1/1980) und zwar kombiniert mit einem über die Maßen eigenartigen Autorengespräch, das Rudolf Heukenkamp unter den Titel „Aufklären heißt umstülpen“ stellte. Mit Ursula Heukenkamp verfasste er später den Band 29 der Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“, Karl Mickel gewidmet. In Buchform erschien die „Celestina“ erst in dem Reclam-Band RUB 1193 „Karl Mickel: Volks Entscheid 7 Stücke“, dessen kurze Vorbemerkung vom 5. Mai 1985 (!!) den Hinweis auf Helene Weigel liefert. Gespielt hat die tragende Rolle der Celestina schließlich die Österreicherin Erika Pelikowsky (18. Januar 1916 bis 13. März 1990), die beiden anderen Titelrollen fielen an Jaecki Schwarz und Jutta Hoffmann. Alle drei hatten Erfahrungen miteinander, Jaecki Schwarz und Jutta Hoffmann sogar in gemeinsamen Nackt-Szenen in Egon Günthers „Die Schlüssel“. Auf der Bühne ging es 1974/1975 noch züchtiger zu. In der DDR.
Dabei hätte das durchaus auch anders sein können. Die fünfte Szene des fünften Aktes schreibt allein viermal auf zwei Druckseiten „Beischlaf“ vor, man kennt derart prägnante Handlungs-Anweisungen aus zeitgleichen Skandalstücken des Bayern Franz Xaver Kroetz, bei dem allerdings dann Eva Mattes etwa als Beppi im „Stallerhof“ auch wirklich alle Hüllen fallen ließ. Im Berliner Ensemble gab es den Beischlaf als Roll-Nummer auf dem Bühnenboden. „Wenn die beiden Liebenden im Klostergarten sich umarmen und vereinigen können, wickeln sie sich schließlich in eine große scheckige Plane und rollen in ihr über die Bühne, eingehüllt in sich und die Natur.“ (Ernst Schumacher). Mir ist weder diese noch eine andere Szene derart einprägsam gewesen, dass ich sie vierzig Jahre, nachdem ich sie sah, noch reproduzieren könnte. Nur die „Melibea“-Rufe des Anfang klingen mir noch in den Ohren, seltsam genug. Als Karl Mickel am 20. Juni 2000 starb, hielt der SPIEGEL fest, er „war nie besonders prominent, in der DDR ging er als Sonderling durch.“ Es gab, das stimmt, von ihm nie auffällige Dissidenz-Akte zu vermelden, er bekam 1978 den Heinrich-Heine-Preis und 1983 den Nationalpreis.
1980 im genannten Gespräch mit Rudolf Heukenkamp bekannte er gar: „Ich bin ein Prolet aus Sachsen und nun seit über 25 Jahren Parteimitglied.“ Obwohl es 1980 mehrere Parteien in der DDR gab, bedurfte es wie selbstverständlicher keiner Erläuterung, welche Partei gemeint war. Gegen Karl Mickel sagt das selbstverständlich nichts. Man konnte sich, das aber belegt es, gegen Einvernahmen auch wehren, indem man ein bestimmtes Einvernommensein bekannte. Nicht lange nach dem berüchtigten Ausschluss einer Reihe prominenter DDR-Autoren aus dem Berliner Schriftstellerverband, nicht viel länger auch nach der Ausbürgerung Biermanns aus der DDR war das zweifellos ein bewusst gewähltes Risiko, auch missverstanden zu werden. Dass Stück „Celestina“ ist auf alle Fälle, nimmt man Mickels eigene Aussagen dazu, missverstanden worden. Und ich will aus heutiger Sicht nicht einmal ausschließen, dass manches veröffentlichte Missverständnis die eigentliche Botschaft hatte an die Zensoren und Literatur-Scharfrichter des Landes: Entwarnung, hier ist alles im grünen Bereich. Oder soll man dem Weltbühnen-Autor Günther Cwojdrak ernsthaft abnehmen: „Das ist ganz blank gemünzt auf imperialistischen Gesellschaftsverfall und Geschäftspraktiken ganz gegenwärtig gemeint.“ Man müsste den Mann bedauern.
Eigenem Bekenntnis zufolge hat sich Mickel für die spanische Stagnation im 16. Jahrhundert interessiert. Das Stück fußt auf einer keineswegs eindeutigen Überlieferung. Auch wenn es mit Fernando de Rojas in Verbindung gebracht wird (1475/76 bis 1541), steht im dicken Kindler (Hauptwerke der spanischen und portugiesischen Literatur) das wichtige Wort „vermutlich“. Was Karl Mickel wie im Detail übernommen oder verändert hat, ist von keinem breiteren Interesse, es gibt bis heute wohl eine Reihe Übersetzungen ins Deutsche, die erste schon aus dem Jahr 1520, aber eine irgendwie befriedigende deutsche Ausgabe des Dichters de Rojas gibt es offenbar nicht. Festzuhalten aus dem Kindler ist immerhin: „In dieser zentralen Rolle realistisch gestalteter Angehöriger aus dem Dienerstand liegt die revolutionäre Neuheit der Celestina“. Und genau das interessierte Mickel nicht. Obwohl dies eine typische DDR-Deutung natürlich hätte beflügeln müssen. In der Auseinandersetzung mit jener Stagnation dagegen sagte Mickel Rudolf Heukenkamp einen ziemlich verblüffenden Satz: „Insofern ist die spanische Stagnation ein wesentlicher Ansatzpunkt für eine heute sehr notwendige nichtabstrakte Geschichtsphilosophie.“ Mickel sagte, man kann meinen: tunlichst, nicht, wem und wo eine solche im DDR-Sprachgebrauch nicht vorgesehene Geschichtsphilosophie notwendig wäre.
Um ganz sicher zu gehen, fragte Heukenkamp den Dichter Mickel: „Das Spanien des 16. Jahrhunderts interessierte sie nicht als Vorwand, als Fiktion, über uns etwas zu sagen?“ Und Mickel antwortete fast brachial: „Solche Verfahren halte ich für unredlich. Wer den Esel prügeln will, soll den Esel prügeln.“ Das enthält sowohl eine nicht unbeträchtliche Kritik an gar nicht so schmalen Teilen der DDR-Literatur, die als kritische wahrgenommen wurde als auch eine gewisse Demagogie, als wäre das Prügeln von Eseln in der DDR je möglich gewesen, es sei, die Prügel teilte die Partei aus, deren Mitglied Mickel war und die Geprügelten waren beispielsweise Schriftsteller, denen das Stigma des Geschichtspessimismus angeklebt wurde oder ähnliches. Noch Mickel selbst wurde gegen den Vorwurf geschichtspessimistischer Tendenzen verteidigt, was ja mindestens das anzeigt: ein Urteilsspruch soll unbedingt von ihm abgewendet werden. Provokant auch dieser Selbstkommentar Mickels: „... das Stück zeigt die mildeste Inquisition, die je herrschte; sie ist weise, wie die Inquisition gelegentlich sogar war.“ Das hat fast einen Heiner-Müller-Ton.Und das fünfaktige Stück selbst? Enthält mindestens ein paar Sätze, die die gesamte Lektüre Wort für Wort lohnen, auch die Vorlage war ursprünglich ein Lesedrama.
Der mit klarem Abstand schönste Satz kommt aus dem Munde des 17 Jahre alten Calisto: „Ich bin kein Christ, ich bin Melibeer.“ Prägnanter gibt es eine wild-verrückte Liebeserklärung selbst bei Shakespeare in den Komödien nicht. Platz 2 räume ich unverzüglich der Frage ein, ebenfalls aus dem Munde Calistos: „Hielt sich Gott die Nase zu im Chaos?“ Und Melibea, die diesen Calisto zum Melibeer machte, sie sagt: „Wäre es doch den Weibern gestattet, die Männer aufzufordern, die Welt wäre bewohnbar, wenn die Männer nicht Weiber würden.“ Die ganze 14 Jahre alte Melibea (laut Personenverzeichnis) ist geradezu frappierend klug und am Ende, wenn sie vom Turm des Minaretts in den Tod springt, auch noch ebenso frappierend konsequent. Dass es schließlich doch nicht nur die spanische Stagnation des 16. Jahrhunderts war, die Karl Mickel interessierte, belegt wiederum eine Aussage Calistos: „Gott würfelt. Gott ist tot. Kein höhres Wesen / Ist, als der Mensch.“ Erst eine Umkehr eines der berühmtesten Sätze, die Albert Einstein zugeschrieben werden. Dann der berühmteste Satz von Friedrich Nietzsche. Das vermeintlich klare Bekenntnis zum Humanismus ist hier unvollständig zitiert. Es folgt bei Mickel noch: „Und das sieht so aus.“ Die Auslassung dieser fünf Wörter bei einigen Kritikern könnte ebenfalls schützend gemeint gewesen sein.
Über fünf kurze Akte hin liefert Karl Mickel seinem Publikum eine durchaus opulente Geschichte. Liebe, Intrige, Hexerei, Sex, Mord und Selbstmord, saudumme Zufälle. Den Darstellern war der Raum gegeben, der Blässe des Gedankens keine Sekunde zu opfern. Die Kritik sah das seinerzeit ihrem Berufe gemäß nicht einheitlich. Cwojdrak missfielen die beiden Liebenden Schwarz und Hoffmann, die Darsteller der Diener Sempronio (Michael Gerber) und Parmeno (Hans-Joachim Frank) kamen besser weg. Ernst Schumacher nannte noch den Flagellanten (Carl Heinz Choynski) namentlich, der eigentlich nur von der Bühne geschubst wurde, als ihm die Kette entrissen war, mit der er sich peitschte, die Namensnennung aber war dann auch für alle schon alles, was der Brechtianer Schumacher, über Jahre der quasi letztinstanzliche Kritiker des Berliner Theatergeschehens, zu Papier brachte. Fransziska Troegner, noch ganz neu am BE, war ein „Weib“, Werner Dissel, der Inquisitor, hatte dagegen schon 15 BE-Jahre hinter sich zu dieser Zeit. Lese ich heute das 22 Namen umfassende Personenverzeichnis, keine einzige Mehrfachbesetzung, dann weiß ich, diese Theaterzeiten sind vergangen und wohl auch vergessen.
Der Dresdner Volker Braun meinte vom Dresdner Karl Mickel, als dieser gestorben war: „Im 22., sage ich voraus, wird er populär sein.“ Braun meinte das 22. Jahrhundert. Keiner von uns wird ihn angelegentlich beim Wort nehmen können. Rainer Kirsch bei gleicher Gelegenheit: „Die Deutschen haben einen großen Dichter verloren. Weiß der Himmel, ob sie verdienen, dass sie es merken. Aber zu wünschen wäre es ja.“ Die Dichter im Volk der Dichter und Denker überschätzen im eigenen wohlverstandenen und doch immer ein wenig lächerlichen Sinne ihr Volk ohne Dichter und Denker. Der Feuilletonist Eckart Krumbholz (Jahrgang 1937 und somit zwei Jahre jünger als Mickel) hat, gedruckt drei Tage nach dem Mauerfall im „Sonntag“, ein wildes Sammelsurium an Lebensfakten Mickels öffentlich gemacht. Wer es nicht wusste, erfuhr neu, dass der Dichter Franz in Irmtraud Morgners „Hochzeit in Konstantinopel“ viel Ähnlichkeit mit Mickel hatte. Wenig später hat Krumbholz, immer noch im „Sonntag“, Mickel zum 55. Geburtstag gratuliert, spätere runde Geburtstage fielen mit schönster Regelmäßigkeit an Stefan Amzoll. Ich ziehe mich deshalb an dieser Stelle zurück. Denn bei Licht betrachtet bin ich keinesfalls ein Mickeleer.