Jack London: Abenteuer eines Tramps

In seiner 1938 zuerst veröffentlichten Jack-London-Biographie „Zur See und im Sattel“ (Sailor on Horseback) schrieb Irving Stone (14. Juli 1903 – 26. August 1989): „Das dreiundsiebzig Seiten umfassende Tagebuch über die Schienenstraße offenbart ihn bei aller äußern Rauheit, bei aller Ruchlosigkeit seiner Streiche und trotz seines Umgangs mit Hals- und Beutelabschneidern als einen wohlerzogenen und vornehm denkenden jungen Mann.“ Der vornehm denkende junge Mann war am 12. Januar 1894 18 Jahre alt geworden, in vielen Bundesstaaten der USA war und ist man damit volljährig, in etlichen auch nicht, und Alkohol darf man trotz Volljährigkeit erst mit 21 kaufen und trinken. Jack London hatte einen für dieses Alter geradezu rasanten Lebenslauf schon hinter sich und nun ergab sich plötzlich eine ganz unerwartete Perspektive. Er konnte sich einer Bewegung anschließen, die mit einem Marsch auf Washington den politischen Forderungen eines Mannes Nachdruck verleihen wollte, der auf diese Weise glaubte, der Massenarbeitslosigkeit in den Staaten Herr werden zu können. Doch Jacob Sechler Coxey, eben dieser Mann, wird in Washington wegen Betretens des Rasens vor dem Weißen Haus verhaftet und vor Gericht gestellt. Jack London gehörte einer sich verspätenden und dann zerfallenden „Marschsäule“ des Unternehmens, bekannt als „General Kellys Armee“, an. Mit ihr beginnen seine Abenteuer eines Tramps.

Im siebenten der neun Kapitel des Erlebnisbuches „The Road“ (1907), das in deutscher Übersetzung nach Erwin Magnus fast immer „Abenteuer des Schienenstrangs“ hieß, nur in der hier genutzten Übersetzung von Irmhild Brandstädter „Abenteuer eines Tramps“, heißt es: „In Zeitungen, Zeitschriften und biographischen Nachschlagewerken stoße ich immer auf Abrisse meines Lebens, in denen es in eleganten Wendungen heißt, dass ich Landstreicher wurde, um soziologische Studien zu betreiben. Diese Darstellung der Biographen ist gewiss nett und rücksichtsvoll, nur ist sie leider ungenau. Ich wurde Landstreicher einfach aus meiner überschäumenden Lebenskraft heraus, wegen der Wanderlust in meinem Blute, die mir keine Ruhe ließ.“ Der Titel „Abenteuer eines Tramps“ trifft übrigens die erzählte Sache besser, zumal der Autor im Titel gar keine, dafür im Text um so mehr Abenteuer hat. Zweierlei ist gesagt: Der Tramp von einst ist inzwischen jemand, über den geschrieben wird und der sogar schon in Nachschlagewerken vorkommt. Das ist wichtig. Denn das Tagebuch, von dem die Rede war, jene 73 Seiten sind neben den gebliebenen und reflektierten Erinnerungen lediglich die Quelle dessen, was Jack London Ende 1906 zu einem Buch-Manuskript machte, zu „The Road“.

Zwölf Jahre liegen demnach zwischen dem Erleben und dem Beschreiben des Erlebens, angesichts des nur vierzig Jahre währenden Lebens des Autors eine enorme Spanne. Man erschrickt heute an Stellen des Buches, über die man noch vor gar nicht langer Zeit hinweg gelesen hätte: „Des Moines war gastfreundlich. Aber das ging nun doch zu weit. Mach dir die Mühe, die Sache einmal nachzurechnen, lieber Leser. Zweitausend Landstreicher, drei vollständige Mahlzeiten jeder, das macht sechstausend Mahlzeiten pro Tag, zweiundvierzigtausend Mahlzeiten pro Woche...“. Man setze statt Landstreicher Flüchtlinge und ereifere sich danach neu über Bürgermeister, die von Überforderung reden. Doch auch dies steht bei London: „Die wirklich Armen sind für den hungrigen Tramp die letzte sichere Zuflucht. … Oh ihr, die ihr immer von Nächstenliebe schwafelt! Geht hin zu den Armen und lernt von ihnen, denn nur die Armen wissen, was Nächstenliebe ist.“ Runde acht Monate des Jahres 1894 war Jack London unterwegs als Tramp, keineswegs nur auf Schienen, sondern auch zu Fuß und zu Wasser. Eine Grunderfahrung: „Der Tramp weiß nie, was im nächsten Augenblick geschieht; folglich lebt er nur dem Augenblick. Er kennt die Sinnlosigkeit zielgerichteten Strebens, aber auch die Lust, sich von den Launen des Zufalls treiben zu lassen.“ Eine Grunderfahrung des gelernten DDR-Lesers: Zu Klassenbewusstsein führt das eher nicht.

Das ist nicht vollkommen unsinnig gesagt, denn in der DDR wurde, wenn es irgend ging, Jack London gern als Sozialist etikettiert, gar, wenn auch nur in den frühen Jahren, als proletarischer Autor, und die Tramp-Erfahrungen von 1894 hatten als Initiation diesbezüglichen Denkens herzuhalten. Doch lassen sich solche und ähnliche Thesen weder anhand des Buches noch anhand begleitender Essays solide belegen. Es ist sogar schon übertrieben, Londons Weltanschauung eklektizistisch zu nennen, falls man darunter das Vermischen unvereinbarer Theorien und Theoriebestandteile verstehen mag. Es sagt vielleicht mehr als jede Erörterung dieser Nach- und Vorwort-Thesen, dass die DDR nie eine Sammlung von „sozialistischen“ Reden, Vorträgen oder Essays von Jack London veröffentlicht hat (auch außerhalb der DDR war das Verleger-Interesse daran, freilich aus rein wirtschaftlichen Gründen, das verkauft sich eben nicht, gleich Null), obwohl Titel wie „Revolution“ oder „War of Classes“ doch scheinbar dazu überaus herzlich einluden. Nein, Jack London war kein Theoretiker, nahm Theorie nur punktuell auf und zwar so, wie es für Schriftsteller gar nicht ungewöhnlich ist: Er verleibte sich ein, was seinen ohnehin vorhandenen Überzeugungen und Erfahrungen am ehesten entsprach. Rückblickend auf die DDR-London-Rezeption verwundert allenfalls, dass trotz später vernichtender Dossiers zu seiner Weltanschauung auch ihr entsprechende Bücher freundlich und auflagenstark veröffentlicht wurden.

„Abenteuer eines Tramps“ aber ist vor allem eine frisch und munter erzählte, bisweilen sogar mit zarter Selbstironie gewürzte Geschichte, die sich weitestgehend tatsächlich so zugetragen hat. Ihr Held ist tatsächlich Jack London, nach seinem frühen Tod sind nicht wenige Leute mit der Behauptung an die Öffentlichkeit getreten, ihm während dieser Zeit da und dort begegnet zu sein, ein anonym erschienenes Buch behauptete sogar eine längere gemeinsame Zeit und scheint nicht gelogen zu haben. (Allerdings stellt dieses Buch, Verfasser ist ein Leon Ray Livingston, den Kanada-Teil des Tramp-Lebens vor der Rückkehr per Schiff in Frage, indem es eine andere Rückkehr-Route beschreibt.) Dass Jack London zwölf Jahre nach seinen Abenteuern vielleicht bestimmte Reihenfolgen absichtlich änderte oder schlicht nicht mehr parat hatte, betrifft die Substanz des Buches ja nicht. Die beispielsweise darin besteht, dass Frauen darin so gut wie keine Rolle spielen. Sie lassen sich allenfalls besonders leicht anbetteln und sind leichtgläubig gegenüber den Geschichten, die ihnen aufgetischt werden. Gleich der erste Satz des Buches scheint etwas wie schlechtes Gewissen zu belegen: „Im Staat Nevada lebt eine Frau, die ich einmal belogen habe, ohne mit der Wimper zu zucken, hartnäckig und schamlos, und das mehrere Stunden lang.“ Der Rest aber zeigt eher Stolz auf wirkungsvolle, also gelungene freie Erfindungen.

„Oft habe ich den Eindruck, dass mein Erfolg als Schriftsteller zum guten Teil auf das Training während meiner Vagabundenzeit zurückzuführen ist. Um etwas zu essen zu bekommen und mich am Leben zu erhalten, war ich gezwungen, Geschichten zu erzählen, die glaubhaft klangen.“ Und: „Ich glaube weiterhin, dass meine Landstreicherlehrzeit es war, die einen Realisten aus mir gemacht hat. Realismus stellt die einzige Ware dar, die man an der Küchentür für etwas Essbares zu bieten hat.“ Realismus als Ware ist dann sogar ein theorierelevanter Gedanke mitten im spannenden Erzählfluss. Provokant liest sich: „Überhaupt, Kunst ist nur vollendete Kunstfertigkeit, und Kunstfertigkeit rettet so manche Geschichte.“ Jack London stellt sich mit solcher Überzeugung neben Guy de Maupassant oder W. Somerset Maugham, über die Willy Haas schrieb, ich wiederhole es voller Absicht nach nicht einmal einer Woche: „Und da sie so ungeheuer viel zu erzählen hatten, lag ihnen nicht so sehr viel an formalen Experimenten, nicht so viel wie den hochintellektuellen Experimentatoren der modernen Literatur.“ Meine Folgerung daraus ist im Maugham-Text zu „Lord Mountdrago“ leicht nachzulesen. „Abenteuer eines Tramps“ renommiert, das lässt sich nicht leugnen. Am deutlichsten zweifellos im zweiten Kapitel.

Die dort ausgebreiteten Heldentaten, die bisweilen einfach zu dick aufgetragen erscheinen, haben sichtbar sogar ihren Urheber in leichte Verlegenheit gebracht. Deshalb betont er, dass es sich hier um seine glücklichste Fahrt handelt, er hat demnach die weniger glücklichen einfach ausgeblendet. Denn am Ende will er vor allem ein bestimmtes Bild von sich erzeugt haben, das Bild des jungen Mannes, der es fast allen anderen zeigt. Er selbst ist der Stärkste, der Pfiffigste, der Vorausschauendste, der Lernfähigste und er ist, wenn der Erfolg eintritt, den er sich wünscht, den er anstrebt und eben fast immer erreicht, auch durchaus rücksichtslos. Sein Hang zum Sozialdarwinismus, seine Affinität zu Friedrich Nietzsche und dessen blonder Bestie, die im Buch sogar ausdrücklich erwähnt wird, fußt auf eigener Lebenserfahrung. Was ihm immer wieder auch bescheinigt wurde. Wer seine Ansichten also kritisch sieht oder ganz und gar ausschließlich negativ bewertet, hat immer ein wenig die Praxis als Kriterium der Wahrheit gegen sich. Jack Londons spezielle Praxis bestätigte Jack Londons spezielle Theorie. Bei der Lektüre hat man sich zudem immer sein Alter vor Augen zu halten. Und wagt es kaum, sich vorzustellen, wie es ihm zum Beispiel im Gefängnis von Erie County ergangen wäre mit weniger ausgeprägten Fähigkeiten und auch weniger Glück, das für ihn sicher meistens das Glück des Tüchtigen war.

An dieser Stelle lässt sich eine kurze Bemerkung zur Übersetzung einflechten. Der leider fast vergessene Deutsch-Prager Ernst Weiß (28. August 1882 – 15. Juni 1940, gar nicht in Prag geboren, sondern in Brünn), schrieb in der frühesten seiner Jack-London-Kritiken 1925: „Die Übersetzung von Erwin Magnus ist genau, ist gut gemeint und stört nicht. Einige Stellen leiden freilich an Plumpheit und Undeutlichkeit, die dem Original kaum eigen sind.“ Dafür hat er an bestimmten Stellen den Spürsinn, den Irmhild Brandstädter nicht hatte, als sie County zwar sachgerecht mit „Grafschaft“ übersetzte, aber nicht bedachte, dass es in den USA anders als im Mutterland der Sprache nie Grafschaften gab, Magnus lässt County County sein und trifft es damit klar besser. Ernst Weiß scheute zum Buch insgesamt den Superlativ nicht: „Man kann es nicht anders sagen, das Herz geht dem Leser dieser herrlichen Freiheitskämpfe auf. Es ist das Bezauberndste, was seit Jahren geschrieben worden ist.“ Andere Bewunderer Jack Londons in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren so unterschiedliche Männer wie Friedrich Wolf und Arnold Zweig. 1927 schrieb Friedrich Wolf für die Zeitung „Stuttgarter Neues Tagblatt“: „Seit drei Jahren ist Jack London mein Lieblingsschriftsteller. Von der weißen Magie des „König Alkohol“ bis zum „Abenteuer des Schienenstranges“, ließ ich mir keinen Jack London entgehen.“

Hier wäre anzuknüpfen: Robert Barltrop hat in seiner Jack-London-Biographie auf etwas aufmerksam gemacht, das dem Leser der „Abenteuer eines Tramps“ keineswegs sofort ins Auge springt: „Besonders erwähnt werden sollte, dass diese sieben Monate auf der Straße außer einem gelegentlichen Schluck Alkohol ohne Trinken verliefen. Ende 1894 erreichte er die Heimat ohne jenes Gefühl der Niedergeschlagenheit und Entmutigung, zu dem in früheren Zeiten der Alkohol beigetragen hatte.“ Ein anderes kulinarisches Ereignis hielt er selbst so fest: „Wir aßen Eier aus Eierbechern! Es war das erste Mal, dass ich Eierbecher sah, ich hatte noch nie etwas davon gehört.“ Zwei alte Damen verhelfen ihm dazu, an deren guten Wohnzimmertisch er gebeten wird. Und dann spielen Frauen eben doch noch eine Rolle im Gesichtsfeld des Tramps. In einer der eindrücklichsten Szenen des Buches, drängt ihn, was er aus nächster Nähe mit ansehen muss, zur Erkenntnis, „dass das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen Menschen und Tieren darin besteht, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das die weiblichen Wesen seiner Gattung misshandelt.“ Jack London sieht in einem Zigeunerlager einen Vater Kinder und Frau aufs grausamste peitschen. Er greift nicht ein, weil er weiß, dass sich selbst die misshandelte Frau dann gegen ihn stellen würde. Heute würde ihm eher das Benutzen des falschen Wortes angekreidet als die unterlassene Hilfeleistung.

Hier ist auch eine der wenigen Stellen, wo London bewusst die Perspektive des Jahres 1906 nutzt, sonst nämlich hätte er diesen Vergleich nicht wählen können: „Ich habe in der Schlacht kräftige Männer links und rechts fallen und sich in Todeskrämpfen winden sehen, ich habe erlebt, wie sie zu Dutzenden von explodierenden Granaten in die Luft geschleudert und zerfetzt wurden; ihr könnt mir glauben, das anzusehen kam mir wie ein Witz vor, verglichen damit, was ich beim Anblick des armen Kindes litt.“ 1894 hatte Jack London noch keine einzige Schlacht gesehen und erlebt. Das Kapitel aber lässt er mit einer lustigen Episode ausklingen, deren Humor zu Lasten eines Schwarzen geht, der beim Kartenspiel immer verliert. Im Gefängnis von Erie County verhilft ihm ein Verbrecher zu einer Schlüsselposition und der Leser darf staunen, wie fern jedes Schuldbewusstsein dabei ist: „Wir hatten Schlüsselpositionen der Wirtschaft in unserem Bau inne und wandten ähnliche Schliche und Kniffe an wie die großen Wirtschaftsbosse im Lande. Wir beherrschten die Lebensmittelversorgung der Insassen und genau wie unsere Bruderbanditen draußen schröpften wir das Volk bis zum Weißbluten.“ Er stellt sogar ganz ausdrücklich die Frage: „Und warum sollten Initiative und Unternehmungsgeist nicht belohnt werden?“ Proletarisches oder sozialistisches Gedankengut ist das kaum und auch schwer daraus zu destillieren.

Wer mag, kann in „Abenteuer eines Tramps“ auch ein Handbuch für Nachahmer sehen, in jedem Kapitel sind entsprechende Maximen formuliert, nur hat eben gerade von den USA ausgehend der Schienenstrang radikal an Bedeutung verloren. Die Risiken, die am Ende des 19. Jahrhunderts in großer Not Tausende und aber Tausende in Kauf nahmen, um durch das Riesenland zu kommen, würde heute wohl nicht einmal ein todesmutiger Reporter auf sich nehmen, der Jack Londons Spuren folgen wollte. Was der 18 Jahre alte Jack London ganz zweifellos in seinen Tramp-Monaten 1894 lernte, hat er in dem viel zitierten Aufsatz „Wie ich Sozialist wurde“ so ausgedrückt: „Nie mehr werde ich harte körperliche Arbeit verrichten, und Gott soll mich strafen, wenn ich auch nur einen einzigen Tag länger körperlich schwer arbeite, als ich unbedingt muss.“ Dass auch das Schreiben in dem Pensum, das er sich selbst auferlegte, alles andere als nur geistige Arbeit ist, hat er bald gelernt. Einer Behauptung aber musste er den Beweis schuldig bleiben. Sie lautet: „Wenn ich achtzig bin, auf Krücken die Straßen entlanghumpele und plötzlich einen Polizisten sehe, lasse ich todsicher die Krücken fallen und renne davon wie ein aufgescheuchtes Reh.“ Nicht die Krücken ließ er fallen, sondern gleich sein ganzes Leben und zwar vierzig Jahre früher.


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