Grillparzer: Der arme Spielmann

Es gibt blödere Ideen als die einer Sommerserie im Feuilleton mit dem Titel: Mein Lieblingsbuch. Während selbst die ganz großen Zeitungen sonst jede Idee voneinander klauen, die nur irgend nachnutzbar erscheint, ohne deshalb davon zu lassen, prominente Plagiatoren aus der Politik vorwurfsvoll und moralfest an ihre jeweiligen Pranger zu nageln, ist diese wirklich gute Idee der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG aus dem Jahr 2004 noch nicht kopiert worden, so weit ich sehe. Buch ist, nun ja, medial nicht ganz der Brüller, selbst die LITERARISCHE WELT verdrängt es nach und nach von seinen acht wöchentlichen Seiten aus dem literarischen Leben und kann sich dabei immer noch darauf berufen, mehr zu machen als fast alle anderen Blätter, in denen das Buch, beinahe hätte ich geschrieben: das gute Buch, nur noch nach dem Prinzip der mexikanischen Würfelbude ins Blatt rutscht. Womit nichts gegen Würfelbuden gesagt sei. Also 2004 fand sich auf Seite 35 der F.A.Z. vom 21. August das Lieblingsbuch von Wilfried Wiegand. Wiegand, der am 24. Januar seinen 79. Geburtstag feiert, war zehn Jahre Feuilletonchef dort und beendete seinen Lobgesang auf „Der arme Spielmann“ von Franz Grillparzer mit den Sätzen: „Was für eine Erzählung. Nie komme ich damit zu Ende.“ Der Anfang: „Lieblingsbücher habe ich viele, aber nur dieses überwältigt mich auch nach vielen Jahren noch wie beim ersten Kennenlernen.“

Nicht jeder Grillparzer-Leser wird, liest er diese wundersam-wunderbare Geschichte, die mir am Ende ebenso einen Tränenstrom entlockte wie der Fleischersfrau Barbara auf der letzten Seite, sofort an Balzac denken oder gar gleich präzise an dessen Vetter Pons, wie es Wilfried Wiegand tat. Wer weiß, an wen der gedacht hätte, wenn er nicht jahrelang Kulturkorrespondent in Paris gewesen wäre, sondern sagen wir in Venedig oder Buenos Aires. Immerhin: besser an „Das Mädchen mit den Goldaugen“ zu denken als an, ein zugegeben leicht bösartiges Beispiel, Peter Härtlings „Felix Guttmann“. Der mit Grillparzers Spielmann Jakob so was von nichts zu tun hat, dass es einem leibhaftigen Literaturgeschichtsprofessor ausreichte, in dem nervig selbstreflektierenden Roman geringer Bedeutung die späte Deutung der frühen Biedermeier-Geschichte aus Wien zu erkennen. Hinrich C. Seeba (Jahrgang 1940) hatte vorher auch die krude Idee, von den „Spielmann“-Interpreten dieser Welt ein Moratorium zu fordern, an das er sich später selbst nicht hielt, weil es die anderen auch nicht taten. In der Parallelwelt Literaturgeschichte spielen Dinge der wirklichen Welt nur untergeordnete Nebenrollen. Man ist so vollständig fixiert auf das Erscheinen neuer Sekundärliteratur zu den eigenen Gegenständen, dass man Weltwahrnehmung beim besten Willen nicht auch noch aufgebürdet haben möchte.

Dummerweise bin ich erst 2015 in der Seidengasse 13 gewesen. Dort sitzt das Literaturhaus Wien und es sitzt dort, weil Franz Grillparzer dort saß. Man kann sein Originalbüro besichtigen, in dem er als Direktor des Hofkammerarchivs saß. Man kann Grillparzer reflexhaft bedauern, dass er arbeiten musste und nicht nur dichten durfte. Auch Gottfried Keller war so einer. Der Qualität ihrer Werke hat das nicht geschadet. Vielleicht aber hat es die Nachwelt vor weniger guten Schöpfungen bewahrt. Denn wessen Zeit knapp ist, konzentriert sich im Normalfall auf das, was er schreiben muss und weniger auf das, was er sich aus den Fingern saugen kann, um seinem Verleger bei der nächsten Buchmesse Stoff zu liefern, der sich verkauft. Von der Erzählung „Der arme Spielmann“ wissen wir, dass Grillparzer sie bereits 1831 begann, obwohl sie 1847 erstmals erschien. Es spielt in ihr eine schwere Überschwemmung aus dem Jahr 1830 eine Rolle. Wie Donau-Hochwasser aussieht, weiß ich aus 2002. Der alte Mann, der uns sein völlig ersoffenes Haus von innen zeigte, hatte vielleicht sogar mehr Jahre auf dem Buckel als Spielmann Jakob. Und er überlebte, während der Spielmann starb, weil er sich bei einer Rettungsaktion für Kinder und Hab und Gut seiner Wirtsleute im eiskalten Wasser eine tödliche Erkältung zuzog. Das derart als Einsatz für kommerzielle Werte zu deuten, wie Deuter Seeba es tat, greift kräftig heftig am Text vorbei.

Es gibt einen schön veralteten Satz im „Spielmann“, dem man fortgesetzte Aktualität dringendst wünschen möchte: „Denn es ist in Wien ein stillschweigender Bund zwischen Wagen und Menschen: nicht zu überfahren, selbst im vollen Lauf; und nicht überfahren zu werden, auch ohne alle Aufmerksamkeit.“ Heute wird man ohne alle Aufmerksamkeit vermutlich gnadenlos überfahren, ohne dass die Wiener in ihren Wagen schlechtere Menschen geworden sind seit Grillparzers Zeiten. Da waren eben Pferde vorn an den Wagen und sie hießen auch schon Fiaker, aber nicht alle waren Fiaker. Grillparzer beginnt schwelgerisch mit der Beschreibung eines Ereignisses im Wiener Leben, man würde es jetzt wohl Mega-Event nennen: des Brigittenkirchtages (Kirtages schreiben die Wiener), den es von 1775 bis 1848 alljährlich in der Brigittenau gab und bis zu 80.000 Besucher anlockte. Zwei Tage tobte, wie man heute sagen dürfte, der Bär. Der Hofkammerarchiv-Direktor: „Ein neu Hinzugekommener fände die Zeichen bedenklich. Es ist aber der Aufruhr der Freude, die Losgebundenheit der Lust.“ Am „aber“ dieses Satzes kann man eine halbe Theorie andocken, wenn einem nichts Besseres im Umgang mit Literatur einfällt, man also Professor für Literaturgeschichte ist. Man kann es auch lassen und die Beschreibung genießen, die sich spürbar auch selbst genießt, es blümelt sogar ein wenig. Biedermeier eben.

Der Erzähler, der sich Züge zuschreibt, die den Verdacht erwecken sollen, es sei der Autor selbst, was er wohl auch mit den üblichen Abstrichen ist, gibt sich als Freund des Volkes und seiner Feste zu erkennen. Und er beschreibt den Weg zum Ort des Treibens, zu dem er schließlich dann doch nicht gelangt, weil, ja weil ihm der alte Mann ins Auge fällt. Allein dieser Umstand verdeutlicht, wie viel Anziehungskraft von ihm auf den Erzähler strahlt. Grillparzer spricht über seinen Erzähler von anthropologischem Interesse. Schriftsteller sind, heißt das so profan, dass der gehobene Deuter darüber hinweg liest, Menschenkundler. Ein aus dem Georgischen kommender Hardcore-Diktator hat es einst für den Zitatenschatz „Ingenieure der menschlichen Seele“ genannt, was freilich etwas völlig anderes ist und auch im gut gemeinten Sinne Blödsinn war. Anthropologisches Interesse zu bekunden, ist sehr ehrlich, weil es die Distanz des Wissenschaftlers einschließt, den am Einzelfall das Allgemeine beschäftigt, dessen Aufmerksamkeit aber vom Besonderen geweckt werden muss. Es ist für den Dichter nicht wesentlich anders als für den Zeitungsmenschen: Hund beißt Mann ist langweilig, Mann beißt Hund kommt auf die Titelseite. Hier steht der alte Mann mit drei weiteren Musikanten an einer Stelle, die im Gesamtzusammenhang des Events allenfalls C-Lage genannt werden darf und außerdem benutzt er ein Notenpult, womit er heftig aus dem Rahmen fällt.

Der Mann hat nichts im Hut und wird ausgelacht, wenn er spielt. Er spielt fürchterlich und sagt dann etwas auf Latein. Dem Erzähler fahren buchstäblich alle Antennen aus: Der hat also höhere Schulbildung, bessere Zeiten erlebt, warum steht er dann hier? Der Erzähler folgt ihm, verliert ihn, findet ihn wieder, überprüft, wo er wohnt und dann sitzt er ihm in einem Zimmer gegenüber, das der Spielmann mit zwei weiteren Männern teilt. Am Boden ein Kreidestrich, der Welten teilt: da Ordnung und Sauberkeit, dort Dreck und Unordnung. Der Erzähler will die Geschichte des Mannes hören, der meint, dass es da gar keine Geschichte gäbe. Doch während er erzählt, merkt er: es gibt eine, er hat eine. Er ist Sohn eines berühmten Hofrats, hätte etwas lernen können, wenn man ihm Zeit gegeben hätte. Schließlich landet er als Abschreiber in einer Kanzlei, darf im Haus des Vater wohnen. Auch eine Geige gab es früh in seinem Leben, die er hasste. Die ihm später dennoch seinen bescheidenen Lebensunterhalt einträgt. Der Erzähler lauscht mit der vorgefassten Überzeugung, „man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat. Von dem Wortwechsel weinerhitzter Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer, aber ununterbrochener Faden bis zum Zwist der Göttersöhne, und in der jungen Magd, die, halb wider Willen, dem drängenden Liebhaber seitab vom Gewühl der Tanzenden folgt, liegen als Embryo die Julien, die Didos und die Medeen.“

Es wäre zu klären, was genau Franz Grillparzer meinte, wenn er von den Obskuren schrieb, denn von dunkel und unbekannt bis verdächtig und zweifelhaft reicht das Bedeutungsfeld des Wortes obskur, auf obskur als Gegensatz zu berühmt muss man erst kommen. Deuter Hinrich C. Seeba hat daran kein Problem gesehen, weil er offenbar auf die Literaturfähigkeit der Unberühmten fixiert blieb, die seiner Meinung nach diese nur dann erlangen, wenn ihre Beschreiber sie mythisieren. Da hinter allem offensichtlich eine Realismus-Allergie Seebas steht, der zudem Realismus nur als Naturalismus denken kann, wird der Leser seiner Interpretation mit merkwürdigen Gedankengängen konfrontiert. Muss man tatsächlich auf Umwegen über eine Erzählung aus dem Wien des Jahres 1830 die längst abgearbeitete Theorie des bürgerlichen Trauerspiels paraphrasieren, nur um vor den gestrengen eigenen Augen mit einer neuen Interpretation einer längst vielfach interpretierten, für sich sprechenden Geschichte zu erscheinen? Der Spielmann Jakob erzählt von sich in der uralten Art des Auswählens von Superlativischem: das schönste, das traurigste. Grillparzer fixiert winzige Gesten: der alte Mann verbirgt einen Teller hinter seinem Rücken, von dem er seinem Gast etwas anbieten wollte und hat aber nichts zum Anbieten. Der alte Mann greift nach seiner Uhrtasche, in der sich aber keine Uhr befindet. Das zu sehen ist die große Kunst.

Dann gibt es da noch einen sehr merkwürdigen Satz: „Sie spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian Bach, aber den lieben Gott spielt keiner.“ Dieser arme Spielmann scheint zu glauben, dass sein Spiel, das den Ohren des musikkundigen Hörers ein Grauen sein muss, auf seine spezielle Weise ein Spielen des lieben Gottes ist. Das aber ist weder platte Blasphemie noch Anmaßung, Selbstüberhebung. Das meint nur, Gott stehe als größter aller Komponisten weit über den Größten, die von allen Menschen verehrt werden. Das ist ein naives Gottesbild, wenn man es unbedingt benennen möchte, es ist vor allem aber unendlich poetisch. Wer seinen Gott so sehen kann, weiß sich in seiner Hand. Und plötzlich gewinnt die Aussage der Gärtnersfrau über ihn einen vollkommen neuen, tieferen Sinn: „Ja, unser armer Alter! der musiziert jetzt mit den lieben Engeln, die auch nicht viel besser sein können, als er es war.“ Im wirklichen Leben haben Menschen wie dieser arme Spielmann kaum eine Chance, in der Literatur aber liefern sie den Stoff für die ganz großen Geschichten, ob sie nun Hiob heißen bei Joseph Roth oder hier nur eben einen Vornamen bekommen, Jakob. Der arme Spielmann ist ein Typus, mit dem zitierten Satz seltsam vollständig charakterisiert. Unter den Menschen aber ist er der Schwache, der zu dem Barbara sagt: „Aber ändern müssten Sie sich! Ich hasse die weibischen Männer.“

Denn es gibt auch etwas wie eine Liebesgeschichte im Leben Jakobs. Die mit dem Hören eines Liedes beginnt, das er mit seiner Stimme nicht nachsingen kann, wohl aber vielleicht mit der Geige nachspielen. „Als ich nun mit dem Bogen über die Saiten fuhr, Herr, da war es, als ob Gottes Finger mich angerührt hätte.“ Die verhasste und jahrelang vernachlässigte Geige macht aus ihm einen anderen Menschen. Der Erzähler sieht und erkennt: „Der Alte genoss, indem er spielte.“ Sein Spiel gilt ihm selbst, darüber wird bedeutungslos, wie es anderen erscheint, auf andere wirkt. Ähnliche Phänomene zeigen bestimmte Menschen, die Gedichte schreiben. Der Außenstehende, der Kenner, ist nicht selten sprachlos, wenn ihm voller Vertrauen solche Produkte vor Augen gebracht werden. Seine Maßstäbe verlieren hier und nur hier ihre Gültigkeit, sie werden sogar bedeutungslos. Obwohl die Gedichte ohne jeden Zweifel so grauenhaft schlecht sind wie das Spiel Jakobs, der nur nach Wohlklang und Übelklang scheidet, das eine dehnt und wiederholt, das andere überspringt oder nach Kräften verkürzt. Grillparzers Erzähler ist zweifellos musikkundig und doch versteht er schließlich den Mann an der Geige. Der auch im Leben die Übelklänge ausblendet, wo immer es geht und deshalb regelmäßig der Betrogene ist, der Verlachte, der, dem sein Erbe gestohlen wird.

Der Erzähler erträgt es nicht, als der arme Spielmann ihm am Ende seiner Geschichte wie selbstvergessen das Lied spielt, das er einst auf dem Hof hörte. Das Spiel beleidigt seine Ohren. Er geht und vergisst. Erst mit dem Hochwasser kommt ihm die Erinnerung wieder. Und er wird Zeuge des Trauerzuges, hört vom Eifer sowohl der Gärtnersleute als auch des Fleischermeisterpaares, die Kosten zu tragen. Barbaras Kinder sind fast erwachsen. Man könnte meinen, dass sie in den langen Jahren ihrer Ehe mit dem Fleischer, der schon um sie warb, als sie den Abschreiber aus dem Haus des Hofrates eben kennen lernte, gleichgültig geworden ist dem weibischen Mann gegenüber. Der Erzähler kommt auf die für ihn nur sentimentale Idee, dem Paar die Geige des toten Spielmanns abzukaufen, er will gar eine Summe weiter über deren Wert bieten. Doch Barbara reißt die Geige von der Wand neben dem Spiegel, verbirgt sie in einer Schublade, die sie sofort verschließt. „Mein letzter Blick traf die Frau. Sie hatte sich umgewendet, und die Tränen liefen ihr stromweise über die Backen.“ Hier muss nichts erklärt werden, hier muss nichts interpretiert werden. Julia, Dido und Medea, die zitierten Namen sind nicht an den Haaren herbeigezogen. Es ist übrigens gar nicht auszuschließen, dass Ödon von Horvath, als er die „Geschichten aus dem Wienerwald“ aufschrieb, auch an eine Frau bei Grillparzer dachte, die einen Fleischer nimmt, den sie erst nicht wollte.

Weil Franz Grillparzer seinen Erzähler einen dramatischen Dichter nennt, sei von ihm zitiert: „ dass mir selbst als dramatischem Dichter der rückhaltslose Ausbruch eines überfüllten Schauspielhauses immer zehnmal interessanter, ja belehrender war als das zusammengeklügelte Urteil eines an Leib und Seele verkrüppelten, von dem Blut ausgesogener Autoren spinnenartig aufgeschwollenen literarischen Matadors“. Unter literarischen Matadoren wird diese Passage geflissentlich überlesen, auch wenn sie an Leib und Seele durchaus gesund genannt werden können. Sie leben mit und von dem zusammengeklügelten Urteil. Der Spielmann sagt, als er erzählt hat, wie ihm Barbara gestand, das Lied einfach nach Gehör nachgesungen zu haben: „Ich erstaunte über das natürliche Ingenium, wie denn überhaupt die ungelernten Leute oft die meisten Talente haben.“ Wem es Freude bereitet, dies zu hören, sei verraten, dass Franz Grillparzer beim Einstieg in „Der arme Spielmann“ auf Goethe zurückgreift, dessen Beschreibung eines „Römischen Karnevals“. Grillparzer hat Goethe 1826 in Weimar besucht, das ist eine andere Geschichte. Grillparzer hat sicher auch Goethes Sicht auf Dilettantismus rezipiert. Wenn er seinen Spielmann über den toten Hofrat sagen lässt: „ich hoffe ihn dereinst wiederzufinden, wo wir nach unsern Absichten gerichtet werden und nicht nach unsern Werken.“ - dann deutet es dahin. Der 15. Januar ist Grillparzers Geburtstag, heute der 225.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround