Marie Luise Kaschnitz: Jennifers Träume
Nur vier Geschichten sind in dem Büchlein, das den Untertitel „Unheimliche Geschichten“ trägt. Es beginnt mit „Vogel Rock“ und der Kaschnitz-Freund wird wissen, dass in der Bibliothek Suhrkamp 1969 ein 90-Seiten-Bändchen mit blauem Schutzumschlag erschien als Nummer 231, das ebenfalls den Untertitel „Unheimliche Geschichten“ hatte, nur eben den Titel „Vogel Rock“. Darin waren zwei Texte mehr, die wegen des augenfreundlichen Großdrucks in dieser Ausgabe offenbar keinen Platz mehr finden sollten, sie hießen „Gespenster“ und „Der schwarze See“, beide übrigens auch enthalten in der Sammlung „Lange Schatten“, mit der der Union Verlag Berlin 1968 seinen DDR-Lesern die Erzählerin Marie Luise Kaschnitz vorstellte. Und in „Beschreibung eines Dorfes“ (vgl. hier BÜCHER, BÜCHER vom 2. Dezember 2011). Eine Erzählerin bemerkt einen Vogel in ihrem Zimmer, der sich seltsam verhält, schreit, herumfliegt, aber die durchaus gegebene Möglichkeit, wegzufliegen, nicht nutzt. Er folgt ihr innerhalb der Wohnung, wird scheinbar größer, bleibt auch, als sie fortgeht und alle Fenster und die Balkontür offen stehen lässt. Erst als sie ihn aktiv vertreibt, fliegt er weg und ist schon jenseits des Fensters sofort nicht mehr sichtbar.
Man mag darüber streiten, ob das unheimlich ist, auf alle Fälle nicht im Sinne von Edgar Allan Poe oder Ambrose Bierce. Es ist eine sehr runde Geschichte und ganz unauffällig fixiert sie Urgründe menschlichen Umgangs mit dem Unbekannten, Fremden: „Es hätte mir ohne Zweifel Freude gemacht, ihn einer bestimmten Gattung von Vögeln zuzuordnen, und wahrscheinlich hätte ich mich auch, wenn mir das gelungen wäre, in seiner Gegenwart ruhiger und sicherer gefühlt.“ Das genau gelingt ihr nicht. „Ich muss ihm einen Namen geben, dachte ich und fing an mich zu besinnen. Es fiel mir aber keiner ein und darüber geriet ich in eine furchtbare Aufregung, so als sei mit einem Namen alles gewonnen ...“. Nicht alles, aber viel ist mit einem Namen gewonnen, wissen wir und der „Vogel Rock“ hat seine Heimat in den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, taucht auch bei Marco Polo auf. Im Band 13 „Phlegon bis Rubinstein“ von Meyers Konversations-Lexikon (Leipzig 1889), Seite 876, liest man: „... in den arabischen Märchen ein Vogel von so fabelhafter Größe und Stärke, dass er einen Elefanten durch die Lüfte zu tragen vermag. Er ist das gewöhnliche Vehikel zu den Luftreisen, die in den arabischen Märchen so häufig sind ...“.
Unheimlicher ist die „Schiffsgeschichte“, sie beendet auch jeweils die Kaschnitz-Sammlungen „Ferngespräche“ und „Eisbären“, hier steht sie an zweiter Stelle und erzählt von einem ziemlich merkwürdigen Schiff. Es hat keinen Namen, aber einen Kommissar und es nimmt Don Miguels Schwester Viola auf kurz vor dem Auslaufen, obwohl für Viola ein Platz auf einem ganz anderen Schiff namens „Lutetia“ reserviert ist. Als Don Miguel den Irrtum bemerkt, ist es zu spät und alle normalen Schritte, die er unternimmt, um wenigstens in Kontakt mit seiner Schwester zu kommen, scheitern daran, dass niemand das Schiff kennt. Marie Luise Kaschnitz baut darauf, dass Namen eine Signalwirkung haben, Assoziationen in bestimmte Richtungen auslösen, die jedoch keinesfalls als Fährten zu einem feststehenden Ziel zu gelten haben. Viola beispielsweise ist die berühmte Schiffbrüchige in Shakespeares „Was ihr wollt“, das scheint ein starker Fingerzeig, Lutetia dagegen der antike Name für Paris, Heinrich Heine nannte seine Berichte für die Augsburger Zeitung so. Hier aber fällt Don Miguel ein unfrankierter Brief in die Hände, für den er Strafporto bezahlen muss, er enthält tagebuchartige Aufzeichnungen von Viola.
Auf dem Schiff sieht sie nie den Kapitän, selten Offiziere, nur von der Mannschaft gewinnt sie einen Eindruck. Sie beobachtet, wie die Crew den Sack mit der eingesammelten Post ins Meer entleert, die Uhren anders gehen und sogar gegenläufig, stehen. Die Bordzeitung, die es zunächst gibt, fehlt plötzlich, es scheint auch nicht vorwärts zu gehen auf dem Kurs auf hoher See. Und als Viola sich auf sie Suche nach Erklärungen begibt, belauscht sie hinter einer geschlossenen Tür Stimmen, die den dreiunddreißigsten Gesang aus Dantes „Göttlicher Komödie“ rezitieren. Hier hilft nur Nachblättern. Dieser Gesang beendet den Teil „Paradies“, beginnt mit dem Gebet des Heiligen Bernhard an die Jungfrau. Und beschreibt Dantes Schau des Höchsten. Von da scheint kein Faden zum Geschehen an Bord zu führen, kein roter, kein unsichtbarer, wohl aber einer weiter weg von Kaschnitz zu Goethe. „... das Schiff ist überbelegt und, wie es scheint, von Flüchtlingen, was ich mir, da es zur Zeit bei uns weder Kriege noch Revolutionen gibt, schwer erklären kann.“ Viola beobachtet auch sich selbst mit Erstaunen: „Ich habe keinen Hunger mehr, und soviel ich weiß, wird im Speisesaal auch nicht mehr serviert.“ Don Miguel wird seine Schwester nie wieder sehen.
Ob der Ministerialbeamte Gabler Frau und Kinder wiedersehen wird in seiner Zelle, in der er am Ende glücklich und zufrieden dort weiter machen darf, wo er „draußen“ mit Gewalt gehindert wurde, es zu tun, in Amt und Öffentlichkeit, verrät die dritte Geschichte „Der Spinner“ nicht. Gabler war ein Mann ohne Ehrgeiz, klassischer Fall für die Vorhölle bei Dante, noch einmal an die „Schiffsgeschichte“ anzuknüpfen, bis er in die Abteilung Unfallverhütung im Verkehrsministerium versetzt wird. Dort ist er mit der Statistik konfrontiert, die ihm eben alles andere als nur Statistik wird. Es hilft der Geschichte näher zu treten, wenn man sich die tatsächlichen Zahlen anschaut, die wohl auch die Autorin Marie Luise Kaschnitz zutiefst trafen und betrafen. Die Jahre um 1970 herum waren in Deutschland, Österreich, der Schweiz, um nur drei Länder zu nennen, die Allzeit-Rekordjahre für Verkehrsunfälle mit Todesfolge. Und, das wird von den sinkenden Zahlen in den genannten Ländern leider aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit gedrückt, im Straßenverkehr sterben weltweit noch immer mehr Menschen als durch Krieg, Genozid und Terrorismus. Laut WIKIPEDIA jährlich zwischen 1 und 1,2 Millionen Menschen, es gibt 40 Millionen Verletzte.
Damit hat die Autorin ein Thema aufgegriffen, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung höchste Tagesaktualität aufwies und gerade deshalb Elemente enthält, die ihre Zeitgebundenheit negativ demonstrieren. Denn die Ansatzpunkte, die der Beamte Gabler zunächst sucht und findet, um zu weniger tödlichen Unfällen zu kommen, haben nicht die gewünschten Folgen. Das Abholzen von Straßenbäumen etwa hat die alte Bundesrepublik nach Anschluss der DDR 1990 sogar noch dorthin exportiert, erfolglos wie zu Hause, nur Dokument eines hilflosen Aktivismus, wie wir ihn inzwischen als Markenkern alltäglicher deutscher Politik bestens kennen und wenig lieben. Auch eine höhere Kontrollpflicht für Verschleißteile, wie sie Gabler initiiert, hat in der nichtliterarischen Praxis nur dazu geführt, dass beauftragte Institutionen wie TÜV und die Werkstätten zu einem höheren Umsatzvolumen gelangten. Keine Erwägung verwendet Gabler auf Tempolimit, auf technische Fahrzeugausstattung wie Sicherheitsgurte, nicht zu reden von jenen Dingen, die heute selbst in den unteren Fahrzeugklassen noch schwere Unfälle glimpflich ausgehen lassen. Und dennoch hat „Der Spinner“ eine Dimension, die den Text unheimlich macht.
Marie Luise Kaschnitz lässt ihre Geschichte mit dem Satz enden: „Dann werden, nach einer kurzen Zeit des Schreckens, goldene Zeiten anbrechen, Zeiten, die sich nur mit einem ewigen Frieden vergleichen lassen.“ Was, wenn man die tatsächlichen Zahlen, siehe oben, ausblendet und gar absichtsvoll ignoriert, wie eine unangemessene Übertreibung, fast peinliches Pathos erscheinen könnte, beides wäre zudem noch innerhalb des Werks ein Sonderfall, ist tatsächlich eine tiefe Formulierung. Denn die Addition der Opferzahlen von drei bis fünf Jahren weltweit ergäbe den Verlust der Gesamtbevölkerung kleinerer Staaten wie Norwegen, Dänemark, Finnland, nicht zu reden von den baltischen Ländern. Stellt man die Hysterie daneben und die Hyperaktivität halber Kontinente angesichts keines einzigen wirklich unzweideutig nachgewiesenen Rinderwahn-Toten, dann sieht man, auf welche Wunde „Der Spinner“ noch immer ganze Fingerbatterien legt. Denn alles, was Gabler vorschlug, anregt und entwarf, ist in der Substanz kaum abwegiger oder sinnloser als etwa die Ausstattung von Zigaretten-Packungen mit Horrorfotos. Gabler aber wird mit dem Segen der eigenen Frau und offenbar aller Kollegen in eine geschlossene Anstalt verfrachtet.
Und würde uns nicht alle dieser Vorschlag am Verstand des Mannes zweifeln lassen: „... wer sein Auto zu Hause lässt, bekommt eine Prämie, wer seinen Führerschein verbrennt, eine Rente, aus der Führerscheinverbrennung könnte man ein Volksfest machen“? Wir denken nicht eine Sekunde an den absehbaren Amoklauf der Autoindustrie und schon gar nicht an den Kampf der Gewerkschaften gegen Massenarbeitslosigkeit, der politischen Parteien um Stimmen: Eigentlich, heißt die brutale Konsequenz, sind die Verkehrstoten in sechsstelliger Zahl pro Jahr kein guter Anlass für Visionen vom ewigen Frieden. Den überlassen wir Dichterinnen oder Immanuel Kant. Bleiben „Jennifers Träume“. Sie sind Träume von tatsächlichen Menschen und Orten, ohne dass ihnen entsprechende Erfahrungen vorausgingen, die eventuell zu verarbeiten gewesen wären. Die Geschichte siedelt da, wo heute das Schlagwort „Mystery“ geistert, es gibt ganze Fernsehserien, die damit operieren, dass sie Phänomenen Raum geben, die in der alten Parapsychologie Psi-Phänomene genannt wurden. Man kann an solchen Stellen Gott vermuten als den ewig Rätselhaften, es scheint, als hätte Marie Luise Kaschnitz zeitlebens eine Affinität dahin gehabt, mal stärker, mal weniger stark.
„Frau Andrew, die vor ihrem Mann, vielleicht gerade wegen seines ernsten und einsiedlerischen Wesens, großen Respekt hat, nimmt sich vor, nicht mehr nach Jennifers Träumen zu fragen.“ Solche Aussagen enthalten immer autobiographische Elemente. Wie überhaupt das Eigentliche dieser Erzählung die Reaktion der Mutter auf ihre Tochter zu sein scheint. „So träumt man nicht, denkt Frau Andrew, so erfindet man, und in bestimmter Ansicht, in böser Absicht gewiss.“ Nach der Rückkehr von einer Reise, für die Jennifer ihr „Krämchen“ packte, was für ein herrliches Wort, sind alle Seltsamkeiten weg, sie kehren auch nie mehr wieder. Unterwegs aber kannte sie jeden Weg und jede Kreuzung und auch die Gastgeberin war sich sicher, dass sie ihrer jungen Besucherin nichts zeigen müsse. Liz Fergusson sagt zur großen Verwunderung von Frau Andrew zu Jennifer: „Dir brauche ich ja nichts zu erklären, du kennst alles, du bist immer hier, und Jennifer freut sich und nickt.“ Vermutlich könnte man, alle von Kaschnitz erzählten Familienkonstellationen aus ihren jeweiligen Zusammenhängen reißend, eine Realpartikel-Kunde des Dichterinnen-Lebens erstellen. Das Unheimliche ihrer unheimlichen Geschichten ginge dabei verloren. Wer mag das wollen?