Wolfgang Hildesheimer: Die Uhren

Peter Demetz hat in seinem Buch „Die süße Anarchie. Deutsche Literatur seit 1945“ Wolfgang Hildesheimer kein eigenes Kapitel vorbehalten, nur einige Zeilen auf Seite 123 innerhalb des kurzen „Intermezzo 2: Tendenzen im Theater“ sind ihm gewidmet. Hildesheimer ist ihm unter den Theaterschriftstellern, die sich vom Theater des Absurden „provoziert oder verwirrt“ fühlten, derjenige, der diese „Theatertradition am klarsten verteidigte“. Demetz kann dieses souveräne Urteil fällen, weil er jene Erlanger Rede kennt, die Hildesheimer am 4. August 1960 während der zehnten Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen in Erlangen hielt. Sie wurde erstmals in Akzente 7/1960 gedruckt, danach noch mehrfach, Titel „Über das absurde Theater“. Und es fällt auf, dass alle Kritiker, die die Rede heranziehen konnten, deutlich weniger verunsicherte, um nicht zu sagen: hilflose, Sätze zum Einakter „Die Uhren“ zu Papier brachten als die, die nur dem Text im Buch „Spiele, in denen es dunkel wird“ (1958) oder dem Spiel auf der Uraufführungsbühne in Celle ausgesetzt waren. Gutwillig darf man das als Beweis sehen, dass Autoren ihre eigenen Werke eben doch besser verstehen als alle unvorbereitet herantretenden Interpreten.

Im Almanach zu den Berliner Festwochen 1959 war bereits ein Text mit dem Titel „Empirische Betrachtungen zu meinem Theater“ erschienen, der bis in die Detail-Formulierungen wichtige Aussagen der Rede vorwegnimmt oder andersherum: Die Rede greift auf die Selbstaussagen von 1959 zurück. Weil Wolfgang Hildesheimer aber ausdrücklich betont: „Nichts wird vorausgesetzt. Man braucht vor Aufgang des Vorhangs nichts zu wissen, kein Programm gelesen zu haben ...“ stellt sich jede das ignorierende Kritik erst einmal in ein ungünstiges Licht. Ich weise zugleich ganz dezent darauf hin, dass nicht die Rede davon ist, dass man den Text nicht zu kennen braucht. Und es ist nicht einmal überflüssig, als Ergänzung dazu zu sagen: Text und Programm sind nicht, eben gerade nicht identisch. „Es liegt mir nichts daran, mit verteilten Rollen eine Geschichte zu erzählen oder eine These zu belegen.“ Was aber tut Hildesheimer dann? Er tut das, was alle halbwegs nennenswerten Dramatiker tun: sie scheren sich im praktischen Bühnentext, in Szene und Dialog nur noch sehr mäßig um ihre eigene Theorie, zumal um die, die sie erst formulierten, als das Stück oder die Stück-Basis für die Theorie längst fertig und vielleicht sogar schon aufgeführt waren.

In der Rede heißt es lapidar: „Jedes absurde Theaterstück ist eine Parabel.“ Hildesheimer nennt das vor den Studenten Arbeitsthese. Das sind bekanntlich nicht nur Thesen, mit denen, sondern auch solche, an denen gearbeitet wird. „Erst die Summe der absurden Stücke - also die Existenz des absurden Theaters als Phänomen – wird zum Analogon des Lebens.“ Man darf das als Ausdruck von Bescheidenheit lesen und als Formulierung einer besonderen Weise von Ensemble-Kunst. Nimmt man zugunsten des absurden Theaters auch noch an, dass die Summe mehr ist als ihre Teile, dann könnte man auf die Idee kommen, vor allem die Kritiker besonders dumm zu finden, die sich daran stoßen, dass diese oder jene Idee, diese oder jene Szene schon einmal irgendwo und irgendwie bei Ionesco, bei Beckett auftaucht. Das in Hildesheimers Wunschbild unbedarfte Theaterpublikum, das auf das Aufgehen des Vorhangs wartet, kennt in seiner großen Mehrheit die Parallelstücke gar nicht, noch weniger dann erst die mehr oder minder zahlreichen Parallelinszenierungen, die der Kritiker als Kopfgeister stets mit sich führt. Hildesheimer bekennt sich zur Guckkasten-Bühne und ist damit schon konservativer, als noch auf den dritten Blick zu vermuten wäre.

In „Die Uhren“ gibt es ein Paar in einem Haus, ein Paar ohne Kinder und im Personenverzeichnis sogar ohne Namen (im Text haben sie welche und reden sich auch mit diesen Namen an). Das Paar hat Fenster ohne Scheiben, das Paar hat ein Treppenhaus ohne Licht. Das Paar spricht Theater-Dialoge, es spielt im wahren Sinne des Wortes miteinander, es ist nicht zu hören oder gar zu sehen, ob es weitere Lebensinhalte in dieser Beziehung gibt. Es tritt ein Glaser auf, der Scheiben einsetzt. Diese Scheiben haben zwei hervorstechende Eigenschaften: Sie sind schusssicher und sie sind schwarz. Jede vom Glaser auf der Bühne neu eingesetzte Scheibe verdunkelt den Raum, also auch den Spielraum. Der Glaser übernimmt während seiner vollkommen unreflektiert und selbstverständlich ausgeführten Arbeit die Nebenaufgabe, dem Paar Robert und Gertrud von dem zu berichten, was er draußen sieht, vor allem, wenn sich Menschen nähern. Das geschieht im Verlauf des Spiels immer öfter, es kommen ein Leichenzug, ein militärischer Aufmarsch, auch ein Zirkus offenbar, vor allem aber ein Vertreter mit Koffer. Ohne den hieße das Spiel nicht „Die Uhren“, denn er ist ein Uhren-Vertreter, und zwar, natürlich, ein über die Maßen absurder.

Ende der fünfziger Jahre hatte die Theaterkritik offenbar noch den Kopf voller Existenzialismus und Philosophie der Zeit, voll verquaster Technik- und Kulturkritik, es fehlte ihren Vertretern lesbar das Besteck zum Umgang mit den absurden Stücken, wie sie neben Eugene Ionesco oder Samuel Beckett in Deutschland eben Hildesheimer, der frühe Grass oder auch Peter Weiss in die Theater brachten. Wobei sich das hinterher natürlich leichter feststellen lässt als etwa aus der Position des Zeitzeugen. Hildesheimer hat sich zur Traditionslinie des Surrealismus bekannt und tatsächlich muten Stücke des absurden Theaters ja gar nicht so selten an wie für die Bühne dynamisierte Bilder von Salvador Dali oder Paul Delvaux (den ich, warum sollte ich es verschweigen, sehr, sehr mag). Solches Theater ignoriert Wahrscheinlichkeiten. Der Uhren-Vertreter ist sicher in der Lage, einen Musterkoffer voller Armbanduhren, Wecker und anderer Kleinchronometer mit sich zu führen, ob er aber plötzlich gleich Kollektionen schwerer Standuhren parat haben kann, darf bezweifelt werden. Just solcher Zweifel aber wäre im absurden Theater vollkommen unangebracht. Es ist die Frage ans Märchen: Darf ein rosa Kaninchen grüne Ohren haben? Es darf. Unbedingt darf es.

Absurd sind im Einakter die Dialoge. Beispiel: „FRAU: Schon vor zehn Jahren wollte ich eine Lampe anbringen. MANN: Und warum hast du es nicht getan? FRAU: Du wolltest es nicht. MANN: Vor zehn Jahren war es noch nicht so dunkel. FRAU: Es war dunkel genug.“ Seit zehn Jahren fehlen also die Glühbirnen im Treppenhaus, was weder den Handwerker noch den später kommenden Vertreter daran hindert, sehr präzise zu erkennen, was dort steht und aus Sicht des Paares sogar ein gefährliches Hindernis bildet. Die Handlung, wenn man sie denn so nennen mag, kulminiert darin, dass der Uhren-Vertreter in der wachsenden Dunkelheit Gertrud nicht nur anbaggert, sondern nach allen Regeln der Kunst vernascht. Mit haarsträubenden Sprüchen verkauft der Vertreter dem Paar eine Uhr nach der anderen, am Ende bleibt die komplette Kollektion im Haus, es wird die Nachlieferung einer Rechnung inklusive Skonto versprochen. Glaser und Vertreter scheiden singend, denn sie kennen sich und arbeiten Hand in Hand, wie Leser respektive Theaterbesucher erst spät erfahren. Das Paar aber spielt kindisch im Dunkeln zwischen den Uhren.

Vor der Uraufführung in Celle am 18. April 1959 gab es am 30. Mai 1958 bereits die Ursendung einer Hörspielfassung in der Regie von Gerd Westphal. In der Hörspielfassung erfährt der Mann bereits bei der Ankunft des Vertreters, dass die Herren sich kennen. Das war dem Autor im Sinne des absurden Theaters dann wohl doch zu deutlich. Die Buchausgabe „Spiele, in denen es dunkel wird“ (Pfullingen: Neske 1958, 214 Seiten), enthält neben „Die Uhren“ auch „Pastorale“ und „Landschaft mit Figuren“. Walter Jens hat sie in der ZEIT vom 17. Oktober 1958 in seiner dortigen Reihe „Mein Buch des Monats“ besprochen. Der Text ist im Internet abrufbar, nachgedruckt auch im suhrkamp taschenbuch 2103. Der Vertreter sagt, als er hört, die Frau des Hauses sei kinderlos: „Kinder ersetzt man bekanntlich am besten durch Uhren.“ Der Mann fragt, wo man sitzen wird, wenn alles dunkel ist und worüber sprechen. Die Frau antwortet: „Von vergangenen Jahren natürlich. Was gibt es sonst?“ Und man probt sogleich das Thema Venedig: „Der Blick auf Venedig, durch den schwarzen Schnurrbart eines Gondoliere“. Hier wie in allen Spiel-Dialogen des Paares führt sich die Sprache selbst ad absurdum, entlarvt sich als angelesene Phraseologie.

Wie weit Hildesheimer sein eigenes Spiel treibt, wird auch an den Namen deutlich, mit denen im Dialog hantiert wird. Erst geht es um Schopenhauer und Nietzsche, dann aber kommt es ganz dick. Der Vertreter sagt: „... das Alte muss dem Neuen weichen. Das hat übrigens schon Vico gesagt.“ Wer nun die Frage des Hausherrn Robert erwartet: Wer?, der wird in stücktypischer Weise getäuscht. Denn der Mann fragt: Wann? Er bekommt zur Antwort: „Vor der Belagerung Neapels.“ Der absurde Witz liegt hier darin, dass beide mit dem Namen Vico (1668 – 1744) wie selbstverständlich etwas anfangen können und sofort nach eigentlich überflüssigen Details fragen. Hildesheimer in seiner Erlanger Rede: „Absurdes Theater aber bedeutet: Eingeständnis der Ohnmacht des Theaters, den Menschen läutern zu können und sich dieser Ohnmacht als Vorwand des Theaterspiels zu bedienen. Ohnmacht und Zweifel, die Fremdheit der Welt, sind Sinn und Tendenz jedes absurden Stückes, das somit einen Beitrag zur Klarstellung der Situation des Menschen wird.“ Klar, dass man in einer DDR und einem Sozialismus gleich welcher Farbe mit solchen Ansätzen wenig anfangen konnte. Denn dort gaukelte man sich vor, steuern zu können.

Wenn, könnte man fragen, letztlich alle absurden Stücke, ob Einakter oder Fünfakter, ob irisch, französisch oder deutsch, ob polnisch, spanisch oder rumänisch, alle ein und dieselbe Zeitdiagnose formulieren, warum haben ihre Verfasser immer wieder neu angesetzt, immer wieder neue Spielsituationen entworfen? Warum kommt jeden Sonntag immer ein neuer Tatort? „Der absurde Dramatiker vertritt die Ansicht, dass kein Kampf der Welt jemals auf dem Theater ausgefochten worden ist.“ In Wolfgang Hildesheimer Einakter „Die Uhren“ ist von einem Postminister die Rede, der Tollwut bekam und Straßenbahnen in Brand steckte. Schon deshalb sollte das Stück wieder einmal gespielt werden, denn wer weiß noch, was ein Postminister war oder gar, dass einer mitten in Deutschland einmal Schwarz-Schilling hieß. Wo sonst wäre die Rede von zarten, fast verschämten Selbstmordversuchen, wo sonst ist ein Glaser Vorstand des Vereins zur Bekämpfung des Holzwurms? Ein Kritiker schrieb von den sinnlos schlagenden Uhren des Stück-Endes. Was eine sinnfreie Aussage ist. Wie die vom Zerfall der Sprache. „Die Uhren“ wurden in Celle übrigens gemeinsam mit „Der schiefe Turm von Pisa“ uraufgeführt. Das war keinesfalls eine schlechte Idee.


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