Arkadi Gaidar: Tschuk und Gek

Als Band 18 der Kinderbuch-Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ gehört „Tschuk und Gek“ in die Frühzeit dieser Büchlein, als Band 77 erschien später noch „Die blaue Tasse“, als Band 145 „Unterstand Nr. 4“. Da Arkadi Gaidar, der eigentlich Golikow hieß und nicht einmal 38 Jahre alt wurde, auch in der für etwas ältere DDR-Kinder gedachten Reihe „Robinsons Billige Bücher“ mehrfach auftauchte (Nr. 6 „Timur und sein Trupp“; Nr. 59 „Das Schicksal des Trommlers“; Nr. 175 „Das Geheimnis der Schlossruine“), dazu in Heftreihen („Der verwundete Kommandeur“, Heft 24/1955; „Licht in der Schlossruine“ Heft 11/1962 der „Kleinen Jugendreihe“), als Alex-Taschenbücher kamen „Timur und sein Trupp“ (Nr. 3) und „Die Feuertaufe“ (Nr. 19) in die Buchhandlungen – die Aufzählung ist sicher unvollständig – dürfte Gaidar zu den verbreitetsten Kinderbuch-Autoren der ersten zwanzig bis dreißig DDR-Jahre gehört haben. „Die Feuertaufe“ war zu Beginn meines sechsten Schuljahres Pflichtlektüre, „Das Schicksal des Trommlers“ muss irgendwann im Russisch-Unterricht eine Rolle gespielt haben, denn der russische Originaltitel geht mir glatt über die Zunge und ich sehe sogar das Gesicht einer Schulfreundin vor mir, die darüber sprechen wollte, wohl im Rahmen einer freiwilligen Leistungskontrolle, aber das ist sehr lange her.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später ist die Neugier auf ein so altes Kinderbuch aus der untergegangenen Sowjetunion alles andere als nur Nostalgie. In einer als Reclam-Band verbreiteten Überblicksdarstellung lese ich: „Gaidars Erzählungen sind stets optimistisch, auch da, wo sich schwere Schicksale vollziehen. Die heitere Welt des Kindes dominiert, weil sie eingebettet ist in die sozialistische Menschengemeinschaft. Gleichnishaft hat dies Gaidar in „Tschuk und Gek“ (1939), einer seiner schönsten Erzählungen, gestaltet. Leben und Kindertraum, Natur und Gesellschaft, Märchen und Alltag verbinden sich in diesem kleinen Meisterwerk zu nachhaltiger Wirkung und großer Schönheit.“ Nicht überflüssig zu sagen, dass der hier ganz selbstverständlich genutzte Begriff „sozialistische Menschengemeinschaft“ schon ein Jahr nach Erscheinen von „Russische sowjetische Literatur im Überblick“ außer Dienst gestellt wurde. Nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 galt diese Prägung des VII. Parteitages 1967 als Ausdruck von Wunschdenken und Voluntarismus, gebunden an den Namen Walther Ulbrichts, den Erich Honecker entmachtet hatte. Mit sozialistischer Menschengemeinschaft, unabhängig von parteipolitischen Sprachregelungen, hat das Geschehen in der durchaus spannenden Geschichte allerdings wenig zu tun.

Der kindliche Leser lernt zunächst einmal ein rigides System von Arbeitsorganisation kennen, was ihm vermutlich kaum bewusst wird. Denn der Vater der beiden Moskauer Jungen Tschuk und Gek arbeitet im hohen Norden und bekommt zum Jahreswechsel keinen Urlaub, obwohl er seit einem ganzen Jahr nicht bei seiner Familie war. Also lädt er Frau und Kinder zu sich ein, obwohl das eine sehr weite, sehr anstrengende und vor Ort sicher auch wenig erholsame Reise zu werden verspricht. Tschuk und Gek, die offenbar noch nicht zur Schule gehen, streiten und rangeln miteinander, wie das Jungen in diesem Alter gesellschaftsunabhängig sicher überall in der Welt tun. Auffallend für den Kenner sowjetischer Verhältnisse der in Frage kommenden Zeit, das Buch erschien 1939, ist die Tatsache, dass die Mutter die beiden Streithähne in verschiedene Zimmer schicken kann. Damit ist unausgesprochen klar, dass es sich um eine sehr privilegierte Familie handeln muss, denn gerade in den Großstädten herrschte damals akuteste Wohnungsnot und das Prinzip der „Kommunalka“, der Mehrzimmer-Wohnung mit gemeinsamer Küchen- und Bad-Nutzung (falls überhaupt vorhanden) für alle Bewohner (eine Familie mit bisweilen drei Generationen in einem Raum) war Regelfall. Oder Arkadi Gaidar wollte mit provokanter Beschönigung gerade auf den Missstand hinweisen.

Was die Mutter nicht erfährt, ist eine folgenreiche Nebenwirkung einer der Brüder-Rangeleien. Ein Telegramm des Vaters, der alle drei auffordert, die Reise zu verschieben, landet im Tiefschnee unter dem Fenster zusammen mit einer Blechkiste, in die es ungelesen geraten war. Die Jungen finden die Kiste nicht und schweigen. Sie folgen dabei ihrer Absprache, nur dann etwas zu verraten, wenn die Mutter fragt. Die aber kann natürlich nicht fragen, wo ein Telegramm sei, von dessen Existenz sie gar nichts weiß. So nimmt das sozialistische Schicksal seinen Lauf. Man besteigt mit einer großen und zwei kleinen Fahrkarten sowie dem nötigen Gepäck ausgerüstet den Fernzug, der Tausende Kilometer zurückzulegen hat bis zu der Station, wo alle drei vom Vater abgeholt werden müssen. Der Vater ist aber nicht nur nicht an diesem Bahnhof, er ist dann auch nicht in der kleinen Geologen-Station, wo er mit neun weiteren Männern und einem Wächter arbeitet. Genau deshalb hatte er das Telegramm ja aufgegeben, der Wächter brachte es eigenhändig zur Bahnstation und erst jetzt erfährt die Mutter der Knaben davon. Tränen helfen nun wenig. Es gilt, das Leben in dieser absoluten Einsamkeit umgehend zu organisieren, allein schon das Abziehen eines geschossenen Kaninchens ist für eine Moskauer Mutter alles andere als eine leichte Übung.

Auch sonst sind die Lebensregeln im Norden andere als in der fernen Hauptstadt. Als Mutter und Tschuk vom Wasserholen zurückkehren, ist Gek verschwunden. Dass er sich nur in einer Truhe versteckte und dort über dem Warten einschlief, die Szene, wie er gefunden wird, ziert den Buchtitel, findet der Hund des Wächters rasch heraus. Als sich die Mutter mit einem Stück Wurst dankbar zeigt: „Da brummte der Wächter wieder und meinte, alle Elstern würden darüber lachen, wenn man in der Taiga die Hunde mit Wurst füttern wollte.“ Da unterscheiden sich die Hunde in Sibirien wohl wenig von den Hunden in Jack Londons Alaska: verwöhnt dürfen sie nicht sein. Dem Wächter kommt auch nicht eine Sekunde der Gedanke, Mutter und Söhne dort einzuquartieren, wo der Vater lebt, wenn er hier ist, sie kampieren mit in seiner Behausung, er auf dem Ofen, sie zu dritt in der Bettstatt. Erst als er dem Vater die Nachricht von der Ankunft seiner Familie überbracht hat und wieder in der Station ist, überreicht er Brief und schweren Schlüssel an die Mutter. „Und als der Wächter gegen Abend ein Bündel Holz brachte, war er so überrascht über die Veränderung und die nie gesehene Sauberkeit, dass er an der Schwelle stehen blieb und sich gar nicht hereingetraute.“ Sibirische Männerwirtschaft sieht offenbar nicht anders aus als jede männliche Lotterwirtschaft.

Ehe die Familie aus Moskau abreist, Moskau ist die schönste Stadt der Welt, heißt es, wird „ein zweites Schloss an der Tür angebracht, damit keine Diebe in die Wohnung eindringen konnten.“ Das steht so einfach und ungeschützt da, dass man annehmen darf, diese Art Gefahr für eine vorübergehend verlassene Wohnung war Alltag, Normalfall. Sollte, wie die Zimmerzahl vermuten ließ, eine privilegierte Wohnung mit Zusatzschloss gesichert werden müssen, dann sind dort für Diebe offenbar auch größere Beuteaussichten zu erwarten. Der Fuhrmann an der Endstation verlangt sagenhafte 100 Rubel für die Tour zur Station. Vielleicht war das zu Stalins und Gaidars Zeiten weniger, als ich mit meinem Wissen vermute, dass eine Lehrerin in Leningrad deutlich unter hundert Rubel im Monat verdiente, wenn sie Ende der siebziger Jahre frisch von der Universität kam, mein DDR-Assistentengehalt, jämmerlich genug, erregte noch in den achtziger Jahren den bewundernden Neid eines bulgarischen Professors, dessen Einstufung sowjetischen Vorbildern folgte. Immerhin ist der Fuhrmann bereit, die drei kostenfrei wieder mit zurück zu nehmen bis zum Bahnhof, dann aber hätte die Mutter dort das Geld für die Rückfahrkarten nicht mehr gehabt.

Ein Kinderbuch ist natürlich keineswegs verpflichtet, all die Fragen zu beantworten, die sich ein mit völlig anderen Augen lesender Erwachsener bei seiner Lektüre stellt. Immerhin, die Fragen, die es fast achtzig Jahres nach seinem ersten Erscheinen aufwirft, zeigen eine Dimension solcher Bücher, die seltener im Vordergrund steht. Da ist beispielsweise die offenbar bedingungslose Unterordnung des Wächters unter den Chef, der in diesem Fall Vater und Ehemann ist: „Wenn Serjogin sagt: „verschiebe“, haben Sie sich danach zu richten; aber Sie haben eigenmächtig gehandelt.“ Der Wächter wirft der Ehefrau seines Chefs Eigenmächtigkeit vor! Man liest leicht darüber hinweg. Als dann klar ist, dass Tschuk und Gek Schuld haben am falschen Reisezeitpunkt, steht da plötzlich: „Was soll man mit solchen Rangen anfangen? Sie mit dem Stock prügeln? Sie einsperren, in Ketten legen und zur Zwangsarbeit verschicken?“ Es ist nicht ganz klar, ob die Mutter oder der sich dann vordrängende Erzähler diese Frage für sich und die kindliche Leserschaft aufwirft. Sehr wohl aber ist klar, dass einem aus heutiger Sicht nahezu lächerlichen „Vergehen“ mit vollkommen unreflektierter Selbstverständlichkeit mörderische Strafen zugedacht werden. Es geht gar nicht um die Ausführung, allein der Gedanke an Ketten und Strafarbeit führt an Abgründe.

Der 1976 geborene Jens Mühling, der seit 2005 für den Berliner TAGESSPIEGEL arbeitet, hat dort 2010 einen Beitrag mit dem Titel „Psychopath und Literat“ veröffentlicht. Dort steht: „Er war einer der einflussreichsten Kinderbuchautoren des 20. Jahrhunderts. Doch Gaidar selbst war nie Kind gewesen.“ Mühling hat sich in Süd-Sibirien selbst auf Spurensuche begeben. In einem 600-Einwohner-Dorf mit einer „Uliza Gaidara“ ist er fündig geworden: „Ganze zweieinhalb Monate diente Gaidar in Chakassien. Es reichte, um ihn zur Hassfigur der örtlichen Bevölkerung zu machen – und zum Helden der Sowjetpropaganda.“ Man hatte Gaidar wegen ungesetzlicher Erschießungen sogar selbst zur Hinrichtung verurteilt, doch er kam schließlich davon. Sein Pseudonym „Gaidar“ ist ein „Wohin?“ bedeutendes chakassisches Wort, hat Mühling herausgefunden. Sein Schriftsteller-Leben war damit sein zweites Leben. Der Gedanke an Zwangsarbeit für Kinder in einem Kinderbuch für Leser von sieben Jahren an liest sich ganz anders, wenn man weiß, dass Gaidar auch eine eigenhändige Enthauptung vorgeworfen wurde. Mühling nennt sogar den Namen einer Augen-Zeugin und liest mit seinem Wissen manches in „Timur und sein Trupp“ vollkommen anders, als es der unbefangene, der ahnungslose Leser tut. Dem deswegen aber nichts vorzuwerfen ist.

„Tschuk und Gek“ hat keine einzige vordergründig ideologische, vordergründig propagandistische Stelle. Es wird erzählt von normalen Kindern in einem Land, das ganz anders sein wollte und es auch wurde, wenngleich nicht im üblichen Sinn. Nur der Schluss bildet die Ausnahme, man könnte ihn als angehängt interpretieren, wenn es Anlass zu solcher Deutung gäbe. „Was Glück ist – das verstand ein jeder nach seiner Art. Aber alle Menschen wussten und begriffen, dass man ehrlich leben, tüchtig arbeiten und das große und glückliche Land, das Land der Sowjets, innig lieben sollte.“ Groß war das Land zweifellos. Ob es je glücklich war - als Land, wohlgemerkt – steht nicht einmal in den Sternen. Was glückliche Kindheiten, glückliche Lieben, glückliches Arbeiten ja eben nicht ausschließt. Niemand wird in Abrede stellen, dass im buchstäblich gottverlassenen höchsten Norden die Töne der Glocken vom Spasski-Turm in Moskau im Radio Glücksgefühle auslösen konnten zum Neujahrsfest in Schnee und Eis. Mir fiel mein Spasski-Turm aus farbigem Holz ein, den man auseinandernehmen und wieder zusammensetzen konnte, die richtige Folge der Teile war die Aufgabe und ganz oben der rote Stern. Noch die nächste Generation hat damit gespielt. Gaidar aber hat von ihr niemand mehr gelesen. Ich weiß nicht, ob das als Defizit zu gelten hat.


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