Jack London: Die scharlachrote Pest
Für seine Jack-London-Sammlung „Phantastische Geschichten“ (Verlag Neues Leben Berlin 1988) schrieb Olaf R. Spittel ein Nachwort, angenehm knapp, verglichen mit vielen früheren DDR-Nachworten angenehm unvoreingenommen, in der Sache selbst angenehm verräterisch. Spittel, Jahrgang 1953 und in Gotha geboren, begann das Nachwort so: „Jack London als Autor phantastischer Literatur? Jedermann kennt ihn als Verfasser von Abenteuergeschichten und sozial engagierten Texten – kaum bekannt dagegen ist sein Werk auf dem Gebiet der Phantastik.“ Von den vier Romantiteln, die Spittel dann aufzählt, um zu belegen, dass die Phantastik auch im Romanwerk des heute vor 100 Jahren von eigener Hand Gestorbenen einen festen Platz hat, sind drei in der DDR nie erschienen. Er nennt „Before Adam“ (Vor Adam), „The Star Rover“ (Die Zwangsjacke), „The Iron Heel“ (Die eiserne Ferse) und „The Assassination Bureau“ (Das Mordbüro). Nur „Die eiserne Ferse“ (Verlag Neues Leben Berlin 1972) erreichte DDR-Leser und zwar, interessant genug, ohne Nachwort, obwohl doch gerade diese vermeintlich proletarisch-revolutionäre Geschichte nach einem verlangt hätte, denn der politischen Ideologie der DDR war der Roman keineswegs konform. „Die Zwangsjacke“ gibt es bis heute nur in seltener und sehr teurer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, als Taschenbuch nur „Vor Adam“. „Das Mordbüro“ als Nachlasswerk ist vergessen.
„Phantastische Geschichten“ aber, wie sie der ausgewiesene Phantastik-Spezialist Spittel zusammenstellte, erlaubten tatsächlich einen neuen Blick auf Jack London. Das Quellenverzeichnis belegt, dass der promovierte Philosoph und Absolvent der Humboldt-Universität einen zeitlichen Gesamtschnitt realisieren konnte, denn die den Band eröffnende Geschichte „Wer glaubt schon an Gespenster?“ erschien zuerst am 21. Oktober 1895 im Schülermagazin „The Aegis“ (das rund ein Dutzend London-Beiträge publizierte) und „Der Rote“ stand 23 Jahre später ebenfalls im Oktober in „Cosmopolitan“, da war London schon zwei Jahre tot. Es ist mehr als interessant, dass der noch nicht 20 Jahre alte London für die frühe Geschichte eine Form wählte, die sehr an antike oder wenigstens antikisierende Dialoge erinnert, darüber hinaus gibt es eine knappe Stelle mit grünem Glas, die jeden Kleist-Kenner aufhorchen lassen müsste, ich fand freilich bisher nirgends einen Hinweis, dass Jack London Kenntnis von Leben und Werk Kleists hatte. „Die scharlachrote Pest“ erlebte ihren Erstdruck im Juni 1912 im „London Magazine“ und ist für die DDR-Ausgabe von Edda Fensch (wie Spittel Jahrgang 1953) übersetzt worden, deren Name seit 1994 mit dem Ch. Links Verlag Berlin verbunden ist und die außer diesem einen London auch Conan Doyle (Der Hund von Baskerville) und Stanley G. Weinbaum (Die Welten des Wenn) ins Deutsche übertrug.
Es ist eine Geschichte aus der Gegend, die Jack London bestens kennt, aber im Jahr 2073 spielt. Ein 87 Jahre alter Mann, vor der Katastrophe Professor, erzählt seinen Enkeln von dem Jahr 2013, in dem die titelgebende Pest die Menschheit offenbar weitestgehend ausgerottet hat. Das Phänomen wird eingangs vor allem dadurch bildhaft gemacht, dass in den Gebieten, wo einst Millionen Kalifornier Naherholung am Strand suchten, jetzt Bären und Wölfe zugange sind, man findet in Wäldern alte Bahngleise, längst verrostet, man lebt selbst im Status äußerster Primitivität, kaum gekleidet, ohne alle Reste von Zivilisation, die Enkel hüten Ziegen und ihre wichtigste Eigenschaft ist: sie verstehen die Sprache des Großvaters kaum noch, sie können mit vielen Wörtern nichts mehr anfangen, sie können, weil sie die Dinge von früher nicht kennen, mit Wörtern einfach keine Vorstellung verbinden, gravierend beispielsweise die Vorstellung von Dimensionen, Zahlen. Einer der Enkel, Hare-Lip, macht sich lustig. Auf die Frage seines Kumpels Edwin, was Bildung sei, antwortet er: „... Das is, wenn man zu rot scharlachrot sagt“. Der Erzähler über die Jungen: „Die Jungen waren echte Wilde und so war ihnen auch der grausame Humor der Wilden eigen.“ Ihr grausamer Humor geht so weit, dass sie sich freuen, wenn der alte Mann bittere Tränen weint. Nur er aber weiß, wie es früher war, früher, als die Zivilisation noch herrschte in Amerika und der Welt.
Was der alte Mann den Enkeln zu sagen hat, ist zum Beispiel dies: „Das Schießpulver wird es ihnen ermöglichen, Millionen von ihresgleichen zu töten, und einzig auf diesem Wege, durch Feuer und Blut, wird eines fernen Tages eine neue Zivilisation erstehen.“ Die Art, wie der alte Mann leidenschaftslos selbst eigenes Versagen schildert, ohne bei seinen Hörern auch nur die geringste moralische Entrüstung auszulösen, besagt: die moralischen Maßstäbe der früheren Welt sind innerhalb der vergangenen 60 Jahre verschwunden, die Enkel verstehen nicht, was ihnen enthüllt wird. Der Großvater wiederum würde das vielleicht gar nicht tun, wenn die Enkel es verstünden, es ist wie eine Beichte in einer dem Pastor nicht verständlichen Sprache oder eine Beichte vor einem Pastor ohne Gehör. Doch trotz aller neuen Primitivität der Enkel: Geschichten wollen sie hören und sie mögen keine Umwege, sie wollen, dass der Erzähler geradenwegs auf das Ziel zusteuert. Man muss also nicht lange suchen, um Tiefenschichten in dieser negativen Utopie zu finden. London kann alte Inhalte seines Weltbildes in einem neuen Zusammenhang entwickeln: er malt aus, wie Kampf ums Überleben in einer kaum extremer denkbaren Situation aussieht und welche Wirkungen er zeitigt. Nur der Männlichkeitskult aus vielen Alaska- und Südseegeschichten ist mit der Figur eines ehemaligen Professors nicht zu reanimieren, London versucht es nicht.
Die größte Schwäche der Erzählung liegt darin, dass London seinen Erzähler immer mehr zur Binnenerzählung führt, seine Enkel hören in den späteren Abschnitten nur noch zu, sie werden weder erwähnt noch sind ihnen die Einsprüche und Unterbrechungen eingeräumt, die sie zunächst hatten und praktizieren durften. Was der Großvater aber erzählt, wimmelt geradezu von Begriffen und Situationen, die die Enkel gar nicht verstehen können, selbst wenn sie es wollten. Damit geht ein Riss durch den Text, nimmt der hintere den vorderen Teil mindestens in der strukturellen Anlage in gewisser Weise zurück. Für Parallelstellen-Sammler sei darauf hingewiesen, dass in der Geschichte ein Collie-ähnlicher Hund vorkommt, Collies waren offenbar bei Jack London favorisiert, sie kommen immer wieder bei ihm vor. Dass die Schilderung der Pandemie mit dem Namen „scharlachrote Pest“ über das Zeitwissen des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts nicht hinaus konnte, ist zu verschmerzen, bakteriologische Kenntnisse müssen bei einem Laien ein bestimmtes Maß nicht überschreiten und die Virologie war, soweit es sie überhaupt gab, noch eine jungen Disziplin. Wo London in diesen Dingen daneben liegt, wäre jeder Vorwurf verfehlt. Dass ihm auch massenpsychologische Phänomene angesichts der rasanten Verbreitung des Todes über die ganze Welt in seiner Geschichte unwichtig bleiben, ist ebenfalls der Zeit geschuldet.
„Der menschlichen Rasse ist es vorausbestimmt, weiter und weiter in das Dunkel der Barbarei zurückzusinken, ehe sie erneut ihren blutigen Aufstieg zur Zivilisation beginnt. Wenn unsere Zahl wächst und uns bewusst wird, dass es uns an Platz mangelt, werden wir fortfahren, einander zu töten.“ Hier transportiert der alte Professor kaum kaschierte Autoren-Überzeugungen Londons von den allgemeinsten Gesetzen des Geschichtsverlaufes. Olaf R. Spittel sei noch einmal zitiert, weil es sich an dieser Stelle mehr als anbietet: „Kern seines Schaffens ist stets eine Idee, eine bewusste Absicht, die er sodann mit einer Handlung ummantelt und deren innere Konflikte er logisch aus dem Kern der Geschichte entwickelt. Aus diesem Grunde waren seine Versuche, realistische, aus dem Leben genommene Charaktere zu beschreiben, nie von größerem Erfolg gekrönt.“ Spittel sprach hier eine große Wahrheit über Jack London gelassen aus. Und verteidigte seinen Mann und dessen „eigenwillige Synthese der Philosophien von Marx, Darwin und Spencer“. Solche Thesen waren wohl länger vor 1988 kaum denkbar. Synthesen von irgendetwas mit Marx, das war Spittel so klar wie mir (nur einen Monat jünger), das pure Teufelszeug: „... hatte London doch entgegen allem mechanischem Nachplappern immer versucht, kraft eigenen Verstandes persönliche Welterfahrung und vorgefundene Gesellschaftstheorien in Übereinstimmung zu bringen.“
Verblüffende Fehlprognosen Londons trägt der einstige Professor für englische Literatur in der Geschichte hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung vor. Sieht er für die Weltbevölkerung im Jahr 2010 reichlich eine Milliarde zu viel voraus, liegt die Schätzung für Europa sogar um fünfzig Prozent daneben. Londons spärliche Europa-Erfahrungen vor allem aus dem Jahr 1902, als er nach Wochen in East End („Menschen der Tiefe“) noch Paris, Berlin und Italien sah, ehe er im November wieder New York erreichte, mögen die Basis dafür gewesen sein. „Je leichter es war, sie zu ernähren, um so mehr Menschen gab es; je mehr Menschen es gab, um so dichter lebten sie zusammen, und je dichter sie zusammenlebten, um so mehr Bazillenarten bildeten sich und riefen neue Krankheiten hervor.“ Bazillen als Lebewesen, die man nicht sehen kann – das übersteigt das Vorstellungsvermögen der Enkel natürlich heftig. Und die Behauptung von der Neubildung von Bazillen war wohl auch 1912 schon fragwürdig. Dennoch ist Londons Story nicht danach zu sehen und zu bewerten. Der Professor lässt einen Dichter und eine Frau vor seinen Augen sterben, ohne den Versuch einer wie auch immer gearteten Hilfeleistung zu unternehmen. Immer wieder gibt es Fälle radikaler Entsolidarisierung, von denen sich der Professor nicht nur nicht distanziert, sondern bei denen er von Mal zu Mal auch mittut. Sein Überleben, so die Botschaft, gibt ihm Recht.
Eine Erfahrung, die der 87-jährige vorträgt, ist ohne Jack Londons London-Wochen 1902 gar nicht denkbar: „Mitten in unseren Slums und Arbeitervierteln hatten wir ein Geschlecht von Barbaren, von Wilden herangezogen, und nun, in unserem Unglück, wandten sich die wilden Bestien, die sie waren, gegen uns und vernichteten uns.“ Ganz nebenbei fällt einem dazu natürlich die berühmteste aller Utopien dieser Richtung ein: „Die Zeitmaschine“ mit ihren im Untergrund lebenden Morlocken, H. G. Wells muss dafür allerdings keineswegs zwingend diesen Jack London mit seinem Literatur-Professor James Howard Smith gekannt haben, dessen Namen der Leser erst fast zum Schluss erfährt. „Aus dem Munde der kleinen Kinder kommt die Weisheit aller Menschengeschlechter, einige werden kämpfen, einige werden regieren, einige werden beten; und der Rest wird sich abplagen und Schlimmes erdulden“, lesen wir auf der vorletzten Seite von „Die scharlachrote Pest“. Optimismus klingt anders. Auch wenn ihm der Herausgeber Olaf R. Spittel gern wenigstens Spurenelemente davon nachgesagt hätte: „... vor allem beschäftigte ihn der Gedanke, ob eine künftige Menschheit nicht doch auf eine ständige Rivalität starker Einzelpersönlichkeiten zugunsten einer übergreifenden Gemeinsamkeit verzichten könne.“ Wenn das zum Lebensende Jack Londons tatsächlich so gewesen sein sollte, wäre es gut gewesen.