Wolfgang Hildesheimer: Der schiefe Turm von Pisa

Das Personenverzeichnis nennt vier männliche und vier weibliche Akteure, fünf haben Namen, drei nur eine Tätigkeit: Friseuse, Kellner, Polizeikommissar. Die Zeit gibt der Autor an mit „Morgen nachmittag“, den Ort mit „Pisa und überall, wo es schiefe Türme gibt“. Vermutlich hat er Bad Frankenhausen dennoch nicht mitgemeint. Den schiefen Türmen in Venedig zum Beispiel begegne ich mit ausgemachter Regelmäßigkeit, den schiefen Turm von Pisa samt Dom, Taufkapelle und Monumental-Friedhof dagegen umkreiste ich mit meiner heute musealen Nikon F-801 zuletzt am 17. Oktober 1996. Das Ensemble heißt bei den Einheimischen Piazza dei Miracoli und hat mit dünnen langen Nudeln wenig zu tun, der Turm Torre Pendente ebenso wenig mit der zugehörigen Bissfestigkeit von Teigwaren. Riccardo Barsotti hat in seinem Kunstführer „Pisa und Umgebung“ dem Turm von 120 Seiten des Büchleins ganze fünf gewidmet, dreieinhalb davon sind Farbfotos. Ausufernde Beschreibungen sehen anders aus. Goethe hat den Turm nicht gesehen, Schiller ohnehin nicht, denn er war nie in Italien. Und so sind wir auf den wirklich arg unbekannten deutschen Italien-Reisenden Asmus Jacob Carstens verwiesen, wenn wir nach einer Stimme aus der Zeit unserer hochverehrten Hoch- und Oberklassiker begehren, um sie zitieren zu können.

Asmus Jacob Carstens (10. Mai 1754 – 25. Mai 1798) war ein Maler, der zwar in Rom starb, aber noch nicht zu der Künstlerkolonie gehörte, die Goethes Parallelgesellschaft vor Ort bildete. Den künstlerischen Nachlass von Carstens wiederum verwaltete Carl Ludwig Fernow (19. November 1763 – 4. Dezember 1808), sein Todestag war also gerade, der als Bibliothekar in Weimar Goethe mit dem Werk vertraut machte. Carstens schrieb am 9. Februar 1793 an Friedrich Anton Freiherr von Heinitz (14. Mai 1725 – 15. Mai 1802): „In der Baukunst habe ich nichts gesehen, was mit dem hängenden Turm, dem Dom und dem Baptisterium in Pisa zu vergleichen wäre, außer etliche von den alten Ruinen in und um Rom. … Der hängende Turm, Dom und Baptisterium sind, wie oben gesagt, Meisterstücke von Baukunst. Der Baumeister war ein Deutscher.“ Das las der Gründer der Bergakademie Freiberg möglicherweise ganz gern, nur waren weder Bonanno Pisano noch der von Giorgio Vasari als Ko-Architekt genannte Guglielmo tatsächlich Deutsche. Der Turm begann sich der Überlieferung nach zu neigen, als die Höhe des dritten Säulenganges erreicht war. Patricia Schultz, Autorin des Weltbestsellers „1000 places to see before you die“ hat sich an der Touristen-Attraktion böse gerächt und sie nicht in die „Lebensliste für den Weltreisenden“ aufgenommen.

Und Wolfgang Hildesheimer lässt den Turm einstürzen. Was auf einer Bühne ziemlich schwierig zu machen wäre, die Uraufführung war am 18. April 1959 in Celle (gemeinsam mit dem Einakter „Die Uhren“, siehe mein Text dazu an dieser Stelle), und deshalb natürlich nur in die Zeugenschaft der Bühnen-Beteiligten und die Phantasie der Zuschauer gegeben ist. Eine Hörspielfassung gleichen Titels wurde am 8. September 1959 urgesendet im Südwestfunk. In der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT las man am 24 April, Autor Johannes Jacobi: „Der schiefe Turm von Pisa war dagegen lustig. Ein deutscher Industrieller führt seine Frau in die hochnoble Ferienwohnung zu Pisa mit Ausblick aus allen nur erdenkbaren Löchern und in jeder Lage auf den schiefen Turm. Das banausenhafte Fremdenführer-Wissen dieser Neureichen wird ebenso weidlich verspottet wie das örtliche Fremdenverkehrsgewerbe. Als der Autor den berühmten Turm einstürzen lässt, enthüllt sich die wahre Natur dieser Leute.“ Zu bemerken wäre, dass Fremdenführer-Wissen keineswegs von Hause aus banausenhaft genannt werden muss, hat doch der Autor Hildesheimer selbst jene Kreise lustvoll karikiert, die sich solche elitären Urteile als ihr tiefstes Lebensrecht, ja als ihre Pflicht anmaßen, siehe dazu meine gestrigen Zeilen zur Funk-Oper „Das Ende einer Welt“.

Der Kritiker Claus Henning Bachmann schrieb eine Woche später in „Die Kultur“: „Der zweite der uraufgeführten Einakter steht dem Kabarett nahe. Der schiefe Turm von Pisa stürzt ein unter den Blicken jener Banausen, die auf der Jagd nach Erfolg und Luxus ganz nebenbei die „ewigen Werte“ einplanen. Am Ende weist der Autor mit einer nahezu sentimentalen Anwandlung auf die geistige Unzerstörbarkeit von Kunstwerken hin.“ Banausen sind übrigens ursprünglich Menschen gewesen, die nicht frei geboren wurden und ihren Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit verdienen mussten, die alten Griechen haben sich das ausgedacht und es war so wertvoll wie das Wort Barbaren: das waren der Einfachheit halber alle Nicht-Griechen. Es ist verblüffend, wie sich eine bestimmte Schicht immer wieder ihrer selbst durch Ab- und Ausgrenzung versichert. Man könnte den berühmten Satz vom Deutschen und dem Toilettenschlüssel von Kurt Tucholsky abwandeln dahingehend: Gib dem Intellektuellen den Schlüssel zur Kultur und er lässt keinen mehr ran (nicht drauf). Wolfgang Hildesheimer, das nebenbei, mochte Tucholsky überhaupt nicht, und stellte ihn, „den ich verabscheue“, in Gegensatz zu Ludwig Börne, Maximilian Harden und Alfred Kerr. Diese Sicht muss man nicht nachvollziehen können, ihre Begründung kenne ich leider nicht.

Wolfgang Hildesheimers Banausen heißen Ralf und Verena. „Obgleich die Rolle des Ralf keineswegs komisch und die Figur völlig humorlos ist, sollte sie mit einem Komiker besetzt werden.“ Ob das in Celle geschah oder bei späteren Inszenierungen, entzieht sich meiner Kenntnis, die Kritiker hielten es nicht für mitteilenswert. Die Geschichte ist ungefähr die: Das Paar zieht in eine Wohnung mit Turmblick ein, noch ist nichts ausgepackt, nicht viel eingeräumt, als schon eine Party steigen soll. Während des gesamten Geschehens werden immer wieder von den verschiedenen agierenden Personen Blicke auf den Turm geworfen, der dabei schiefer und schiefer zu werden scheint. Schließlich kracht er zusammen, Polizisten erscheinen, um auf eine absurde Weise die Schuld zu klären und vorsorglich erst einmal potentielle oder tatsächliche Schuldige in Gewahrsam zu nehmen. Eingangs streiten Ralf und Verena erst einmal darüber, ob es der schiefe Turm von Pisa oder der schiefe Turm zu Pisa heißt. Ralf zitiert seinen Goethe, Verena kontert mit einem absichtlich dumm-falschen Schiller, um ihn zu ärgern. Später fallen noch die Namen Gregorovius, Raffael, Verdi, Rossini, Botticelli, Donizetti, Michelangelo, Garibaldi, Ariost und Dante Alighieri. Auch Beethoven und Tizian werden nicht ausgelassen, alles pure und saftige Ironie natürlich.

Als Gäste des improvisierten Festes erscheinen Blücher und Mäusi und Mäusi sagt dies: „Die Zeit vergeht so schnell, / Und nachher fragt man sich, was man mit ihr getan hat.“ Der angedeutete Zeilenbruch besagt: Hildesheimer lässt seine Banausen teilweise in gebundener Sprache reden und so sind dem Pseudo-Tiefsinn noch formale Flügel verliehen. Ralf meint nach dem Einsturz des Turmes: „Die schönste Dinge unsres Daseins sind vergänglich.“ Weil er anschließend zu seinem Notizbuch greift, darf man annehmen, das er sich seine Aphorismen für die Nachwelt notiert, von seiner eigenen Brillanz überwältigt. Der einschreitende Kommissar weiß übrigens dem schon mit Handschellen und Kette gefesselten Ralf von anderen überraschenden Ereignissen in der Welt der Kultur zu berichten: „Man hat verlässliche Nachricht. Venedig ist um vierzig Zentimeter gesunken. Mona Lisa / Im Louvre ist innerhalb weniger Stunden verblasst / Und ergraut. Zu Bamberg ist ein Reiter vom Pferde gestürzt.“ Auch er beschreibt also „Das Ende einer Welt“ und macht damit deutlich, dass den Autor Wolfgang Hildesheimer ein bestimmter Gedanken- und Themenkreis in den fünfziger Jahren immer aufs Neue beschäftigte und herausforderte. Der Kommissar kontert, als Ralf sagt, kein Turm falle vom Ansehen ein: „Ein Turm fällt nur vom Ansehen um.“ Das sitzt.

Wie sieht ein absurder Dialog aus in diesem Stück? VERENA: Heißen hier alle Frauen Lucia? RALF: Die meisten. VERENA: Und die Männer? RALF: Luigi. VERENA: Die meisten? RALF: Alle. Verena interessiert sich für die Meinung eines Kunstforschers, den es gar nicht gibt, und findet, dass der schiefe Turm zu schief sei. Fast ununterbrochen ist eine Friseuse auf der Bühne, Lucia kommt auch noch und sie erzählt von ihrer Mutter; „Vierzehn Kinder hat sie durchgebracht / Mit dem Stricken von Topflappen und künstlichen Blumen.“ Man streitet sich über die Neigung des Turmes, die Zahlen reichen von 4,30 über 4,80 bis 5,60 Meter. Es werden jeweils unterschiedliche Kommissionen mit seltsamen Namen als Quellen für die angeblich neuesten Messungen genannt, während der Augenschein für sichtbare Zunahme der Neigung spricht. Verena darf die auffälligsten Sätze vortragen wie diese Brecht-Verballhornung: „Zuerst die Speisekarte, dann die Unmoral.“ Und dann die besondere Perle: „Wir sind berühmt für unsere großen Landsleute.“ Verena fragt auch: „Vielleicht wird der Turm nicht schiefer, sondern gerade. Nur wir werden alle schief!“ Das würde der Kommission für schiefe Gebäude wie jener der Turmvermesser ein sehr schlechtes Zeugnis ausstellen. Doch noch sieht alles ganz verträglich aus, die Katastrophe ist in der Warteschleife.

Ralf, der ein promovierter Banause ist und deshalb von Mäusi auch Herr Dr. Benrath genannt wird, mag sich die Situation nicht verderben lassen: „Wir werden uns doch von diesem alten Turm nicht den Appetit verderben lassen!“ Und der Kellner hat einen sehr speziellen Trost auf Lager: „Viele Dinge sehen dann am besten aus, wenn sie fallen.“ Die Friseuse fürchtet, wenn der Turm nicht mehr da ist, um ihr Geschäft: „Die verehrten Damen werden / Ihr Wellen fortan am Markusplatz legen lassen, / Im Vatikan, vor Gemälden des Raffael oder Tizian.“ Der Kommissar hat keineswegs die Absicht, außer Ralf auch Verena mit auf die Wache zu schleppen, sie darf bleiben. Und da sie schon die ganze Zeit geäugelt hat in Richtung Kellner und der wacker zurück, was Ralf nicht verborgen blieb, endet „Der schiefe Turm von Pisa“ mit dem Dialog der beiden. Sie „Aber schön war er doch.“ Er: „Er wird immer schöner.“ Sie: „Du hast recht.“ Er: „Jetzt hat man ihn für sich allein.“ Aus wie vielen Herzen spricht dieser Kellner? „Überhaupt fällt auf, was in Toscana gleich die öffentlichen Werke, Wege, Brücken, für ein schönes grandioses Ansehen haben.“ Das war weder der Kellner noch Wolfgang Hildesheimer. Das war Johann Wolfgang von Goethe. Ohne ihn geht es einfach nicht, wenn es um das Land geht, „wo die Zitronen blühn“. Nach dem Blühen wachsen sie.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround