Wolfgang Hildesheimer: Das Opfer Helena
Das gute alte Nachschlagewerk „Die Antike in Stichwörtern“ (Leipzig 1969), Autoren Gerhard Löwe und Heinrich Alexander Stoll, hat zum Stichwort Helena die Abbildung eines Vasenbilds. Darauf fast die gesamte Fläche einnehmend ein Schiff ohne Segel, aber mit sehr vielen stehenden Ruderern, dicht am Schiff ein Mann, der sein Bein hebt, als wolle er das Schiff betreten, und eine Frau mit unfassbarer Wespentaille, mit wehender Frisur und etwas wie einem Reif in der freien Hand, der Mann hat sie am anderen Unterarm gefasst und zieht sie offenbar mit sich. Das soll, wir ahnen es, die Entführung der schönen Helena durch den schönen Paris sein, dies, so der Mythos, der Auslöser für den zehn Jahre dauernden Trojanischen Krieg. Zugunsten Helenas nehmen wir an, dass sie nicht so ein langes spitzes Kinn hatte wie auf dieser Vase, bei Paris könnte das spitze Kinn notfalls ein Bart sein, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei Helena nicht der Fall war. Immerhin, es ist sicher, dass es aus der Antike keinerlei wirklich individualisierte Darstellungen von Helena gibt, sie ähnelt auf Vasen, hat die Forschung festgestellt, also natürlich nur einzelne ihrer mit diesem Gegenstand befassten Vertreter, sehr oft auffällig Aphrodite.
Bei Hans-K. und Susanne Lücke, „Helden und Gottheiten der Antike“ (2002) kann man nachlesen, dass sich auch die schreibende Zunft fast bis in die Neuzeit schwer tat, die Schönheit der schönen Helena in Worte zu fassen. Sicher wissen wir, dass sie so groß gewesen sein muss, dass sich Massen von Freiern um sie bewarben, ohne sie je gesehen zu haben und auch der Entführer Paris hatte nicht schon in Troja etwa einen Schattenriss von ihr, wie sehr viel später Goethe von Charlotte von Stein, zu Gesicht bekommen. Alle waren bereit, die Katze im Sack zu nehmen. Sie selbst entschied sich schließlich für einen gewissen Menelaos, der ohne sie, das ist sicher, nie in die Geschichte eingegangen wäre. Schon bei der Klärung der Frage, warum Helena diesen Menelaos und nicht irgend einen anderen nahm, eröffnet sich ein weites Feld der Deutungen von der Antike bis in die Gegenwart. Weithin vergessen ist zudem, dass Helena nicht zum ersten Mal entführt wurde, auch ein junger Mann namens Theseus führte sie in noch ziemlich zartem Alter auf eine Weise mit sich, die von den einen Entführung genannt wird, von den anderen nicht. Immerhin soll er sie, wie das so schön heißt, „unversehrt“ zurückgegeben haben. Nach Paris war das dann keine Frage mehr.
Wer was von und über Helena überliefert hat und wie das im Lauf der Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart immer wieder neu Dichter und andere Künstler anregte, diesen Stoff so oder so, gern natürlich mit dem Ehrgeiz der Neu- oder Umdeutung, zu gestalten, kann dicke Bücher füllen. Es beginnt bei der Herkunft, für die am häufigsten eine Geschichte von Leda und einem Schwan erzählt wird, es gibt die zeugungsbiologisch köstliche Geschichte, dass Leda-Gatte Tyndareios unmittelbar nach dem als Schwan getarnten Göttervater der Gattin „beiwohnte“, was zur Geburt von Vierlingen führte, je zwei davon göttlichen und zwei irdischen Ursprungs. Freilich überrascht die Antike auch mit Bildern, die die Geburt von Helena aus einem Ei zeigen, welches Leda „gelegt“ haben soll (für alle vier müssen das dann doch mehrere Eier gewesen sein). Wie auch immer: die Tochter des Göttervaters wurde die berühmteste Schönheit aller Zeiten, sie beschäftigte Goethe so sehr, dass er nicht anders konnte, als seinem „Faust I“ noch einen „Faust II“ folgen zu lassen, mit den bekannten Folgen für die Literatur-und Theatergeschichte. Wolfgang Hildesheimer hat Helena eine Opferrolle zugeordnet in seiner Lesart und daraus zunächst ein Hörspiel gemacht.
Das Hörspiel hatte seine Ursendung am 11. Oktober 1955 im Nordwestdeutschen Rundfunk, Regie Fritz Schröder-Jahn. 1961 entstand eine zweite Fassung des Hörspiel, 1965 eine dritte. Die dritte wiederum ist bis auf die Regieanweisungen weitestgehend identisch mit der Bühnenfassung, um die es hier ausschließlich gehen soll, sie erlebte ihre Uraufführung am 8. Oktober 1959 in den Zimmerspielen Mainz, Regie Rudolf Jürgen Bartsch. Schließlich wurde „Das Opfer Helena“ auch als „Kammermusical“ gespielt, Uraufführung im Theater am Turm in Frankfurt am Main am 10. Januar 1968, Regie Reinhard Micke. Das alles effiziente Maximal-Verwertung zu nennen, ist sicher keine Verleumdung des Autors. Es gibt vier Personen im Stück, Helena selbst agiert als Erzählerin, die ins Spiel eintritt und aus dem Spiel heraustritt, um sich wiederholt direkt ans Publikum zu wenden. Was sie verspricht, ist nicht weniger als die wahre Geschichte des Trojanischen Krieges. Sie unterscheidet sich von der überlieferten hauptsächlich dadurch, dass die Griechen angeblich kriegsgeil waren und nur auf eine passende Gelegenheit warteten, den Krieg mit Troja vom Zaun zu brechen, was sich aber nicht ergab. Dass die Trojaner kaum anders waren, bleibt noch Geheimnis.
Die wahre Geschichte des Trojanischen Krieges in Helenas Lesart braucht dieses Geheimnis als Mittel des dramaturgischen Baus, die Spannung ginge weitgehend, die Überraschung schließlich völlig verloren. Paris jedenfalls scheint den Vorwand mit dem Raub Helenas erst einmal nicht zu liefern, er muss gewissermaßen zum Jagen getragen werden während seiner Bildungsreise durch Griechenland. Am Ende des ersten Teiles hat ihn die die Initiative ergreifende Helena halbwegs da, wo sie ihn haben will, auf ihrem Sofa. Der zweite Teil beginnt auf just diesem Sofa einige Stunden später, man soll sich ausmalen, was inzwischen geschehen ist. Der den Naiven gebende Paris jedenfalls ist wie ausgewechselt, die sich cool und tough gebende Helena ahnt nicht, dass nicht nur sie ein Spiel gespielt hat. Die Sprache des Stückes hat mit Antike, wie man sie kennt, nichts zu tun, es ist der witzige Dialog der Konversationskomödien, Helena hat das große und gute Wort. Sie sagt die zitierenswerten Dinge und Paris lässt ihr vermeintlich ergeben und wie geblendet den preiswerten Triumph. Erst als die Flucht praktisch wird, gerät Helena ins Grübeln, nicht zuletzt ist sie vom Tun ihrer fünfzehn Jahre alten Tochter Hermione, milde gesagt, heftig irritiert.
„Es ist falsch, die Götter für alles verantwortlich zu machen, was an Menschlichem und Unmenschlichem geschehen ist.“ Sagt Helena direkt zum Publikum. Über den Gatten Menelaos sagt sie zweierlei: „Er wollte nur zweierlei vom Leben: persönliche Macht und Krieg zur ständigen Erweiterung persönlicher Macht.“ Und: „Menelaos jedoch war nicht interessant. Er war noch nicht einmal klug, konnte keinen Gedanken zu Ende denken. Er war zielstrebig – an sich schon eine unschöne Eigenschaft...“. Zielstrebigkeit als unschöne Eigenschaft, das gehört auf einen Merkzettel, wie sie Wolfgang Hildesheimer führte. Seine Deutung der Gattenwahl Helenas geht so: „Warum ich Menelaos geheiratet haben? - Eine hat es ja sein müssen, und so nahm ich ihn. Er war unbedeutender als die anderen Freier. So dachte ich, er würde meinem eigenen Tun und Denken nicht im Wege stehen.“ Eine späte Selbstaussage Hildesheimers aus dem Jahr 1986 soll davor bewahren, hier in die falsche Richtung zu deuten, für ihn „... waren das einfach doch mythische Figuren, und es war mir um eine Deutung zu tun, die heute, so wie die Welt jetzt ist, eine Tendenz aufzeigen könnte. Es waren also Umdeutungen, aber bestimmt nicht der Situation der Frau.“
Helena demonstriert ein Selbstbewusstsein nicht ohne Selbstironie: „Ich finde, dass ich es mir leisten kann, die Dinge beim Namen zu nennen. Schließlich bin ich göttlicher Abstammung.“ Wie das aussieht, wenn sie es tut, hört sich so an: „Der größte Fehler, den Herrscher machen können, ist der, das Objekt der Begeisterung für ihr Volk aussuchen zu wollen.“ Zu DDR-Zeiten wäre das in den Notiz-Büchern der „Stellen“-Sucher gelandet, „Das Opfer Helena“ aber erschien nicht in der DDR. Heute wissen wir, dass nicht nur „Herrscher“ tendenziell dazu neigen, so zu verfahren, sondern auch politische Parteien in demokratisch-rechtsstaatlichen Strukturen. Bisweilen entfaltet sich dann, was kluge Köpfe einen politisch-medialen Komplex nennen. Als Helena gehört hat, wie sich Gatte Menelaos alles denkt, wie er die Flucht oder Entführung geradezu wünscht und deshalb begünstigt, sagt Helena zu ihm: „Skrupellosigkeit ist auch nicht gerade die Eigenschaft, die eine Frau an einen Mann fesselt.“ Und auch dies: „Kein Straßengerücht erhält dadurch Gewicht, dass es auf Wahrheit beruht, lieber Menelaos, sondern einzig und allein dadurch, dass es von zuständiger Seite hartnäckig geleugnet wird.“ Ein Heimchen am Herd ist diese Helena auf alle Fälle nicht.
Helenas Tochter Hermione erfüllt schon mit fünfzehn, später auch mit 25 Jahren fast alle Kriterien und Eigenschaften, die heute mit dem etwas aus der Nutzerhaftung gefallenen Wort „Gutmensch“ zu verbinden sind und wie mehrfach schon hier und bei anderen Texten von Hildesheimer staunt man, wie früh er einen Typus sieht und formt, der 1955 oder 1959 wohl kaum eine auffällige Rolle spielte im öffentlichen Wahrnehmungsfeld. Helena zu ihrer Tochter: „Ich will dir etwas sagen, Hermione: in deinem Alter hat man viele Idealbilder. Aber je älter man wird, desto mehr verschwimmen sie, sie werden undeutlich, erblassen. Und wenn sie nicht mehr sichtbar sind: das ist ein Zeichen, dass man erwachsen geworden ist.“ Und zu sich selbst wie dem Publikum: „Ich meine: unsereins – die Unvollkommenen – müssen auch den vorbildlichen Menschen auf dieser Welt hin und wieder Gelegenheit geben, sich zu entspannen“. Wenn die Vorbildlichen durch Dauerspannung aggressiv werden, können Systeme ins Ungleichgewicht driften, mag ich daraus ableiten, selbst wenn es Hildesheimer gar nicht so dachte. Er war sicher selbst gern ein „Unvollkommener“ und stand sich auf diese Weise im Nebeneffekt gleich mit bei. Das ist ein sympathischer Zug.
Immer wieder darf Helena die starken Sätze sagen: „Gespräche, die mit Ehre beginnen, sind selten interessant – und für Frauen sind sie es nie.“ Und: „Mit einem wandelnden Standbild kann niemand etwas anfangen, und eine Frau am allerwenigsten.“ Paris ist plötzlich sehr zielstrebig und will nach Troja und es erweist sich, dass er im Auftrag kam, denn auch die Trojaner wollen Krieg, alles andere war nur ein Täuschungsversuch, solange Menelaos noch im Haus war, wie Paris versichert. Vorher aber gibt Helena weiter die Lebenserfahrene ihm gegenüber: „Wenn du erst älter bist, lieber Paris, wirst du vielleicht einsehen, dass das Schuldgefühl nicht das schlechteste der Gefühle ist.“ Das erinnert mich an einen Brief, den Geno Hartlaub am 23. März 1948 aus Heidelberg an Hildesheimer schrieb, beide kannten sich von der heute nur noch berüchtigten Odenwaldschule her. Geno Hartlaub (7. Juni 1915 – 27. März 2007) schrieb: „Schuld ist ein menschliches Urphänomen, sie muss auch dann, wenn sie nicht fassbar ist, anerkannt und getragen werden.“ Diese Sicht könnte sich Hildesheimer eingeprägt haben, sie war gerade in Deutschland nach 1945 sehr lange für sehr viele alles andere als mehrheitsfähig. Nur Paris war dabei für Helena der falsche Ansprechpartner.
Bis zur Einsicht ist der Weg für Helena nun nur noch kurz, dann sagt sie: „Ich war also das erste Opfer des Trojanischen Krieges. Ich war das Opfer des Menelaos und des Paris, das Opfer der Griechen und der Trojaner. Aber letzten Endes war ich doch nur mein eigenes Opfer. Ich liebte die Männer, aber die Männer liebten den Trojanischen Krieg.“ Warum ist eigentlich eine solche weite Opferperspektive mit der Zeit wieder verloren gegangen oder verschüttet worden? Es gehen Menschen um, die anderen am liebsten verbieten würden, sich als Opfer zu fühlen und keine Gelegenheit auslassen, das auch öffentlich zu artikulieren, und es gehen Menschen um, die ihr Opfersein wie in einem Bauchladen vor sich her tragen, penetrant sind beide. „Das Opfer Helena“ ist kein Opfer der platten Lesart, die würde sie sich verbitten, Wolfgang Hildesheimer das auch nicht als seine Umdeutung gelesen wissen wollen. „Ein Heldentod, lieber Menelaos, setzt ein Heldenleben voraus.“ sagt Helena. Man muss nicht lange nachdenken, vor welchem Horizont der Simultandolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen, der deutsch-jüdische Emigrant des Jahres 1933 seiner Protagonistin solche Worte in den Mund legt.
Menelaos, neben dem greisen Nestor und Agamemnon einer der wenigen überlebenden griechischen Könige, drischt am Ende in Sparta wieder die Phrasen, die er am Anfang schon in einer Rede vortrug, von Helena laut Regieanweisung unterbrochen, wie man einen Radiosender abschaltet. Helena kommentiert: „Das also war der Nachkriegsmenelaos. Er wäre eine tragische Figur gewesen, aber zu einer tragischen Figur wäre er zu lächerlich und zu verachtenswert.“ Ihrer jetzt zehn Jahre älteren Tochter Hermione sagt Helena: „... man rühmt zwar Menschen, die unerschütterlich in ihren Ansichten sind. Aber letzten Endes – glaub mir! - bedeutet es ja doch nur, dass sie der Überzeugung durch andere nicht zugänglich sind und in ihr nichts sehen als das, was sie sehen wollen: nämlich die Bestätigung der eigenen Meinung!“ Die Herausgeber der durchaus verdienstvollen Stuttgarter Reclam-Anthologie „Mythos Helena“ haben zweieinhalb Seiten des Hildesheimer-Stückes nachgedruckt. Darunter auch diesen Satz: „Immerhin: es war eine Genugtuung für mich, dass dieser Krieg niemandem genützt hat.“ Auch eine kluge und 41 Jahre alte Helena kann sich einer Evidenz vorgaukelnden Illusion mit Verve hingeben, wie es scheint.