Rainer Maria Rilke: Geschichten vom lieben Gott
„Der sterbende Rilke verweigerte sich jedem ärztlichen Eingriff. Er wolle, sagte er, seinen eigenen Tod sterben, nicht den Tod der Ärzte.“ So hat es Franz Blei in seiner „Erzählung eines Lebens“ festgehalten, zuerst 1930 im Leipziger Paul List Verlag erschienen, später im Paul Zsolnay Verlag Wien. Das klingt heute frappierend modern, wie einem der so genannten Diskurse um Apparate-Medizin und Sterbehilfe entnommen. Rilkes Tod am 29. Dezember 1926 im Hospital Val Mont oberhalb von Montreux war mit großen Schmerzen verbunden, wie sein letzter Eintrag in seinem Taschenbuch von Mitte Dezember belegt. „Ganz rein, ganz planlos frei von Zukunft stieg / ich auf des Leidens wirren Scheiterhaufen, / so sicher, nirgend Künftiges zu kaufen / um dieses Herz, darin der Vorrat schwieg.“ Franz Blei meinte: „Wenn Leben die Kunst ist, hinreichende Schlüsse aus unzureichenden Prämissen zu ziehen, so ist die am wenigsten unzureichende Voraussetzung die Tatsache, dass wir sterben.“ Und lässt einen merkwürdigen Satz folgen: „Menschen, denen das Sterben so von frühauf geläufig ist, verspüren etwas wie Scham, dass sie leben.“ War solche Scham ein Hintergrund von Rilkes Ruhelosigkeit? Zwei Wochen nach der Beisetzung auf dem Friedhof der Burgkirche von Raron im Kanton Wallis gab es in Berlin eine Rilke-Feier mit einem ganz besonderen Redner: Robert Musil gedachte am 16. Januar 1927 des toten Dichters.
Musil erkannte in den deutschen Reaktionen auf die Todesnachricht, „was ich kurz ein ehrenvolles öffentliches Begräbnis zweiter Klasse nennen möchte.“ Er bat seine Hörer, sich vorzustellen, wie das in anderen Fällen verlaufen wäre, er nannte natürlich keine Namen: „Wie man eine Trauer der Nation daraus gemacht und das Ausland aufgefordert hätte, zu sehen, wie wir trauern!“ Der Verlust Rilkes wog, so Musil, der Öffentlichkeit kaum so schwer wie eine Film-Premiere. „Rilkes Tod war kein Anlass. Er bereitete der Nation kein festliches Vergnügen, als er starb.“ Das ist so formuliert, dass man kaum anders kann als stutzen: ein festliches Vergnügen? Wir Viel-später-Geborenen haben uns an die Standard-Verbalisierungen solcher Tode in den Hauptnachrichten gewöhnt, damals hatten noch Printmedien uneingeschränkte Deutungshoheit, der Rowohlt-Verlag brachte Musils Matinee-Rede aus dem Renaissance-Theater mit Nachsatz sofort als Sonderdruck. Und damit auch den ersten Einfall, den der Redner sich als Antwort zurechtlegte auf die Frage, warum man an diesem Januar-Sonntag zusammenkam: „... weil wir den größten Lyriker ehren wollen, den die Deutschen seit dem Mittelalter besessen haben!“ Warum er den Satz dann doch nicht so in den Raum stellte, ist Gegenstand der nächsten Überlegungen Musils und soll hier nicht kommentiert werden. Wichtig allein der natürlich nicht überraschende Fokus auf den Lyriker Rainer Maria Rilke.
Die „Geschichten vom lieben Gott“ sind keine Lyrik, wenn sie auch den Lyriker verraten, der sie schrieb. Und zwar in einer diese Prosa des noch nicht 25-jährigen bereichernden Weise, in einer sie geradezu auszeichnenden Weise. Rilke soll sie in nur wenigen Tagen niedergeschrieben haben, von sieben Tagen ist die Rede, ein Schelm, wer dabei an die sieben Tage denkt, die der Titel-Held für seine Welt-Schöpfung benötigte. Letztmals auf Musil zu kommen: „Dieser große Dichter hat nichts getan, als dass er das deutsche Gedicht zum erstenmal vollkommen gemacht hat … Er gehört zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages.“ Hier darf man, meine bescheidene Thesen jedenfalls lautet so, diese „Geschichten vom lieben Gott“ durchaus einbeziehen, auch und gerade wenn sie Formen der Volksdichtung bisweilen sehr nahe stehen, wenn sie beispielsweise die russischen Bylinen sogar ausdrücklich nennen in ihrer vorbildlichen Wirkung. Es steht natürlich autobiographischer Erfahrungshorizont hinter den Geschichten: die Reise nach Florenz und in die Toskana von April/Mai 1898 sowie die erste Russland-Reise von April bis Juni 1899 gemeinsam mit dem Ehepaar Lou Andreas-Salomé und Friedrich Carl Andreas. Der 1900 eine zweite folgte, mit Lou Andreas-Salomé allein, die ins Buch aber keine Wirkung mehr erzielen konnte, es war geschrieben: dreizehn Geschichten, die zeitlich und inhaltlich eng verbunden sind.
Manche Geschichte setzt die vorige direkt fort, allen ist ein Ich-Erzähler eigen, alle haben etwas wie eine Rahmenhandlung und ein Binnengeschehen. Vor allem aber wachsen alle aus Mündlichkeit, alle kommen Kindern zu Ohren, wenn auch meist erst in nächster Instanz. Der Erzähler hat jeweils Zuhörer, die die Geschichten erzählt bekommen in einer kaum geheimnisvollen Wirkungsabsicht, und wenn es nur die ist, dass sie weiter gegeben werden. Einmal ist die Dunkelheit Zuhörerin und selbst die ist es nicht nur passiv. Wer ohne gemeinsame Nenner nicht auskommen kann, die ins Tiefere zielen, mag sich mit der Aussage anfreunden, dass Rilke in diesen Geschichten einen sehr eigenen Pantheismus entfaltet. Im berühmten Brief an Ellen Key (11. Dezember 1849 – 25. April 1926) vom 3. April 1903 steht: „In der Militärschule, nach bangen, langen Kämpfen gab ich meine heftige katholische Kinder-Frömmigkeit preis, machte mich frei von ihr, um noch mehr, noch trostloser allein zu sein; von den Dingen aber, von ihrem geduldigen Dulden und Dauern, kam mir eine neue, größere und frommere Liebe, irgend ein Glaube.“ Da steckt er noch, der alte Glaube, der die Umschreibung des neuen diktiert. In den Geschichten, das ist eine ihrer Botschaften, kommt der liebe Gott auch dann vor, wenn er weder sichtbar wird noch irgend von ihm die Rede ist. Und alles ist weit weg von aller spitzfindigen Theologie, dieser liebe Gott ist bis ins Detail menschlich.
Dazu passt, und nie wirkt er künstlich, der Märchenton, der fast durchweg angeschlagen ist. Die Geschichten steigern sich zu großer Schönheit, zu größter bisweilen gar. Und immer ist von Kindern, von den Kindern die Rede, die einen Kontrast bilden zu den Erwachsenen, die den Reichtum ihres Kindseins verloren haben. Für den Rilke dieser „Geschichten vom lieben Gott“ sind die Kinder etwas wie eine letzte Instanz, etwas wie ein im zeitlich-wörtlichen Sinne jüngstes Gericht. Das ist groß erfunden, mehr als einmal herrlich poetisch, mehr als einmal frappierend bildhaft in Worte gesetzt, es ist Dichtung in Prosa. Eben deshalb darf die Frage gestellt werden, warum selbst ausgewiesene Rilke-Kenner so überaus achtlos mit aller Rilke-Prosa umgehen, der „Malte Laurids Brigge“ ausgenommen, die Briefe ihres schieren Umfangs wegen auch. Wer der frühen Lyrik Qualität pauschal abspricht, sollte der nicht wenigstens auf die Erzählprosa schauen, ob sich da mehr findet und wenn ja, aus welchen Gründen vielleicht? Oder passen diese scheinbar so naiven Geschichten nicht zu einem Rilke, der für „Duineser Elegien“ und „Sonette an Orpheus“ zu stehen hat, sind sie trotz oder wegen des lieben Gottes zu irdisch, sprechen zu sehr für sich selbst und sind also keiner Interpreten bedürftig? Sind diese vielleicht böse und reagieren mit Ignoranz, wenn Dichtung direkte Wege zu Hörern und Lesern findet ohne einen unnötigen Umweg über sie?
Nur zwei der dreizehn Geschichten sind schon im Titel als Märchen gekennzeichnet, „Das Märchen von den Händen Gottes“ und „Ein Märchen vom Tod und eine fremde Nachschrift dazu“. Die Kinder, erfahren wir gleich aus dem ersten Märchen, es eröffnet den Band, haben die Möglichkeit und Fähigkeit, Gott zu sagen, wie der Mensch wirklich ist. Nächst den Kinder haben ähnliche Fähigkeiten „dann und wann auch diejenigen Leute, welche malen, Gedichte schreiben, bauen“. Gott ist in diesem Märchen mit seiner Schöpfung und den Menschen nicht ganz fertig geworden, weil eben der Mensch den Händen Gottes vorzeitig entfiel und Gott seinen Händen anschließend deshalb böse war. Die Hände Gottes können bei Rilke sprechen. Die Vögel haben auf Fürbitte der Engel Flügel bekommen, „damit es auch auf Erden so etwas wie Engel gebe“. Nein, mit Kitsch hat das nichts zu tun. Auch dem Wind wird Seltsames nachgesagt: „... den Wipfeln der Bäume wich er noch mit einem gewissen Misstrauen aus.“ Und wenn im Himmel der heilige Nikolaus die Tür zuschlägt, kann es geschehen, dass ein Stern herunterfällt und dann genau auf den Kopf eines Terriers. Auch in der zweiten Geschichte, die „Der fremde Mann“ heißt, spielen die Hände Gottes noch eine Hauptrolle. Und: „Die Kinder haben diese Geschichte erfahren, und offenbar wurde sie ihnen so erzählt, dass sie alles verstehen konnten; denn sie haben diese Geschichte lieb.“
Eine Botschaft, ich benutze dieses altmodische Wort sehr bewusst, eine Botschaft dieser Geschichten wäre, dass es wenig Unterschiede gibt zwischen den Geschichten für Erwachsene und denen für Kinder. In der dritten Geschichte geht es zwar immer noch um den Gott, der wissen wollte, wie seine Menschen sind, aber es geht auch um einen Lehrer, ja um die Lehrer: „Es ist immer schlimm für einen Lehrer, wenn die Kinder plötzlich etwas wissen, was er ihnen nicht erzählt hat. Der Lehrer muss sozusagen das einzige Loch in der Planke sein, durch welches man in den Obstgarten sieht; sind noch andere Löcher da, so drängen sich die Kinder jeden Tag vor einem anderen und werden bald des Ausblicks überhaupt müde.“ Der Lehrer sagt zum Ich-Erzähler: „Zunächst finde ich es unrecht, religiöse, besonders biblische Stoffe frei und eigenmächtig zu gebrauchen.“ Das ganze Buch ist ein Argument gegen diese Pädagogen-Sicht. Seine Geschichten haben Gott in sich und machen ihn Kindern zugänglich. Ohne auch nur entfernt katechetisch zu werden. Denn hier hat Gott einen zweiten Versuch, wenn der erste missriet, hier stirbt er beinahe, wenn er viel Blut verliert. Und Rilke zaubert einen Wundersatz: „Der Lehrer nahm seine Brille ab und putzte sorgfältig die Gläser, während seine nackten Augen sich schämten.“ Da gibt es einige Rilke-Gedichte, die sehr deutlich sehr viel schlechter sind und Kinder verstehen sie nie.
In der vierten Geschichte wird Ewald eingeführt, ein Nachbar, der nicht laufen kann und deshalb immer am Fenster sitzt. Man müsste ihn heute mindestens einen Gehbehinderten nennen, vielleicht auch einen Mobilitätseingeschränkten, Rilke nennt ihn schlicht den Lahmen, auch in der Bibel gab es Blinde und Lahme, denn Luther hatte zu seiner Übersetzung das „Handbuch der korrekten Wörter“ einfach nicht in Griffnähe. Ewald ist geradezu begierig, Geschichten zu hören, er reicht sie weiter, er fordert sogar nach ihnen, wenn es nicht anders geht. Ewald kommt mehrfach vor. Und dann geht es um Russland: „Wie viel man auch aus Europa bringen mag, die Dinge aus dem Westen sind Steine, sobald sie über die Grenze sind.“ Man redet über die Bedeutung des Niederkniens und der Erzähler weiß, dass Deutsche darin gern eine Sklavengeste sehen. Er aber sieht das anders, er sagt, dass es gut sei, „wo noch Raum und Zeit dafür ist, die Gebärde auszuschreiben, das ganze schöne und wichtige Wort: Ehrfurcht.“ Und der Lahme versteht ihn. Die Binnengeschichte berichtet von einem Zaren, der den als Bauern, der allein eine Kirche baut, in Erscheinung tretenden lieben Gott betrügen will. Auch diese Geschichte kommt umgehend zu den Kindern: „Aber wenn einer eine wirkliche Geschichte weiß, glauben Sie, das kann verborgen bleiben?“ Die dreizehn des Buches treten, nur innerhalb des Buches natürlich, den Beweis an. Es bleibt nicht verborgen.
Nun nenne ich meine beiden Lieblingsgeschichten. Die erste heißt „Wie der alte Timofej singend starb“, die andere „Wie der Fingerhut dazu kam, der liebe Gott zu sein“. Es geht um das Leben von Geschichten, um die besondere Freude, einem lahmen Menschen zu erzählen, um eine Sohnesliebe, die auf Frau und Kind verzichtet, damit einer da sei, der nach dem Tod des Vaters Timofej die Lieder weiter trägt. „Jegor saß am Rande des Ofens, auf welchem der Vater lag, und kam mit dem Ohr bisweilen dem Munde des Alten entgegen; denn dieser sang in der Tat.“ Der Erzähler in der anderen Geschichte begibt sich in einen Dialog mit den Abendwolken, die auch darauf eingehen, als er ihnen erklärt hat, selbst eine Abendwolke zu sein. Und dann erzählt er ihnen von den Kindern, die einen der Mutter entwendeten Fingerhut zum lieben Gott erklären, den jedes von ihnen die Woche über bei sich tragen darf, bis ein kleines Mädchen ihn verliert. „Wer den lieben Gott gerade hatte, konnte man auf den ersten Blick erkennen. Denn der Betreffende ging etwas steifer und feierlicher und machte ein Gesicht wie am Sonntag.“ Die Zwiegespräche mit den Wolken sind herrlich, die Selbstverständlichkeit der Kinder-Logik ist herrlich, die Nebensätze über die Erwachsenen sind herrlich und natürlich ist der Mann, der zum Schluss das kleine Mädchen bei der Hand nimmt und ihm erzählt, er habe einen sehr schönen Fingerhut gefunden, der liebe Gott selbst.
Wie albern wäre es, solchen poetischen Pantheismus als getarnten Atheismus zu verstehen, was hätte Rainer Maria Rilke vor wem zu tarnen gehabt? Es waltet hier, wenn es das geben könnte, eine pantheistische Inbrunst. Seine Dinge leben, sagt der Erzähler und dann hat er einen Humor, den manche Humoristen in ihrem ganzen Leben nicht entwickeln: „Sie können verschiedenes werden, und ein Ding, welches als Bleistift oder als Ofen zur Welt // kommt, muss deshalb noch nicht an seinem Fortkommen verzweifeln.“ In „Ein Märchen vom Tod und ein fremde Nachschrift dazu“ beobachtet der liebe Gott, wie sich das Beten verändert hat, sieht Kirchen, die himmelwärts ihm entgegenwachsen. „... da ging er auf der anderen Seite aus seinen Himmeln hinaus und entzog sich so der Verfolgung“. Und der Wunsch wird in ihm stark, „in den Herzen der Menschen zu wohnen und nicht mehr durch das klare, kalte Wachsein ihrer Gedanken zugehen.“ Der lahme Ewald will nun auch etwas aus Italien hören und der Erzähler erzählt ihm von Gott und von Michelangelo, die den Stein belauschen. Herrlich, wunderbar poetisch, grandios. „Was wir Frühling fühlen, sieht Gott als eine flüchtiges kleines Lächeln über die Erde gehen. Sie scheint sich an etwas zu erinnern, im Sommer erzählt sie allen davon, bis sie weiser wird in der großen, herbstlichen Schweigsamkeit, mit welcher sie sich Einsamen vertraut.“ Und Gott schaut auf Michelangelo und den Stein.
„Gott aber erkannte nur eines: die Kraft Michelangelos stieg wie Duft von Weinbergen zu ihm empor. … Und da fühlte Gott, dass er auch im Steine sei, und es wurde ihm ängstlich und enge.“ Benötigt das irgendeinen kommentierenden oder interpretierenden Satz? Gott im Stein fühlt sich eng und ängstlich? In „Eine Szene aus dem Ghetto in Venedig“ gibt es den alten Melchisedek, der seine Wohnung im mangels Platz nach oben strebenden Ghetto immer weiter in die Höhe verlegt, auch wenn es ihm das Alter immer schwerer macht. Er will das Meer sehen, das er noch nie sah, obwohl er in Venedig lebte sein langes Leben lang. Auch diese hätte einer meiner beiden Lieblingsgeschichten im Buch sein können. Aber zwei sind eben nicht drei. In „Das Lied von der Gerechtigkeit“ sagt der Erzähler zu Ewald: „Die anderen jagen den Tagen nach, und wenn sie mal einen erreicht haben, sind sie so atemlos, dass sie gar nicht mit ihm sprechen können. Sie aber, mein Freund, sitzen einfach an Ihrem Fenster und warten; und den Wartenden geschieht immer etwas.“ Und wenn der Tod zu ihnen kommt. „Denn der Tod ist träge; wenn die Menschen ihn nicht fortwährend stören würden, wer weiß, er schliefe vielleicht ein. … Man muss abseits gehen in irgendeine unzugängliche Stille, und vielleicht sind die Toten solche, die sich zurückgezogen haben, um über das Leben nachzudenken.“ Vielleicht ist auch der tote Rainer Maria Rilke so ein Toter.