Marie Luise Kaschnitz: Der Zöllner Matthäus
Es sind manchmal pure Zufälle, die Dinge parallelisieren, die wenig bis nichts miteinander zu tun haben. Als ich mit der Vorbereitung dieses Textes fertig war, fiel mir ein Artikel aus dem ZEIT- Feuilleton aus dem vorigen Jahr in die Hände, in dem eine Autorin dafür warb, den französischen Maler Henri Rousseau (21. Mai 1844 – 2. September 1910) nicht fortgesetzt und ausschließlich immer unter dem Aspekt „der Zöllner“ Rousseau zu sehen und zu interpretieren. Rousseau, der als Klarinettist in einem Infanterieregiment gedient hatte, fand nach seinem Militärdienst eine Anstellung beim Zoll, das machte ihn vermeintlich für alle Zeiten zu „Le Douanier“. Matthäus, dessen Name für das erste der vier Evangelien im Neuen Testament steht, wird auch Zöllner genannt und zwar ausschließlich auf der Basis eben dieses Evangeliums, denn Markus und Lukas haben zwar den Namen, nicht aber das Attribut Zöllner. Ist es bar jeder Logik, ein Hörspiel mit dem Titel „Der Zöllner Matthäus“ just mit jenem Matthäus in Verbindung zu bringen, den kanonische Überlieferung sowohl als Evangelisten als auch als Apostel sieht? Der wissenschaftliche Disput geht unter anderem darum, ob es sich um eine oder zwei Personen handelte, die Argumente für die eine wie die andere These sind hier ohne Belang. Von Belang ist allerdings, dass das in Rede stehende Hörspiel von Marie Luise Kaschnitz, seltsam genug, ohne Bibelbezug gelesen wurde.
Wohl wird angemerkt, es sei auffällig, dass die Hörspielautorin Kaschnitz auffallend oft auf mythologische und biblische Stoffe zurückgriff, das war es dann auch schon. Dann aber gibt es, wo „Der Zöllner Matthäus“ überhaupt eine Rolle spielt, seltsame Anmerkungen, seltsame Deutungen. „Reclams Hörspielführer“ von 1969, verantwortet von Heinz Schwitzke, ohnehin auf wenig mehr als Inhaltsangaben beschränkt, legt sich erstaunlich deutlich fest: „Seine Belesenheit hat seinen Blick für das besondere der Grenze geschärft: für das Nirgendwosein und für die Menschen. Und sie hat ihm gezeigt, worauf es ankommt: aufs Wachsein, aufs Bereitsein – bereit, mit einem mitzugehen, der ihn auffordert, sein Schreiber zu werden.“ Das klingt wie spätexistenzialistische Lebensphilosophie, nicht wie Antike. Dies wäre ein Matthäus, dessen reale Grenzerfahrung ohne Not als, Verzeihung, ontologische gedeutet wird, obwohl wir bei Kaschnitz noch nicht einmal erfahren, an welcher Grenze in wessen Dienst denn der Zöllner überhaupt seinen Dienst versieht. Er hat einen Hauptmann über sich, er ist über das normale Maß hinaus schreibkundig, er ist sehr pflichtbewusst und ganz zweifellos auch beliebt bei den Menschen, mit denen er zu tun hat. Man lernt ihn kennen als einen, der trotz hoher Belastung Bitten nicht abschlagen kann, als einen, dem unterstellt wird, er sei zu mehr und vor allem Höherem berufen als zu genau diesem Dienst.
Im Hörspiel, das in elf Szenen gegliedert ist, treten zwei Ereignisse zeitgleich ins Zöllner-Leben des Matthäus. Ein sehr reicher Mann, der Reeder Georgius, kündigt sich an, ihm zu Ehren wird dann auch Theater gespielt. Und eine nicht bezeichnete, nur beschriebene Sekte, eine Jüngerschar, erwartet einen Mann, dessen Name bis zum Ende nicht genannt wird, der aber zweifelsfrei Jesus ist. Marie Luise Kaschnitz erzählt, dass dieser, ein Menschenfischer, den Zöllner in seinen Bann zieht und es ohne Worte schafft, dass Matthäus ihm folgt, ohne förmlich seinen Dienst aufzukündigen, seine Vorgesetzten davon zu informieren oder überhaupt Erklärungen abzugeben. Am Ende der elften Szene ist er weg, die Zurückgebliebenen müssen die Tatsache hinnehmen. Nur das blinde Mädchen Mirjam zeigt sich glücklich über das, was geschah. Und die Tänzerin Doris sagt: „Er ist draußen unter den Platanen gegangen wie einer, der über die Dächer wandelt im Schlaf.“ Im Hörspielführer heißt es zusammenfassend: „Doch als der Herr sich abwendet, wird es dunkel um Matthäus, er weiß nicht mehr, was für ein Glück es war, das er nicht verlieren wollte, er kennt nun seinen Weg und die Bedeutung seines Traums. Als das Zeichen des Boten ertönt, ist Matthäus schon nicht mehr zu finden.“ Der Bote ist jener des reichen Reeders, der wohl auch auf der Suche nach einem Schreiber war. Jesus hat einen Zeugen seines Lebens gefunden, der es erzählen wird.
Einen anderen Schluss lässt das Hörspiel aus dem Jahr 1956 nicht zu. Um so erstaunlicher, wie bereits gesagt, das auffällige Absehen von diesem Umstand in der ohnehin spärlichen Literatur zum Hörspielschaffen von Marie Luise Kaschnitz. Stefan Bodo Würfel, geboren am 28. März 1944, hat für seinen Originalbeitrag zum Sammelband „Marie Luise Kaschnitz“ in der Reihe „suhrkamp taschenbuch materialien“ ausschließlich auf den Hörspielführer zurückgegriffen, unter Philologen eine beinahe strafbare Handlung, und formuliert deshalb nicht mehr als eine kaum getarnte Paraphrase zum Text des Nachschlagewerkes. Das liest sich dann so: „Die überall spürbare Grenzsituation, in der der Mensch sich befindet, spürt auch der Zöllner Matthäus … Wenn es am Schluss von Matthäus heißt, er habe die Grenze überschritten, so ist es noch immer die eine selbe Grenze, auf die auch die anderen Hörspiele verweisen ...“. Das legt, Verzeihung, die Folgerung nahe, Würfel habe das Hörspiel selbst auf keinen Fall gelesen. Nur weil, was für den Zöllner-Beruf ja nicht wirklich überraschend ist, Matthäus Dienst an einer Grenze tut, geht es hier um alles eher als Grenzerfahrungen oder gar, das Wort ist geistesgeschichtlich fixiert, um eine „Grenzsituation“. Eher geht es, und zwar vollkommen unspektakulär, um eine lebendig-anschauliche Geschichte, wie sie sich und ihren Hörern die ihr Christentum nie verleugnende Dichterin bildhaft machen will.
Was geschah, als Matthäus sich aus einem Zöllner in einen Evangelisten und/oder Apostel verwandelte? Das könnte auch Gegenstand eines „Worts zum Sonntag“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sein, oder einer Bibelstunde im Vorfeld der Konfirmation. Marie Luise Kaschnitz hat ein Hörspiel daraus gemacht. Und damit hat sie in den Augen mindestens einer Kritikerin eine Sünde gegen sich selbst begangen. Die am 21. April 1928 in Zweisimmen, Kanton Bern, geborene Elsbeth Pulver war es, die im Band 40 der Reihe „Autorenbücher“, der zehn Jahr nach dem Tod von Marie Luise Kaschnitz im Jahr 1984 erschien, das gesamte Hörspielschaffen der Autorin von „Der Zöllner Matthäus“ auf beinahe kuriose Weise abwertete. „Marie Luise Kaschnitz spielt als Hörspielautorin in der Literaturgeschichte eine nur geringe Rolle: kein Text von ihr ist enthalten in der zu ihrer Zeit wichtigsten Sammlung von Heinz Schwitzke „Sprich, damit ich dich sehe“ ...“, liest man eingangs jener sechs von 175 Druckseiten, die sich überhaupt um die Hörspiele kümmern. Die wichtige Sammlung, die zuerst 1960 im List Verlag erschien und dann bis in die siebziger Jahre immer wieder aufgelegt wurde, enthält auf wenig mehr als 200 Seiten ganze sechs Hörspiele der Autoren Hans Rothe, Wolfgang Hildesheimer, Fred von Hoerschelmann, Peter Hirche, WolfgangWeyrauch und Günter Eich. Dass Kaschnitz hier nicht vertreten ist, spricht auf gar keinen Fall gegen sie.
Die Auswahl spricht noch nicht einmal gegen ihren Herausgeber, denn kein vernünftiger Mensch kann den Anspruch erheben, auf gut 200 Druckseiten eines Taschenbuches eine auch nur in irgendeiner Hinsicht repräsentative Zusammenstellung aus mehr als einem Jahrzehnt eines geradezu exzessiven Hörspielschaffens in der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Über die Qualitäten von Marie Luise Kaschnitz und ihrer Hörspiele sagt dies Büchlein nichts, gar nichts. Auch die beiden anderen Titel, in denen die Hörspiele gar nicht vorkommen, die Pulver anführt, besagen nichts. Sie besagen allerdings sehr viel über selektive Wahrnehmung so genannter Literaturhistoriker, die sich bewusst oder unabsichtlich in einem Maße einschränken, dass man angesichts des noch verbreiteten Vorurteils über eine spezielle philologische Gewissenhaftigkeit nur den Kopf schütteln kann. Pulver liefert peinlicherweise auch eine Erklärung ihrer eigenen Fehldeutung von Tatsachen: „Das könnte seinen Grund darin haben, dass sie in der Literaturgeschichte ohnehin fast ausschließlich als Lyrikerin genannt wird ...“. Der Satz würde nicht besser, wenn es denn DIE Literaturgeschichte überhaupt gäbe. Tatsächlich aber gibt es immer nur mehr oder minder dominante Lehrstuhlinhaber, allenfalls Gruppen mit Haupt und Schule, schon Nachbarordinarien sehen alles anders. Wer Marie Luise Kaschnitz nur als Lyrikerin sieht, ist selbst schuld, liefert damit aber keine Arbeitshypothese.
Im Hörspiel treten neben Tänzerin Doris auch Schauspieler auf und kommen sogar in die Räume, in denen Matthäus seinen Zöllnerdienst versieht. Die Autorin verrät, dass ein Stück gespielt wird, in dem es um einen reichen Mann geht, der von all seinen Freunden allein gelassen wird, als er seinen Reichtum verloren hat. Kaschnitz nennt sogar den Namen des Griechen, dessen Schicksal offenbar voller Absicht dem reichen Reeder Georgius vorgeführt werden soll: Timon. Jeder halbwegs informierte Leser oder Hörer denkt an „Timon von Athen“. Shakespeare hat sich diesen Mann aus dem fünften Jahrhundert hergenommen, in Form des „Misanthrope“ auch Moliere, denn der historische Timon soll, ob es ihn nun wirklich gab oder nicht, ist ziemlich unerheblich, über seiner bitteren Lebenserfahrung zum Menschenfeind geworden sein. Die Betrachter des Hörspiels „Der Zöllner Matthäus“ aber übersehen nicht nur den überdeutlichen Bibelbezug, sondern auch diese Bezüge, die man gar nicht erst Intertextualitäten nennen muss. Das Nennen von parallelen Stellen ist sonst ein ermüdendes philologisches Hauptgeschäft, hier zählte es nicht zu den demonstrierten Kompetenzen. „Ihre Dialoge wirken immer natürlich, nie papieren – ihre Hörspiele halten sich aber durchaus an die Muster der fünfziger Jahre ...“, schreibt Elsbeth Pulver und sagt so abermals mehr über sich als über ihren Gegenstand. Sie verrät eine eigene unsinnige Avantgarde-Fixiertheit.
Hätten experimentelle Hörspiele eher Gnade bei der Schweizerin gefunden? Pulver vermutet, alles sei „darauf zurückzuführen, dass beim Hörspiel das Medium besonders stark bestimmte Gattungsmuster festsetzt und fordert.“ Sie hat weiterhin den Eindruck, „als fürchte die Autorin, in einem so direkt den Hörer ansprechenden Medium nicht verständlich genug zu sein.“ Um dann ihren gewissermaßen finalen Rundumschlag zu führen: „Die restaurative Grundtendenz der Zeit kommt wohl in keinem Werkteil thematisch so deutlich zum Ausdruck wie beim Hörspiel.“ Ist also, mit anderen Worten, das Hörspiel der affirmative Begleittext der Adenauer-Ära in Deutschland? Warum aber muss innerhalb eines Buches über eine Autorin, die als Lyrikerin, als Prosa-Autorin und eben auch aus Verfasserin von anderthalb Dutzend Hörspielen höchste Ehrung und Wertschätzung erfuhr, und das, es soll hier ausdrücklich unterstrichen sein, mit vollem Recht, eine höchst vage Gattungstheorie behauptet werden? Sind Hörspiele, die ihren Ehrgeiz nicht darauf richten, nur von einer vermutlich nie Hörspiele hörenden Elite verstanden zu werden, per Definition minderen Wertes? Was für eine arrogante Sicht steht hinter solchen Implikationen? Anders als die Lyrik-Bände der Kaschnitz, die wie alle Lyrik mit extrem seltenen Ausnahmen nie ein Massenpublikum haben, werden Hörspiele von vielen, bisweilen sehr vielen, zugleich gehört.
Das war um so mehr der Fall, als bis zum Ende der fünfziger Jahre, dann ebbte die Hörspielflut wenig überraschend auch merklich ab, das Fernsehen noch ein Luxus blieb. Anders aber auch als die zahlreichen Erzähl- und sonstigen Prosa-Bände der Autorin, die bewusst das einzig halbwegs massenkompatible Medium Roman nicht bedienten und deshalb, auch deshalb, eher andere Ansprüche machen konnten und wollten. Der Dramatiker kann, Goethes „Faust II“ ist das berühmteste deutsche Beispiel, völlig unbeschadet von der Bühnentauglichkeit seines Textes absehen. Das Lesedrama ist eine gar nicht so exotische Gattung. Das Lese-Hörspiel aber wäre ein Paradoxon. Ein Hörspiel wird für Hörer geschrieben und diese Hörer sind eine anonyme Menge von Menschen, deren Gemeinsamkeit allenfalls darin besteht, dass sie überhaupt Rundfunk hören und im Rundfunk Hörspiele. Mitten im allgemeinen Dudelfunk mit der jeweils besten Musik der diversen Jahrzehnte, also den abgeleiertsten Hits, die man sich denken kann, sind heute Sender, die Hörspiele ausstrahlen, ausgemachte Exoten, es gibt sie, es gibt ihre Freunde und Fans. Mehr nicht. Ich bekenne gern, seit langem Hörspiele nur noch zu lesen, aber ich lese sehr viele Hörspiele. Und ich mag es, wenn ich am Ende des Spieles nicht das Gefühl habe, einem großen Bluff aufgesessen zu sein. Das Hörspiel darf überschaubare Handlung haben, vorstellbare Personen, sogar Spannung.
Marie Luise Kaschnitz hat für „Der Zöllner Matthäus“ Phantasie eingesetzt wie jeder Dramatiker es tut, der einen historischen oder pseudohistorisch-mythologischen Stoff aufgreift und die Lücken der Überlieferung füllen muss, um Stimmigkeit zu erzielen, eine Fabel zu gewinnen. So könnte der Apostel und/oder Evangelist halt einer gewesen sein, der weniger Schreibkundigen die Liebesbriefe stellvertretend verfasste, nebenher und außerhalb seines Dienstes. Dieser Matthäus sagt dann etwa zum verliebten Zöllner-Kollegen: „Weil ihr die Dinge nicht anschaut, gehören sie euch nicht, und weil ihr die Frauen nicht anschaut, laufen sie euch davon.“ Und dann hat er auch noch Humor: „Ich hab noch keine Frau gefunden, die zum Anschauen zu schön gewesen wäre.“ Macht das einen Matthäus, wenn auch nur einen aus der Phantasie, nicht höchst sympathisch? Freilich setzt solche Sicht den Irrsinn voraus, an Literatur auch Inhalte wahrzunehmen, gar wichtig. Kaschnitz meinte das wohl auch. Grenzsituations-Philosophie, tut mir leid, hatte ich im Studium, die Portion war bedarfsdeckend. Ich lache gern mit Literatur oder lasse auch mal, unbeobachtet möglichst, Tränen kullern: beispielsweise bei „Der Tulpenmann“ von Marie Luise Kaschnitz. Das aber wäre ein neuer Gegenstand, Prosa dazu. Ihr Zöllner Matthäus ist ein Mensch. Sie hat ihn, da ist sie auch schreibende Frau, mit einer Anna konfrontiert, die das Essen bringt und Fettflecken auswäscht.
Und sie hat sich didaktischer Deutlichkeit, wie sie Elsbeth Pulver als zu verachtendes Merkmal vieler Hörspiele jener fünfziger Jahre benannte, keineswegs geschämt. Sie lässt fast am Ende des Hörspiels ihren Matthäus sagen: „Ich verstehe jetzt, dass es kein größeres Abenteuer gibt, als das: in der Liebe zu leben. Ich weiß, dass ich nichts Besseres aufzeichnen kann als deinen Weg, der so weit führt und sogar zu den Toten und am Ende ins Paradies.“ Das blinde Mädchen Mirjam, das von seiner bevorstehenden Erblindung nichts wusste, sagt zu Matthäus: „Du bist mit mir spazieren gegangen. Mit einem Kind!“ Habe ich nicht eben erst über den halben Heiligen Milutin bei Heinrich Böll geschrieben, der jede Gelegenheit ergriff, mit armen Kindern spazieren zu gehen? Auch das aus den fünfziger Jahren, es war deren andere Seite, will ich meinen. Matthäus fragt den Boten des Reeders Georgius, was er unter einem gebildeten Mann verstehe und der antwortet: „Einen, der sieht und erkennt. Einen, der hört und begreift.“ Man kann, und genau das beleidigt offenbar eine ganz bestimmte Klientel, Dinge sehr einfach sagen und dennoch oder gerade deswegen sehr richtig. Viele Bibel-Sätze konnten und können das. Nicht zuletzt deshalb, weil sie von Männern, die vielleicht Matthäus hießen, zu Papier gebracht wurden. Über Lukas oder Johannes oder Markus hat Marie Luise Kaschnitz kein Hörspiel geschrieben. Es war ihre Entscheidung, eine gute, denke ich.