Manfred Krug: Schweinegezadder

Mit drei Punkten endet ein Interview, das Manfred Krug Ute König gab, einer Redakteurin der Mitteldeutschen Zeitung, anlässlich eines Gastspiels im Anhaltinischen Theater. Krug sagte auf die Frage nach seinen Plänen: „Mancher stirbt mitten in der Arbeit, die er sich zu lange zugetraut hat. Am Ende dieses Jahres steht bei mir zum ersten Mal die Acht. Vielleicht mache ich noch eine letzte CD mit Songs, die mich durchs Leben begleitet haben. Oder nur mit Songs, die ich zum ersten Mal singe …“. Heute ist das Jahr zu Ende, von dem er sprach, den Geburtstag mit der erstmaligen Acht vorn kann er nicht mehr feiern, denn am 21. Oktober 2016 endete sein Leben. Nicht wenige seiner Fans konnten das gar nicht glauben. Die Nachrufe quollen von Lobeshymnen und Superlativen über. Dass Manfred Krug neben „Abgehauen“ und „Mein schönes Leben“ auch ein Bändchen mit neun Kurzgeschichten veröffentlicht hat, spielte in den Reminiszenzen kaum eine Nebenrolle. Das hat durchaus seine Ordnung. Denn Krug war zwar sehr früh auch schon ein Autor, ein Lyrik-Schreiber sogar (und Texter eigener Liedtexte), doch dominieren in seinem Leben zweifellos und in jeder Hinsicht seine Schauspielerei, sein Singen: allein oder in den unvergesslichen Duetten.

Wer nach den im Untertitel „Schöne Geschichten“ genannten Stücken fiktiver Prosa greift, die den vor allem neugierig machen sollenden Titel „Schweinegezadder“ tragen, der Text liest sich herrlich, erfüllt aber im Kontext vielleicht nur ein Credo seines Verfassers, wird nicht nur nicht enttäuscht werden, er wird feststellen, dass waggonweise zeitgenössische Literatur hauptberuflicher Verfasser daneben recht blass aussehen. Das Credo noch rasch: „Das Büchlein ist aus nichts als Erzählfreude entstanden.“ Ein Schauspieler und alle die ihn lieben, die das Schauspiel überhaupt lieben, wissen, was Spielfreude ist. Auf der Bühne sieht und spürt man sie, im Film natürlich nicht, da kann man sie allenfalls ahnen und bei den großen Mimen fällt das Ahnen leicht, aber Erzählfreude ist etwas wie Spielfreude, nur würden Autoren, insbesondere deutsche Autoren, wohl zuerst stutzen und dann einen Schluckauf bekommen, würden sie aufgefordert, sich zu einem Wesenszug wie Erzählfreude zu bekennen. Man lese, was selbst harmlose Geister bisweilen auf Klappentexten von sich geben, um ihre durchaus netten Nichtigkeiten mit Schwere und Tiefe zu befrachten. Es hilft, ungetrübten Genuss, Lesefreude zu empfinden an dem, was „Manne“ Krug als Altersrentner niederschrieb.

Cornelia Geißler, noch immer für die BERLINER ZEITUNG tätig, erhielt auf ihre schriftlich eingereichten Interview-Fragen im August 2014 unter anderem diese Antwort: „Mit 65 ging ich in Rente und fing eines Tages an, es einmal mit dem Schreiben von Kurzgeschichten zu versuchen. Ich hatte keine Ahnung, dass die Sache knifflig werden würde, vor allem deshalb, weil die Geschichten sich teilweise zu Langgeschichten entwickelt hatten.“ Was für ein Schelm, dieser Krug: erfindet er zum gängigen Wort Kurzgeschichten mal eben so nebenher das komplementäre Langgeschichten! Wobei natürlich wirklich lange Geschichten gar nicht seine Sache sind. Im augenfreundlichen Druck des Ullstein-Verlages kommen die längsten der neun auf nicht viel mehr als zwanzig Druckseiten. Das brauchen andere Autoren für einen einzigen Satz ohne Punkt, Komma, Semikolon und mit Kleinschreibung, damit der Leser auch richtig wuschig wird und wild und das Buch in die Ecke schmeißt, wo es dann leider nicht kleben bleibt. Also, entnehmen wir der Antwort, auch ein Manfred Krug musste Schreiberfahrungen sammeln: Erzählfreude und Lernfähigkeit schließen sich keineswegs aus. Und wenn man da und dort an den oder den erinnert wird, ist das kein Drama.

Peter Richter hat in seinem Interview mit Krug für die FRANKFURTER ALLGEMEINE 2008 seinem Gesprächspartner den Namen Roald Dahl entlockt, ist dann aber nicht weiter darauf eingegangen, weil ihn Peter Hacks mehr interessierte, der in der Geschichte „Hippel und Strack“ dem Hippel ein wenig zum Vorbild diente, was Krug keineswegs verleugnete, obwohl es letztlich nicht wirklich wichtig ist. „Hippel und Strack“ ist für Freunde der guten alten DDR keineswegs nur in Westsachsen oder Ostthüringen von höchstem Genusswert. „Es gab auch angenehme Sachen im alten Osten, zum Beispiel, dass es den dortigen Künstlern, wenn sie gewitzt waren, nicht so schlecht ging wie jetzt den gesamtdeutschen, von denen die meisten am Hungertuch nagen. Am besten hatten es drüben die Komponisten, weil Noten und Harmonien keine wirkliche Aussagekraft haben.“ Steht da so und wenig später: „Bessergestellt waren diejenigen, die den Sozialismus nicht nur verstehen und lieben gelernt, sondern auch den Mut hatten, darüber auffällig zu schreiben. So erreichten sie nicht selten, dass auch ihre Leser ihn verstehen und lieben lernten.“ Je besser gestellt, desto dicker die Nachweintränen, könnte man meinen, herrlich erzählt Manfred Krug davon.

Für den SPIEGEL attestierte ebenfalls 2008 Bettina Musall ihm zuerst: „Das Gemeine und das Erhabene im menschlichen Wesen schildert Krug mit der gleichen unbestechlichen Präzision.“ Und dann gleich noch dies: „Dabei bringt er es fertig, sich nie über seine Figuren zu erheben oder sie zu verraten.“ Und weil sie den Satz so schön erfunden hat, dass sie ihn anschließend sicher für einen ihrer schönsten hielt, sei auch dieser noch zitiert: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Pardon: „Triebhaft ist der Mensch, verschlagen und lieb.“ Das erste war von, ja von wem nochmal? Hippel und Strack werden übrigens von dem Bäuerlein über den Nuckel gezogen, den sie über den Nuckel ziehen wollten und nebenher kommt in der Geschichte auch noch die der DDR inhärent hauseigene Ausplünderung des flachen Landes zur Sprache, antiquarische Wertstücke betreffend, welche der Devisen wegen in den Schlund des faulenden und sterbenden Imperialismus verschoben wurden. In der ersten Geschichte „Griebnitzsee“ halten Kontrolleure des Arbeiter- und Bauernstaates einen Kotprobentransport für die Charité für Schmuggel und sind, als sie es mitbekommen, ziemlich geblaumeiert. Wer je Zahnpasta ausdrücken durfte beim DDR-Zoll, fühlt posthum Schadenfreude.

Das Buch endet mit einem Satz, der an einen anderen Satz erinnert, mich jedenfalls. Der andere Satz ist der erste in Schillers „Don Carlos“. Der Satz von Manfred Krug, der die schöne Geschichte „Brutparasit“ beschließt, heißt: „Wenn die schönen Tage von St. Petersburg zu Ende sind, was dann?“ Der sich die Frage vorlegt, heißt Hans Regenfuß, war ein arbeitsloser Schauspieler und Tänzer, dem ein Familienunternehmen den finanziell höchst lukrativen Job beschaffte, der darin besteht, in einer überdimensionalen Kuckucksuhr den „Brutparasiten“ zu mimen. Das verlangt von ihm nicht übertrieben viel, ein paar Schritte nach vorn, dann wieder zurück, das Gefieder plustern und dann eben vor allem „Kuckuck“ rufen zu jeder vollen Stunde. Dafür gibt es stolze tausend Mark Tagesgage, am Ende der vereinbarten Einsatzzeit satte dreißigtausend Mark auf die Hand. Hans Regenfuß hadert keineswegs mit den Göttern der Schauspielkunst, Manfred Krug ist weit davon entfernt, den Kollegen als bedauernswertes Geschöpf vorzuführen. Vorführen ist überhaupt seine Sache nicht. Peter Richter verriet er: „Da hatte ich im Fernsehen gesehen, dass jemand stolz darauf war, die größte Kuckucksuhr der Welt in seinen Garten gebaut zu haben, als Laube.“

Katzenfreunden sei dringlich die dritte Geschichte des Bandes ans Herz gelegt. Sie hat nichts mit „Die Katze“ zu tun, jenem 1971 in die Kinos gekommenen Film von Regisseur Pierre Granier-Deferre, in dem Jean Gabin und Simone Signoret das alte Paar Julien und Clémance Bouin spielen. Obwohl ich gern glauben möchte, dass sie etwas damit zu tun hat. Denn einen Mord an einer Katze gibt es hier auch und einen Rachemord an der Mörderin dazu. Der Humor dieser Geschichte ist so rabenschwarz, dass neben ihm ein schwarzes Loch wie eine mittelprächtige Energiesparlampe im Weltall wirken würde, kämen Humor und Loch nebeneinander in eine Glasvitrine zum Angucken. Nicht ganz so schwarz, aber vom drögen Grau noch meilenweit entfernt, ist „Herr Oswald“, der seinen aufdringlichen Nachbarn von der Mauer schießt, weil der ihn bei seinen ihn beglückenden Schießübungen während der allgemeinen Silvesterknallerei stört. In der Fünf-Seitengeschichte „Unser Kollektiv“ heißt es lapidar: „Nun kommt mit einem Gang, der unbeschwert wirken soll, Marga auf mich zu. Sie ist mit Salmann verheiratet und schon lange spitzeln sie gemeinsam für die Staatssicherheit.“ Salmann, das „Schweinchen Schlau“ in der Geschichte, hat ein lebendes Vorbild.

Drei Tage nach der Publikation des Interviews, das Krug Peter Richter gab, las man im Berliner TAGESSPIEGEL unter der Überschrift „Salow: Ich habe Manfred Krug bespitzelt“ das Eingeständnis des Bildhauers Manfred Salow, damals 65, der einst in Niederschönhausen neben den Krugs gewohnt hatte. Er wolle sich entschuldigen, „wenn es sich ergibt“, sagte Salow und verriet nebenbei auch ein wenig, wie er vor sich selbst sein Gewissen entlastet: „Ich habe zu meinem Staat gestanden, den ich auch nie verlassen wollte. Krug ist dagegen mit Sack und Pack abgehauen und hatte viele Privilegien genossen.“ Dass ist für einen, der von der Stasi als Lohn für seine Dienste nur einen Bosch-Bohrhammer bekam, sicher nur schwer zu ertragen gewesen. In „Unser Kollektiv“ steht in ätzender Ironie: „Ich habe diesen Stasispitzel von Herzen gern.“ Der FRANKFURTER ALLGEMEINEN offenbarte Krug Insiderwissen vom Buchmarkt: „Ich habe auch gehört, dass die Leute Kurzgeschichten gar nicht mehr so gerne lesen, die wollen, wenn sie sich schon ein Buch kaufen, lieber die lange Strecke.“ Auf die Frage, wie er darauf zu reagieren gedenke, dann die typische Krug-Antwort: „Noch kürzer werden.“ Das veranlasst mich, hier sofort aufzuhören.


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