Jenny Erpenbeck: Tand

Wessen erstes Buch euphorisch bejubelt wird, hat sehr gute Chancen, mit dem zweiten durch den Wolf gedreht zu werden. Es wäre, wenn es sie nicht längst gibt, eine Fallstudie wert, die viel über den Literaturbetrieb sagen würde, wobei sich letztlich natürlich nur der Literaturbetrieb für den Literaturbetrieb interessiert, die Studie bliebe von Binneninteresse. Jenny Erpenbecks erstes Buch ist zwar nicht ganz und gar euphorisch bejubelt worden, dennoch hielten Kritiker des zweiten Buches, als es so weit war, mit einer gewissen Scheinheiligkeit die vermeintlich hohe Messlatte des ersten Buches in die Höhe, um dem zweiten Defizite vorwerfen zu können. Ich habe viel Seltsames gelesen in meinem Jenny-Erpenbeck-Archiv. Sabine Peters etwa fragte: „Warum muss es eigentlich derzeit so entsetzlich viele narzisstisch veranlagte Ich-Erzählerinnen geben? Wahrscheinlich soll diese Perspektive Komplizenschaft mit dem Leser herstellen. Aber die Rezensentin ist mittlerweile entnervt.“ Der Rezensent ist von einer Rezensentin genervt, die nicht „Ich“ sagt, obwohl sie „Ich“ meint, also ich bin genervt, wenn ich so etwas lese. Wieso fragt die Rezensentin „Warum muss?“, als bewiese eine Erzählungssammlung mit zehn Texten, in denen Ich-Erzählerinnen zu Wort kommen, auch nur irgendetwas bezüglich irgendeines Müssens. Und zusätzlich: Narzissmus, tut mir leid, ist in dieser „Tand“ genannten Sammlung an keiner Stelle zu finden. Ich fand keinen.

Was ich fand, oder eher emp-fand: eine Einlaufkurve. Distanziert bis ablehnend meine, haha, Spontanreaktion zu „Im Halbschatten meines Schädels“, gesteigertes Interesse an „Eisland“, dann glatte Begeisterung bei „Tand“. Nun wäre der Platz für meine Krokodilsträne: Warum begeistert sie nicht gleich mit der ersten Geschichte? Ja, warum wohl? Ganz sicher nicht, um mich zu ärgern, sie kennt mich ja nicht und dass ich ihre Großmutter einst in Bad Saarow sah und hörte, besagt nichts, für mich nicht, für sie nicht. Auch dass mir ein Buch ihres Vaters das Beste schien, was ich zu einem Thema las, als ich ein Student war und viel lesen musste, was mir ziemlich dämlich vorkam, besagt nichts, für mich nicht, für sie nicht. Nun könnte ich bereits vorausdeutend sagen, dass Worte wie Vater und Großmutter in dieser „Tand“-Sammlung ziemlich häufig und ziemlich exponiert vorkommen. Ich könnte sagen, dass ich natürlich weiß: Wenn eine Autorin „Meine Großmutter“ schreibt, ist damit keineswegs sicher oder automatisch oder wenigstens sehr wahrscheinlich ihre tatsächliche eigene Großmutter gemeint. Nebbich. Ich bekenne, es ist für mich sehr interessant, ich möchte beinahe sagen, rasend interessant, bei Vater John Erpenbeck zu denken, bei Großmutter Hedda Zinner. Bei Mutter musste ich mir Doris Kilias erst anlesen, zugegeben. Einen Großvater, der dann Fritz Erpenbeck wäre, habe ich so exponiert nicht entdeckt, er stand vielleicht im Schrank.

Die Großmutter, die im selbst gestrickten Bikini baden geht und „Toter Mann“ schwimmt, die sehe ich lebhaft vor, sehe den Scharmützelsee, sehe den Bikini, was war das für eine verrückte Mode, Siebziger, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt. Die 1967 geborene Jenny Erpenbeck war 1977 zehn Jahre alt. Ihr Ich ist eine Sehende (keine Seherin natürlich), sie ordnet nicht zu, was sie sieht, sie deutet nicht, was sie sieht, sie überlässt es dem Leser (ha, der Leserin auch), das zu tun oder zu lassen. Ist das Komplizenschaft? Wieso überhaupt Komplizenschaft? Tun da zwei gemeinsam (zwei mindestens, Vater John würde vielleicht sagen: x größer gleich zwei, um es sehr exakt gesagt zu haben) etwas mit Anrüchigkeit? Sabine Peters hatte vermutlich einen ganz schlechten Tag, als sie ihre wenig geordneten Gedanken zu Manuskriptpapier brachte, falls sie selbiges noch benutzte im Januar 2002. Einigen Kritikern ist aufgefallen, dass die Verse mit „Tand“ von Theodor Fontane stammen, aus einer Ballade von ihm, einer meinte, man wüsste das noch aus dem Schulunterricht. Keine Ahnung, was er für einen Unterricht hatte, doch selbst wenn, wüsste man das noch? Wäre man ein Gedächtnislöwe? Kein Kritiker hat die anderen Verse zugeordnet, die das Ich-Kind durch die verschlossene Tür aus dem Mund der Großmutter hört, die eine Sprechmeisterin war. Ein Kritiker ersetzt das Wort Sprechmeisterin dreist durch Schauspielerin, was weiß so einer eigentlich?

In einem Text mit dem Titel „Gedanken über ein Leben“ hat Vater John Erpenbeck 1974 über Großmutter Hedda Zinner geschrieben, darin heißt es: „Jedes Künstlers Werk, jedes Kunstwerk ist auch Biographie. Aber zugleich gilt die Umkehrung. Jedes Künstlers Biographie ist auch Kunstwerk“. Ich habe das Buch „Tand“ – unter anderem - als Liebeserklärung gelesen, an den Vater, an die Großmutter. Ich habe im Buch „Tand“ sogar eine Antwort auf eine Frage gelesen, die Vater John über seine Mutter Hedda, über Jennys Großmutter, sehr dezent verweigert hat. Das war es, was mir alles sehr interessant machte, denn ich kenne auch die beiden autobiographischen Bücher von Hedda Zinner, von denen eines gewissermaßen die Aussparung zwischen Buchdeckeln ist, das zweite, „Selbstbefragung“, schon ein mittelmutiger erster Schritt wurde. Man kennt die Formulierung vom „Einfließen“, Autobiographisches fließt ein, am Ende kommt jedoch keine Identität zustande, weil es dann, warum eigentlich, keine Literatur mehr wäre. Der Auch-Philosoph John Erpenbeck weiß natürlich, dass ein solch dumm-enges Verständnis von Identität meilenweit vor Hegel zurückfällt, und schließlich ist es unwichtig, wie zahnlos Goethes Mund war, wenn sich nur sein herrlicher Blick teilnehmend dem Besucher zuwandte, der mit feuchten Händen im Juno-Zimmer stand. Aus „Tand“ weiß ich, dass Großmutter gern Bregen aß, das Hirn vom Rind.

Literatur ist, so gelesen, immer ein wenig Schlüssel-Roman. Ein wenig. Das biographistische Lesen war unter Literaturwissenschaftlern so lange so dominant, dass fast folgerichtig irgendwann das Gegenextrem beherrschend wurde. Man las Text rein für sich, man las Strukturen, man kann alle meist französischen Mode-Denker durchdeklinieren (was für ein idiotisches Wort), letztlich sind Leser, sterbliche Leser, immer noch am Inhalt dessen interessiert, was erzählt wird, man will Geschichten. Schlimmstenfalls weicht man auf Kino aus, auf Film, weil dort noch nie ein ernst zu nehmender Regisseur auf die Idee gekommen ist, den Sinn einer Kamera-Perspektive mit zu verfilmen, so wie unter modernen Bücher-Schreibern es vor hundert Jahren Mode wurde, die Erzählperspektive mit zu problematisieren. Solche Literatur wird automatisch kopflastig, den Sieg tragen Autorinnen davon, die in mittelalterlichen Kostümen aus ihren Mittelalter-Hebammen-Krimis vorlesen und anschließend an die anwesenden Damen aller Volkshochschulkurse sechzig Bücher verkaufen mit Wunsch-Widmung. Bei Jenny Erpenbeck ist Stoff in den Geschichten, es ist Inhalt drin, Substanz sowieso, falls jemand auf Feinheiten aus ist. Der Verzicht auf nervtötende Reflexion in diesen „Tand“-Geschichten ist ein Verzicht auf Panade in der Pfanne, um dürftige Fleischdicke zu kaschieren. Man merkt hier fast nicht, dass Welt hier fast komplett abwesend ist.

Just das hätte Jenny Erpenbeck zu DDR-Zeiten um die Ohren gehauen bekommen, sie wäre mit dem Vorwurf des „rein Privaten“ traktiert worden, als ob es das rein Private überhaupt gäbe. Auch das abwesend Soziale ist in Literatur anwesend Soziales. Doch geht es darum, wenn wir genau diese Geschichten lesen? Listig habe ich mich bei „Tand“ selbst aufgehalten, der Titelgeschichte, damit scheinbar wiederholt, was von den seinerzeitigen Kritikern mit „Sibirien“ praktiziert wurde. Fast alle gingen auf „Sibirien“ ein, weil alle natürlich gern noch einmal sagen wollten, dass Jenny Erpenbeck für „Sibirien“ den Preis der Bachmann-Preis-Jury 2001 bekam. Fast alle zitierten den ersten Satz von „Sibirien“ ohne zu sagen, dass das der erste Satz sei, man könnte sonst vielleicht auf die Idee kommen, dass sie mehr gar nicht gelesen haben. Ein Kritiker kam auf die tolle Idee, aus der Tatsache, dass eine Kritikerin nur „Sibirien“ erwähnte, zu folgern, dass dies deren Technik sei, ihr Missfallen an allen neun anderen Geschichten zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht schreiben Kritiker gar deshalb lieber Roman-Kritiken, weil sie dann nur eine einzige Geschichte zwischen zwei Buchdeckeln irgendwie bekakeln müssen? Wir hätten dann letztlich, am Fall „Tand“, einen Präzedenzfall der Unfähigkeit oder der Unwilligkeit oder von beidem, einen Erzählband vernünftig zu besprechen ohne den dämlichen Ehrgeiz, Texte auf einen Nenner zu bringen, den es nicht gibt.

Der gemeinsame Nenner eines Erzählbandes ist der Name des Autors auf dem Umschlag, alles Weitere wäre Zugabe, für den sterblichen Leser schon von milderem Interesse. Für mich ist ein Kritiker-Ratschlag, man möge einen, diesen Erzählband, nicht in einem Zuge lesen, sondern Pausen einlegen, Wirkungen wirken lassen, wie die Empfehlung, einen Hustensaft zu schlucken und nicht etwa in die Fußsohle zu massieren. Das Wunderbare an Erzählbänden ist genau dies, dass man an ihnen nicht, wie an diesen 800-Seiten-Romanen, kleben muss, bis man weiß, wer wen kriegt und wer alles tot ist zum Schluss. Selbst nach einer wunderbaren Geschichte besteht nicht der geringste Grund, sofort die nächste zu lesen: man kann, man muss nicht. Bei Jenny Erpenbeck wollte ich das Buch nicht beiseitelegen, was nicht gegen sie spricht. Lässt man nämlich zu viel Luft zwischen den einzelnen Texten, dann entgeht einem auf dem Wege des Vergessens möglicherweise der Umstand, dass häufig von Zöpfen die Rede ist, langen Zöpfen, die mal von Vater, mal von Mutter geflochten werden. Die Großmutter ist zweifach auf dem Weg zum Goldenen Vlies. „Die Köchinnen kommen und gehen, aber es gibt immer drei Gänge zum Mittag.“ Großmutter war nicht ganz leicht zu nehmen, könnte man glauben. „Es langweilt mich, sagt sie, es ist immer das gleiche, man steckt es oben hinein und unten kommt es heraus. Muss ich essen?“ fragt sie. Muss ich nachfragen, frage ich.

Ich will nicht verhehlen, dass zwei Texte im Buch außerordentlich ärgerlich sind – für mich. Es sind die beiden, die ganz hinten stehen, „Wenig Zeit“ und „Anzünden oder Abreisen“. Dergleichen nenne ich überambitioniert, das trug man früher im Zirkel schreibender Studenten vor, wenn man neu dazu gestoßen war und alle anderen stark beeindrucken wollte, ich habe solche Zirkel geleitet und weiß, wovon ich rede. Man bekam dabei sogar eine fremde Stimme, die bis zum letzten Blick in die Runde blieb, ehe sie ihrer natürlichen Vorgängerin wich. Zehn Seiten zum Vergessen sollte man einem Buch zugestehen, auch wenn es nur bis Seite 117 überhaupt geht. Die Erfindung des Buches aber heißt „Dreckfaktor“. Das Wort steht in der Geschichte „a ist gleich v durch t“. In der es einen Physik-Professor als Vater gibt, eine Mutter, die entdeckt, dass der Vater Alimente zahlte fast seit der Zeit, da sie Mutter der nun erzählenden Tochter wurde. Für den Vater ist das Schöne an der Physik, dass sie mit Wirklichkeit zu tun hat. Und dann: „Ja, sagt mein Vater, aber die Mathematik sei eben von der Wirklichkeit gereinigt. An der Physik hingegen könne man, wenn man wolle, sehen, dass nicht alles berechenbar ist, was vorkommt. Der Dreckfaktor, sagt er, das sei das eigentlich Interessante.“ Gesetzt den Fall, dass Jenny dies bei Vater John hörte, der ein Professor war, ein Physiker, ein Philosoph, ein Psychologe (und 75 wird im April), dann hat sie gut gelernt.

Kritiker haben, nur weil sie wussten, dass Jenny Erpenbeck Opernregie geführt hat und am Theater agierte, ehe sie ihr Prosa-Debüt vorlegte, behauptet, man merke das der Prosa an und redeten von Effekten. Abgesehen davon, dass es albern wäre, Effekte zu verdammen, die es gibt, weil es eben Wirkungsabsichten gibt: Theatralisches haben diese zehn Geschichten nicht. Natürlich ist der letzte Satz von „Frisch und g’sund“ eine Pointe, die man nicht erwartet. Was aber wäre eine Pointe im Vergleich, die man erwartet? Das Schöne, das wirklich Schöne in diesem Zusammentreffen von der Kainbacher Maria mit der Gertrud Möstl kumuliert in dem Satz: „Die Gertrud erinnert sich jetzt an das junge Gesicht dieser alten Frau, die ihr erschienen ist, und ihr wird klar, dass ein ganzes Stück ihrer Lebenszeit, das sie selbst so gründlich vergessen hatte, dass sie dieses Vergessen nicht einmal bedauern konnte, in dieser Frau aufbewahrt worden ist wie ein Kuchen in einer dunklen und kühlen Speisekammer.“ Es handelt sich um eine außerordentliche Begegnung. Und wenn wir am Ende wissen, dass sich der Sohn der Kainbacher Maria erschossen hat, ohne zu erfahren, warum er sich erschossen hat, dann ist das der Dreckfaktor des wirklichen Lebens, indem wir fast nie erfahren, warum etwas von jemandem getan wurde und dennoch werden wir achtzig Jahre alt und sterben selten am Nichtwissen über unsere Nächsten oder Übernächsten. Jenny Erpenbeck ist lebensnah.

Ganz ausklammern können wir „Sibirien“ freilich nicht. Man bekommt nicht ungestraft einen solchen Preis in Klagenfurt. Da kommt also eine Frau aus der Gefangenschaft in Sibirien und sie findet zu Hause eine andere Frau vor am Tisch mit ihrem Mann. Am Ende ist es eine Geschichte von einem absoluten Besitzanspruch. Dessen sonst meist Männer beschuldigt werden. Hier säuft sich der Mann schließlich tot, weder er noch die, die ihm das Essen gekocht hatte, während die Frau in Sibirien war, kämpfen um ihre Liebe. Das wäre Literatur ohne Dreckfaktor gewesen. Dieser Mann aber leidet, ohne zu klagen. Diese Frau aber leidet, ohne ihrem Recht Nachdruck zu verleihen. Beide haben ein Schuldgefühl, was alles nicht besser macht. Man muss sehr genau lesen, um zu beobachten, wie in „Sibirien“ ein Blickwinkel wechselt, eine Sichtweise sich ändert. Am Ende wieder ein Pointe: „Ich habe Angst, sagt mein Vater, dass ich die Briefe finde.“ Sie könnten, mag man daraus lesen, zeigen, dass tatsächlich nicht alles berechenbar ist, was vorkommt. Dass Tochter Vater-Thesen belegt, könnte man daraus herleiten. Vermutlich wäre es nicht einmal völlig abwegig, John Erpenbecks zweiten Roman „Analyse einer Schuld“ dreist parallel zu lesen. Heute wird Jenny Erpenbeck 50. Kein Alter. In „Tand“ waren die anderen Großmutter-Sätze übrigens aus „Der Gott und die Bajadere“, aus „Prometheus“, aus „Die Braut von Messina“. Halten zu Gnaden.


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