Rolf Schneider: Emigration eines Dichters
Niemand, der meinen zum 80. Geburtstag von Rolf Schneider geschriebenen Text „Rolf Schneider: Von Paris nach Frankreich“ zur Kenntnis genommen hat, wird auf die Idee verfallen, ich gehörte zum besonderen Fan-Club des Jubilars. Doch schicken gerade Chefredakteure, die auf sich halten, gern den Heavy-Metal-Freak des Feuilletons zum Jubiläumskonzert der Wildecker Herzbuben, um sich einen hoffentlich bübischen Content zu generieren, wie man das heute nennt. Ich bin mein eigener Chefredakteur, wohin ich auch gehe, was mich nur in überschaubare Schwierigkeiten bringt. Rolf Schneider erweckt in gewissen Abständen immer wieder meine Neugier, und wenn es der Anlass hergibt, wende ich mich ihm zu. Bisweilen blättere ich nur in seinen Büchern, meine letzte Neuerwerbung aus seinem Schaffen trägt den Titel „Schonzeiten“ und unten den Stempel „Mängelexemplar“, was mir die Ersparnis von ursprünglich 28 Euro auf nunmehr 13,95 Euro eintrug. Ich liebe die in der Kantstraße in Berlin residierende Buchhandlung, die solche Bücher oft schon sehr kurz nach ihrem Erscheinen auf dem widerständigen Markt unter die Sparer bringt. Doch soll es heute nicht um „Ein Leben in Deutschland“, so der Untertitel, gehen, sondern um einen Franzosen, um einen der berühmtesten Franzosen, die es je gab und, Prognose, je geben wird.
Es handelt sich um jenen Mann, der eigentlich Arouet hieß, aber als Voltaire in die Geschichte einging. Er lebte vom 21. November 1694 bis zum 30. Mai 1778, hatte folglich noch fast dreißig gemeinsame Lebensjahre mit Goethe. Doch während Goethe lebenslang ein Verhältnis zu Voltaire hatte und pflegte, hatte Voltaire keinerlei Verhältnis zu Goethe. Jedenfalls sind mir noch keinerlei Nachrichten darüber begegnet, was freilich nichts bedeuten muss. Rolf Schneider griff sich in seinem Schaffenszweig als Hörspielautor den Franzosen und dessen Verhältnis zu dem preußischen König Friedrich II heraus und nannte das 1981 im RIAS Berlin urgesendete Werk „Emigration eines Dichters“. Ich hörte es nie, las es aber in einem handlichen Bändchen des Verlages S. Fischer, welches sechs Schneider-Hörspiele vereint und damit den DDR-Band „stimmen danach“ mit seinen acht Hörspielen aufs angenehmste ergänzt, es gibt keine Dopplungen. Das Fischer-Bändchen mit der Nummer 7093 trägt den Titel „Marienbader Intrigen“. Um den Leser nicht über knapp 14 Druckseiten unnötig auf die Folter zu spannen, hat Schneider dem eigentlichen Text dies vorangestellt: „1750 begab sich der französische Schriftsteller Voltaire an den Hof König Friedrich II. in Preußen. Er kam freiwillig. Kam er freiwillig?“ Und schon ahnen wir alle die Antwort.
Die Tapferen unter den Rezipienten könnten zum Zwecke der Einführung in den historischen Stoff den überlieferten Briefwechsel zwischen dem König und dem schreibenden Allrounder Voltaire studieren, er wurde bis zu Voltaires Tod über insgesamt 42 Jahre hin geführt, liegt komplett und in Auswahlen vor. Voltaire ist neben allem, mit dem er in die Geschichte einging, auch als Verfasser von mehr als 20.000 Briefen in selbiger verankert, dergleichen nennen Quellenkundler gern Fundgrube, ihre Nutzung muss freilich die bei Briefen aus alter Zeit immer besonders unangenehme Hürde der Entzifferung von Handschrift überwinden. Irgendwann aber haben das der akademische Unter- und Mittelbau zufriedenstellend abgearbeitet, die Lehrstuhlinhaber können auf dieser Basis die Liste ihrer Publikationen verlängern und der sterbliche Leser, der beispielsweise des Französischen nicht mächtig ist, kann nur inständig hoffen, dass unter diesen Lehrstuhlinhabern auch solche sind, die an Leser denken, die des Französischen nicht mächtig sind, und deshalb ihre natürlich stets originalsprachigen Zitate hinten im Apparat in Übersetzung bringen. Solche Bücher sind dann heute meist so teuer, dass nicht einmal mehr Bibliotheken sie kaufen, ich wiederhole mich, aber auch die Situation wiederholt sich ja und dann haben die Liebhaber eben das Nachsehen.
Um mit Rolf Schneiders Hörspiel umzugehen, muss allerdings keine Quellenkunde betrieben werden. Es ist, weil es Literatur ist und kein Dokumentarspiel, letztlich gleichgültig, ob irgendetwas in diesem Spiel so, so ähnlich, oder überhaupt je gesagt oder geschrieben worden ist. Hinzu kommt, dass der gelernte DDR-Bürger unter den Schneider-Lesern natürlich weiß: Schneider war einer der Unterzeichner der Biermann-Petition. Wenn der was über Emigration schrieb, freiwillige oder erzwungene, dann, ha, war sicher die DDR gemeint und ihre schreibenden Emigranten. Jeder Goethe, der zu DDR-Zeiten im Namen Kleists gedroschen wurde, war eigentlich die Partei und ihr Dogma, jeder früh gestorbene Säufer und/oder Selbstmörder der deutschen Literaturgeschichte war ein Schrei gegen den ersten Arbeiter- und Bauern-Staat auf deutschem Boden. Das Thema muss nicht verfolgt werden, seine Abarbeitung war meist durchsichtig wie ein Nachthemd im Softcore-Film des sterbenden Kapitalismus und der ihn kopierenden DEFA-Erotik. Schneiders Voltaire lehnt die stets wiederholten Angebote des preußischen Königs, an seinen Hof zu kommen und dort privilegiert zu leben, mit mehr oder minder pfiffigen Argumenten ab, es kann nicht ausbleiben, dass der König angesichts solcher Zurücksetzung ruckartig an die Grenzen seiner Toleranz gerät.
Von Charles de Gaulle ist überliefert, er habe einen Wunsch, Sartre hinter Gitter zu setzen, mit dem Ausspruch zurückgewiesen: „Einen Voltaire verhaftet man nicht.“ Das ist stets zu Gunsten des französischen Präsidenten ausgelegt worden, obwohl der unausgesprochene zweite Satz danach, der von den richtigen Untergebenen ja auch meist richtig verstanden wird, durchaus hätte lauten können: „Den bringt man gleich um die Ecke.“ Im übrigen ist davon auszugehen, dass Voltaire nicht wie Sartre den Nobelpreis abgelehnt hätte, hätte es ihn im 18. Jahrhundert schon gegeben und wäre er nach Frankreich gegangen. Denn Voltaire liebte das Geld, er liebte die Geldvermehrung und er starb als reicher Mann, was weder unter Schriftstellern noch unter Philosophen auffallend oft vorkommt. Die Zuträgereien, die in Rolf Schneiders Hörspiel den Text dominieren, nennen einschlägige Zahlen mit spürbarer Lust: 1200, 2000, 4000, 6000, schließlich 5000. Immer geht es um das Jahressalär, gezahlt aus königlicher Schatulle. Schneider lässt seinen Voltaire das Angebot Friedrichs in Höhe von 4000 mit dem Wunsch nach 6000 kontern, was wie auf dem arabischen Markt mit 5000 ausgeht. Tatsächlich war Voltaire von 1750 bis 1753 in Preußen, als er ging, ging er in die Schweiz und ließ sich am Genfer See nieder. Tolle Gegend, wenn man über hinreichend Franken verfügt.
Was Rolf Schneider zu Gehör bringt, ist die fiktive Geschichte einer Stasi-Operation gegen einen berühmten Autor in Zeiten des europäischen Absolutismus. Es werden Gerüchte gestreut, Falschaussagen dabei, Freunde gegeneinander ausgespielt, es wird Neid geweckt. Für dergleichen wurden um 1750 keine „Operativen Vorgänge“ angelegt, es wurden Diplomaten eingespannt, alte Freunde der Zielperson Voltaire, geheime Informanten und Denunzianten waren auch im Spiel, alles aber mit dem Ziel, den widerständigen Voltaire zur Emigration aus Frankreich nach Preußen zu Friedrich zu zwingen. Das und nicht mehr geschieht im Hörstück, die meisten der auftretenden Personen sind verbürgt, was sie sagen und schreiben, hat historische Wahrscheinlichkeit, wenn nicht gar prüfbare Wahrheit, muss aber, siehe oben, keineswegs geprüft werden. Die Markgräfin von Bayreuth, von Friedrich als liebe Schwester angeredet, erfährt: „Die Macht des freien Gedankens mag groß sein. Sie bleibt ohnmächtig vor der Macht des Staates, sich diesen Gedanken erobern, beugen und dienstbar zu machen.“ Dass Schneider einen Informanten eine Art Voltaire-Biographie sprechen lässt, in der dem preußischen König mitgeteilt wird, die Bastille sei ein Gefängnis, ist eine der Peinlichkeiten, ohne die scheinbar kein Schneider-Werk auskommen kann, tut mir leid.
Der Bastille-Experte darf auch dies sagen: „Er schreibt sehr viel. Seine Texte sind das Schrecknis der französischen Zensurbehörden und das Entzücken der Buchhändler.“ Vermutlich würde der historische Friedrich hier einen Lachanfall bekommen haben, denn dass Voltaire kein Lyriker war, der Jahrzehnte an zwölf bis neunzehn Zeilen feilt, nur um in die Literaturgeschichte zu kommen, wusste er seit Beginn seines brieflichen Kontaktes mit dem Franzosen. Schneider verliert momentweise die Perspektive aus dem Blick, in der sein Spiel steht. Und ganz plötzlich klingt etwas wie ein Vorwurf, der gar nicht Voltaire meinen dürfte: „Er lebt in der Gnade der Mächtigen und tut alles, diese Gnade zu gefährden, indem er die Mächtigen herausfordert.“ Und Friedrich spricht Klartext: „Ich will den Voltaire in Frankreich unmöglich machen, dass er emigrieren muss.“ Man könnte von einer positiven Zersetzungsstrategie sprechen. Vom preußischen Gesandten in Frankreich erfährt Friedrich: „Ich erkannte, dass der menschlichen Unmoral nichts willkommener ist, als die Nachricht von fremder Unmoral, die sie öffentlich schmähen darf, um von sich selber abzulenken.“ Der Gesandte hatte ein Gespräch mit Madame de Pompadour gehabt, der Mätresse des Königs, die den Löffel fallen ließ, als sie von Voltaires Beziehung zu seiner Nichte hörte.
Wie es weiter geht im Verhältnis des preußischen Königs und des Königs der Aufklärung in Frankreich, war für den Hörspielautor Rolf Schneider nicht mehr von Interesse. Er lässt seinen Text ausklingen mit einer Nachricht des Königs an seinen Lakaien Fredersdorf in der fast unerträglich fehlerhaften Schreibweise des Originals. Diesen Michael Gabriel Fredersdorf (getauft am 3. Juni 1708, gestorben am 12. Januar 1758) hat es natürlich wirklich gegeben. 5000 waren demnach an Voltaire zu zahlen, 1000 über dem Ursprungsangebot des Königs, 1000 unter der Forderung des unfreiwilligen Exilanten. Dessen Zauberwerk „Candide oder Der Optimismus“ hier abschließend empfohlen sei: eines der Bücher, die man allein auf die Insel nehmen könnte, wäre einem nur eines erlaubt. Wer solche Werke schreiben konnte, an dessen Bild in der Geschichte tropft ab, was bei Schneider ein Jugendfreund über Voltaire behaupten muss: „Mein Freund Arouet ist leichtsinnig, eitel, schwächlich, unberechenbar, geschwätzig und furchtsam.“ Der wirkliche Voltaire aber lässt in „Candide“ den Gelehrten Martin Frankreich so charakterisieren: „Es gibt Gegenden, wo die Hälfte der Einwohner närrisch ist, andere, wo man allzu gerissen ist, solche, wo man gemeinhin recht sanftmütig und einfältig ist, und wieder andere, wo man schöngeistig tut. Überall aber ist die Hauptbeschäftigung die Liebe, danach kommt die üble Nachrede und schließlich die Zotenreißerei.“