Curt Hotzel: Bauern gegen Bonaparte
Wer immer Geld dafür bereitstellt, dass Universitäten oder andere vergleichbare Einrichtungen in die Lage versetzt werden, Archivalien, Zeitungen, Zeitschriften, wertvolle Bücher gleich welchen Alters, die sich kein Sterblicher leisten kann und will, zu digitalisieren und dann der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, verdient Lob und Preis. Mit Curt Hotzel, dessen 50. Todestag der 10. August 2017 ist, hat das insofern zu tun, als das spärliche biografische Material über ihn, das man findet, wenn man den Suchaufwand in überschaubaren Grenzen hält, ihn als Chefredakteur einer einst sehr berühmten Satire-Zeitschrift ausweist, des „Kladderadatsch“, und zwar in den Jahren 1937 bis 1944, die die letzten waren, ehe das Blatt eingestellt wurde. Hotzel war also, wie man heute sagen würde, presserechtlich verantwortlich für alle Späße, die da gemacht wurden. Das Jahr 1937, in dem der am 20. April 1894 Geborene die Schriftleitung übernahm, wie das damals eher genannt wurde, eröffnete der „Kladderadatsch“ mit einem Rückblick auf den 89. Jahrgang. Da findet sich dann etwa eine schlichte Karikatur, unter der zu lesen steht: „Der Kübelmann der Komintern, Dimitroff, ist ein lichtscheuer Geselle, der von Sonne nichts wissen will, weil sie alles an den Tag bringt und schamrot ins Meer sinkt, wenn sie seiner ansichtig wird. Wie unangenehm für ihn, dass es dann doch noch immer die deutsch-japanische Höhensonne gibt, die ihn durchleuchtet, ihm einheizt und heimleuchten wird.“ Links oben strahlt eine Hakenkreuzsonne, rechts eine mit Schlitzaugen.
Neben dem schwitzenden Dimitroff sieht man zwei Zelleninsassen mit einer Zeitung. Darunter steht: „Landesverräter unter sich. Konferenz hinter den Kulissen der „Weltbühne“. Sagt der eine zum andern: „Mensch, Ossietzky hat den Nobelpreis bekommen. Det nächste Mal bin ick aber dran.“ Der Universität Heidelberg ist es zu danken, dass sie den Zugang zu solchen Sachen ganz leicht macht, die heute Dokumente sind und Alltag im Dritten Reich auf eine vollkommen andere Art vorführen. Wer schnell ist mit seinen Urteilen, kann hier bereits zu seiner Tagesordnung übergehen, denn in der Tat muss man die beiden Beispiele nicht kommentieren, sie sprechen für sich. Was aber ist mit Curt Hotzel? Das Lexikon „Schriftsteller der DDR“ hat ihn nicht, die Erklärung dafür liefert das „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart“ aus dem Leipziger VEB Bibliographisches Institut: Es führt Hotzel als Westberliner, was wegen seines Wohnsitzes dort in Ordnung geht. Dagegen spricht, dass er 1950 Mitglied der NDPD wurde, einer der DDR-Blockparteien und dass ein knappes Dutzend seiner Bücher zuerst und ausschließlich im parteieigenen „Verlag der Nation“ erschienen, in immer neuen Auflagen. Man kann Curt Hotzel einen frühen Bestseller-Autor der DDR nennen und das ist auf jeden Fall von hinreichendem Interesse, war der Mann doch nicht nur mitten in der dunkelsten Zeit Deutschlands in exponierter Position, er trat auch in seinen Chefredakteursjahren (1939) in die NSDAP ein.
Nimmt man „Das Schicksal der DDR-Verlage“ von Christoph Links zu Hilfe, immer wichtig als Nachschlagewerk, erfährt man, dass der am 1. Oktober 1948 als GmbH gegründete Parteiverlag der NDPD am 11. Oktober 1948 die Gewerbegenehmigung erhielt und zunächst sogar (bis 1952) drei Zeitschriften herausgab. „Ab 1950 erschienen Materialien der Partei, die dazu gegründet worden war, ehemalige NSDAP-Mitglieder und Wehrmachtsoffiziere sowie Teile des nationalkonservativen Mittelstandes in die Gesellschaftsentwicklung einzubeziehen.“ Ich weiß von einem adligen SED-Mitglied, das seinerzeit in die NDPD delegiert wurde und dort zeitlebens aktiv blieb. Links nennt unter den namhaften Autoren des Verlages Johannes Tralow, Golo Mann und Dieter Lattmann. Wen er nicht nennt, ist Curt Hotzel. Man könnte überprüfen, wie viele Autoren des Hauses mit Sitz in der Berliner Friedrichstraße mehr Titel hatten als Hotzel. Was er auch nicht eigens erwähnt, ist die sehr kurzlebige Verlagsreihe „Kleine Nationale Bücherei“, die nach Band 7 (Band 4 ist nicht erschienen) schon wieder eingestellt wurde. Curt Hotzel war dort mit zwei Titeln vertreten, mit „Nettelbeck“ (Band 2) und mit „Bauern gegen Bonaparte“ (Band 6). Doppelt vertreten war auch Hans Löwe, dessen „Sänger und Held“ (Band 3) ich hier vor knapp vier Jahren besprach. Mit einer Ausnahme hat Hotzel in den letzten 25 Jahren seines Lebens nur historische Stoffe behandelt, was seine Bücher fast automatisch für mein väterliches Bücherregal interessant machte, des Geschichtslehrers.
Dass Söhne von Geschichtslehrern, die vor wändehohen Bücherregalen aufwachsen, Interesse an Büchern, die Historisches verhandeln, entwickeln, ist kaum überraschend, ich kannte alle Lehrbücher für den Geschichtsunterricht bis zur achten Klasse, ehe ich noch in die fünfte versetzt wurde. So eben auch Curt Hotzels belletristische Exkurse in die Geschichte des frühen neunzehnten Jahrhunderts, speziell die Zeit der so genannten Befreiungskriege. Die „Kleine Nationale Bücherei“ darf ganz sicher nicht mit der hohen Elle der „großen“ Literatur gemessen werden und selbst eine solide historische Recherche aus damaliger Zeit (die Reihe erschien 1953/54) schließt keineswegs aus, dass Personen und Ereignisse von späterer Forschung anders bewertet und eingeordnet wurden. Vergleicht man heute den WIKIPEDIA-Eintrag zu Hotzel mit dem, was das zweibändige Lexikon aus Leipzig vermeldete, als Hotzel noch lebte, dann gewinnt man den Eindruck, dass die DDR maximal verheimlichte, während im Netz offenbar kämpferischer Antifaschismus die Darstellung kaum weniger einseitig machte. Immerhin: nach 1945, das ist belegt, sind gleich mehrere Buchtitel Curt Hotzels auf die Listen auszusondernder Literatur gesetzt worden, einer über Hanns Johst darunter. Ob in Erfurt je jemand intensiver über Hotzels Erfurter Jahre, ein dort publiziertes Buch („Die Stadt des guten Gewissens“), sein Mitwirken in der expressionistischen Künstler-Gruppe Jung-Erfurt geforscht und publiziert hat, vermag ich nicht zu sagen, es wäre sogar ein lokaljournalistischer Ansatz, aber Reaktionen ohne Honorarfonds sind alle Hände gebunden.
Curt Hotzel war auch ab 1939 Mitglied des Bamberger Dichterkreises, der aus einer 1936 von der Zeitung „Leipziger Neueste Nachrichten“ angeregten so genannten Dichterkarawane hervorging. Unter den zwanzig Mitgliedern ist Hotzel, je nach Quelle, einmal die Nummer 11, einmal die Nummer 14. Mehr als drei, vier Namen haben die Zeit nicht überdauert, der deutlich prominenteste ist Stefan Andres als Teilnehmer der Karawane von 1936, die in Bamberg beschloss, alljährliche Treffen zu veranstalten. „Bauern gegen Bonaparte“ greift ein Ereignis aus dem Jahr 1809 auf, das in der Geschichte „Dörnberg-Aufstand“ genannt wird, nach dem Initiator und Führer Wilhelm von Dörnberg (14. April 1768 – 19. März 1850), da wäre im kommenden Jahr ein Jubiläum zu begehen im hessischen Homberg und Umgebung. Der Aufstand scheiterte, man kann es kaum anders nennen, kläglich. Dörnberg selbst wurde zwar in Kassel in Abwesenheit zum Tode verurteilt, lebte aber noch gut vierzig Jahre, darunter von 1818 bis 1850 als Gesandter am russischen Hof in St. Petersburg. Curt Hotzel hat zweifellos solide recherchiert, Namen stimmen, Orte stimmen, Abläufe im Detail, geschrieben hat er in einem unprätentiösen Stil, Spannung durchaus im Visier, Unterhaltung auch. Kennt man bestimmte Hintergründe nicht, könnte man meinen, er versuche, Vorgaben von DDR-Geschichtssichten zu folgen. Aber es ist eben auch bekannt, dass genau dieser Aufstand 1934 in Homberg den Anlass für „Dörnberg-Festspiele“ hergab mit viel Nazi-Prominenz.
Dort wurde der 125. Jahrestag des Aufstandes 1934 zum Anlass genommen, auf dem Marktplatz unter anderem ein bereits 1913 entstandenes Theaterstück „Dörnberg“ des in Rotterode geborenen Karl Engelhard (16. August 1879 – 22. Juli 1914) aufzuführen. Die Festspiele erstreckten sich über drei Tage. „Der Aufstand von 1809 wurde“, lesen wir bei WIKIPEDIA, „im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda als Befreiung gedeutet, die von Hitler wiederholt werden solle.“ Hitler war 1953 für Hotzel natürlich keine Figur mehr, die Sichtweise aber, die Betonung auf die Befreiung von Fremdherrschaft zu legen, den gesamtnationalen Aspekt in den Vordergrund zu schieben, das war schon noch präsent und zu lesen. Um WIKIPEDIA keine unverdienten Verdienste zuzuschieben: die Behandlung des Aufstandes dort kennt zwar die literarische Darstellung des Aufstandes in der Erzählung „Rot-Weiß“ von Ludwig Mohr (10. Februar 1833 – 13. Juli 1900) von 1869, von Curt Hotzel aber wusste offenbar keiner der Beiträger der am 7. und am 21. Juni 2017 zuletzt bearbeiteten Seiten. Gut informiert ist anders. Während bei Hotzel Sätze stehen, die vielleicht bei alten Soldaten Kopfnicken auslösten (siehe oben die Gründe für die Gründung der Blockpartei NDPD), sonst aber für Kopfschütteln gut sind: „Die Jäger werden einquartiert und bringen Leben in die verschlafenen Dörfer.“ So argumentierte man bei Bau der „Reichsautobahn“, wenn die Straßenbauer aus ganz Deutschland für Schwangerschaften in Anliegerdörfern sorgten.
In der wirklichen Geschichte ordnete der Bruder Napoleons als König von Westphalen eine Generalamnestie für alle beteiligten Bauern an, sorgte aber für Einquartierung in Homberg, die nicht Leben brachte, sondern Kosten bis an die Grenze des Unerträglichen. Hotzel lässt seinen Dörnberg sagen, Blick auf den Kampf der Spanier gegen Napoleon: „Unser braves Bataillon wird der Kern der wachsenden Armee der Befreiung. Es geht nicht mehr um Preußen oder Hessen, um Sachsen oder Bayern - es gibt von der Stunde unseres Angriffs ab nur noch Deutsche, die mit den Österreichern im Bunde und Seite an Seite mit den Spaniern um ihre Freiheit kämpfen!“ Man muss sofort an den Kaiser denken und sein Wort von 1914 „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Hotzel-Prosa baut Brücken zu alten Maximen und Reflexionen. Einer seiner Romane widmet sich dem berühmten Wartburgfest von 1817 (18. Oktober, ein Jubiläum für alle, die Jubiläen lieben): „Die Schuld des schwarzen Eicker“, 1969 bereits in fünfter Auflage, insgesamt 45.000 Exemplare in der DDR. Man müsste dabei über den Studenten Sand reden, der eine Audienz bei Goethe hatte und Kotzebue ermordete, das eine freilich ohne Zusammenhang mit dem anderen.
Hotzel hat den verbürgten Figuren einen fiktiven Studenten hinzugefügt, der mit seinen Ansichten nicht nur am weitesten von allen geht, der am Ende auch den gescheiterten Dörnberg begleitet zum Braunschweiger, der nächsten Hoffnung auf einen Sieg, der schließlich ebenfalls nicht kommt.
Dieser Student hat das letzte Wort des 62-Seiten-Büchleins: „Deutschland ist in Bewegung geraten, es kommt jetzt darauf an, es nicht wieder einschlafen zu lassen, Oberst Dörnberg!“ Es ist der uralte Irrtum intellektueller Revolutionäre, dass mit Initialzündungen Revolutionen ausgelöst werden können, egal wie die tatsächliche Lage gerade ist und dass man dann lediglich die Revolution permanent halten muss, bis schließlich entweder alle Köpfe ab sind oder das Paradies auf Erden die Herrschaft beginnt. Köpfe ab, klappt meistens ziemlich gut, Paradies fällt regelmäßig aus. Die Schilderung, die Curt Hotzel vom Verlauf des Ein-Tages-Aufstandes gibt, zeugt von auch militärischer Sachkenntnis, denn natürlich weiß er, dass unorganisierte, miserabel oder gar nicht bewaffnete Bauern gegen eine reguläre, mit Kanonen und Kartätschen-Munition ausgerüstete Truppen nicht die Spur einer Chance haben. Wenn die Sturmglocken zu früh läuten, ist alle gedachte Logistik dahin. Der wirkliche Dörnberg konnte noch gegen den großen Bruder seines kleinen Westphalen-Königs kämpfen und wurde am 18. Juni 1815 bei Waterloo sogar schwer verwundet. Die „Kleine Nationale Bücherei“ des Verlags der Nation hatte für kurze Zeit in der jungen DDR offenbar die Funktion, auch aus Niederlagen Optimismus zu gewinnen. Das freilich ist kein Langzeitkonzept. Auch deshalb wohl löst da, wo der Name Hotzel überhaupt etwas auslöst, eher der Roman-Titel „Das ungewisse Herz“ (1957) Erinnerungen aus. Was mehr als nichts ist.