Friedrich de la Motte Fouqué: Die Rächerin
Bisweilen geschieht es einem, dass man zum Enthusiasten in einer Sache ernannt wird, in der man mit völliger Sicherheit nie einer war und nie einer sein wird. Tilman Spreckelsen begann 2013 einen Feuilleton-Beitrag zum dreiteiligen Lese-Drama „Der Held des Nordens“ folgendermaßen: „Ein Meisterwerk sollte eigentlich reichen, um einem Autor soliden Nachruhm zu bescheren. Friedrich de la Motte Fouqué (1777 – 1843) verdankt es seiner 1811 erschienenen Erzählung „Undine“, dass er immer noch gelesen wird. Seine übrigen Texte sind dagegen heute nur noch Enthusiasten ein Begriff.“ Spreckelsen ernennt sich, da er dem Drama seine Aufmerksamkeit widmet, dezent selbst zum Enthusiasten und mich auch, obwohl er mich selbstverständlich gar nicht kennt. Denn ich werfe einen Blick auf eine Novelle Fouqués, die nicht einmal Arno Schmidt mit auch nur einer Silbe erwähnt. Und der hat volle 700 Seiten unter seinem biographischen Versuch mit dem Titel „Fouqué und einige seiner Zeitgenossen“ versammelt. Der Haffmans Verlag gab sich viel Mühe, die Schrift des Buches so klein zu halten, dass möglichst wenige Leser sie ohne Hilfsmittel entziffern können. In Sachen „Die Rächerin“ wäre der literarische Wundertäter aus Bargfeld ohnehin wertlos.
Wenn nicht Günter de Bruyn die Geschichte von Romeo und Bendicatrice aus Florenz in seine Auswahl romantischer Erzählungen von Fouqué aufgenommen hätte, mit der er unter dem Titel „Ritter und Geister“ die DDR-Buchreihe „Märkischer Dichtergarten“ eröffnete, wer weiß, ob ich sie je gelesen hätte. de Bruyn hat 1980 auch den bei Zweitausendeins neu herausgegebenen Roman „Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen Alethes von Lindenstein“ mit einem Nachwort versehen, der zweibändig zuerst 1817 in Leipzig erschienen war. Nachworte, in der DDR oft als Medien der Bevormundung missbraucht wie Vorworte auch, gerieten dennoch bisweilen zu kleinen Wunderwerken der stillen Subversion. In beiden Fouqué-Nachworten hat Günter de Bruyn, so lese ich ihn jedenfalls, aus dem märkischen Spätromantiker ein Monument der Unbelehrbarkeit, des vom Leben bestraften Ignoranten, des historische wie aktuelle Wirklichkeit aus seiner Wunschwelt, seinem Wunschdenken heraushaltenden Dichters und Denkers gemacht und damit ein Warnbild entworfen. Das ist ihm grandios gelungen. Und konnte wohl nur in der DDR auch so gelesen werden. Dagegen sind selbst die gern zitierten Sätze von Heinrich Heine über Fouqué nur Historie.
„Schubladenstreit und Stellvertreterkrieg. Heinrich von Kleist in der DDR“ nannte ich vor Jahren einen Vortrag in der Ilmenauer Senioren-Akademie. Dass auch der Major und Baron Friedrich de la Motte Fouqué als auf spezielle Weise in diesen Stellvertreterkrieg einbezogen zu sehen ist, haben mir erst die beiden Nachworte zu ihm in aller Deutlichkeit gezeigt. Wobei ganz allgemein natürlich jedem mit der Materie auch nur ein wenig Vertrauten früh klar war, dass in der DDR in den Wind gehaltene Fahnen „Pro Romantik“, gleich welchem Vertreter, welcher Vertreterin dieser wenig klar definierten Literatur-Strömung sie galten, in Goethe als dem Hauptfeind im eigenen Lande eine Kulturpolitik anprangern sollten, die die SED zu verantworten hatte. Günter de Bruyn zeichnet ein Fouqué-Bild wie von einem Säulenheiligen des festen Klassenstandpunkts, dem die Devise gilt: „Wenn Wirklichkeit und Theorie nicht übereinstimmen, um so schlimmer für die Wirklichkeit!“ Die Lebens- und Werktatsachen, auf die sich de Bruyn stützen konnte, musste er nicht forschungseifrig erst entdecken, sie waren schon Heine, schon Joseph von Eichendorff, schon selbst engen Freunden Fouqués unangenehm vertraut, was ihre ganz persönlichen Sympathien dennoch kaum erschütterte.
Winfried Freund beginnt in seiner für die Reihe Literaturstudium des Stuttgarter Reclam-Verlages verfassten Abhandlung „Novelle“ den entsprechenden Abschnitt vielversprechend: „Fouqué ist als Novellist kaum gewürdigt worden. … das Bild des hoffnungslos anachronistischen Romantikers hat bis heute den novellistischen Erzähler verdeckt, zumindest aber einer gerechten Würdigung entgegengestanden.“ Nun aber, denkt man als Leser und wird brutal enttäuscht. Freund würdigt keineswegs bahnbrechend einen Novellisten, er rafft sich nicht einmal auf, ein paar jener Novellen wenigstens zu nennen, die unbeachtet blieben. Er schiebt beiseite, was er nur erwähnt und spricht dann über genau die Werke, die überall und bis zum Überdruss als einzige für den Namen Fouqué herhalten müssen: „Undine“ und „Das Galgenmännlein“. Man könnte das gut Etikettenschwindel nennen, zumal Freund auch in seinem Universitätstaschenbuch „Deutsche Phantastik“ (UTB 2091) beim „Galgenmännlein“ stehen bleibt, freilich mit einer bemerkenswerten Abwandlung gegenüber seiner Novellen-Behandlung. Dabei hätte beispielsweise „Die Rächerin“ sogar einen Exkurs bis in die italienische Ur-Geschichte der Novellenform in der Renaissance hergegeben: traurig, traurig.
Um falsche Erwartungen sogleich zu dämpfen: „Die Rächerin“ ist vollkommen sicher kein kleiner Glanzpunkt romantischer Novellistik, auch Günter de Bruyn hat kein Wort über sie verloren. Die Literaturgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts muss also nicht einmal absatzweise umgeschrieben werden. Dennoch: die Art, wie ein Fluch dem Wortlaut nach umgesetzt wird, der scheinbar nur zu einem blutigen Finale werden kann, erinnert ein bisschen, ein kleines bisschen nur, an Shakespeares berühmte Prophezeiung in „Macbeth“. Keiner, den ein Weib gebar, könne dem Usurpator gefährlich werden, Gefahr bestehe erst, wenn der Wald von Birnham nach Dunsinane komme. Bei Fouqué soll die Rächerin dem Sohn des Mörders das Blut aus dem Leib saugen nahe dem Herzen. Das würde dem klassischen Muster der Blutrache folgen. Nur baut Fouqué genau daraus das Happy End seiner Novelle. In der der Zufall über das übliche Novellen-Maß hinaus das Geschehen bestimmt. Denn da sind zwei Freunde, Paolo und Neri, die am selben Tag heiraten, deren Gattinnen, Gismunda und Leonore am selben Tage ihre ersten Kinder bekommen, Mädchen und Knabe. Das Verrückte ist nun, dass Fouqué die Kinder ohne ein Wort der Erklärung vertauscht, was auch mir nicht sofort auffiel.
„Leonore, Neris Gattin, genas eines schönen Mägdleins, und Paolo ward von seiner geliebten Gismunda mit einem ebenso holden Söhnlein beschenkt.“ So steht es gleich auf der ersten Seite. Dann folgt die verrückte Geschichte, wie die beiden glücklichen Väter einander die gute Nachricht überbringen wollen, sich dabei verfehlen und über der Suche den Tag fast verstreichen lassen. Sie finden sich schließlich noch, schon außerhalb von Florenz „auf einer kleinen Besitzung vor der Stadt, wo man unter anmutigen Lauben die edelsten Weine schenkte.“ Paolo scheint trinkfester als Neri, den der Alkohol enthemmt. Der auf dem Heimweg bald beginnt, Unfug zu treiben. Neri lärmt, er singt, er klopft an Fenster, er wird, als ihn Paolo ermahnt, aggressiv. Er pöbelt Passanten an, reizt einen angesehenen Mann mit einer Dame am Arm. Es kommt, wie es heute an jedem Amtsgericht immer wieder zu hören ist, zu einer Rangelei, einem Handgemenge und am Ende hat ausgerechnet derjenige, der schlichten wollte, ein zweischneidiges Messer im Herzen. Welch ein Irrsinn, einer der beiden frischgebackenen Väter ersticht den anderen, mit dem er eben noch übermütig feierte. Als er ernüchtert begreift, schlägt er zuckend zu Boden. Als er wieder erwacht, steht ein Mönch vor ihm.
Neri beschließt, im Kloster Buße zu tun. Die Zuckungen befallen ihn immer wieder, er nimmt sie, jetzt den Namen Bruder Poenitens tragend, als ihm auferlegte Strafe. Nun kommt die Vertauschung. Leonore, eben noch Mutter eines schönen Mägdleins, „hatte Neris armen Knaben Romeo taufen lassen“. Dagegen: „Gismunda hingegen war über den Verlust ihres geliebten Paolo in eine solche Wut geraten, dass sie im ersten Augenblick des Schmerzes ihrem Töchterlein in die Ohren schrie“. Sie nennt ihre Tochter, die Rächerin der Novelle, Bendicatrice. In dieser neuen Konstellation entwickelt sich das Geschehen. Gismunda will wie ihre Tochter verflucht sein, wenn diese nicht dem „Nerisknaben“ das Blut aussaugt. Es kurz zu machen: die Tochter wächst heran, sie entlockt ihrer Mutter das Geheimnis und macht sich auf den Weg zum Heiligen Grab in der Hoffnung, dem Fluch vielleicht zu entkommen. Was sie nicht weiß: auch der Knabe Romeo ist zum Heiligen Grab aufgebrochen, sogar ein Jahr vor ihr. Fouqué klammert alles Kolorit aus, weder Florenz am Anfang und Ende noch zwischendurch das Morgenland mit Wüste und Wüstenbewohnern gewinnen Farbe.
Als Gismunda, die schwermütig wurde, aus Träumen Hoffnungen geschöpft hat, will sie beichten und, wieder der Novellen-Zufall, der die Beichte abnimmt, ist ausgerechnet Neri, jetzt Poenitens, der ihr Absolution erteilt und für sich Vergebung erbittet. Beide nehmen dabei in Kauf, dass das Schlimmste geschehen sein könnte in der Ferne. Genau das aber geschieht nicht, auch wenn es noch zu einer Verwicklung kommt, deren Schilderung vor zweihundert Jahren vermutlich nicht den allergeringsten Anstoß erregte, heute sicher von weiten Kreisen eines islamfeindlichen Rassismus verdächtigt würde. Denn ein zunächst hilfsbereiter „Muselmann“ schnappt sich Bendicatrice, als er in ihr das Mädchen erkannt hat und schleppt sie gegen ihren Willen weg. Ein Fremder tritt auf, der mit verblüffender Selbstverständlichkeit sich berechtigt fühlt, den „Muselmann“ zu befragen, woher sein Anspruch auf das Mädchen stamme. Der Befragte fackelt nicht lange, zumal er bewaffnet ist, der Fremde nicht. Dennoch wird er besiegt und der Sieger ist, wir ahnen es längst: Romeo. Der Speer, der ihn traf, erkennt er mit geschultem Blick, dessen Herkunft uns unklar bleibt, war vergiftet. Bendicatrice saugt, wir kennen das aus Filmen, das vergiftete Blut aus der Wunde.
Es kommt zum fröhlichen Finale, Verlobung, Hochzeit, Vater Neri stirbt während der Verlobung, das Kloster hatte ihm Ausgangserlaubnis erteilt. Der letzte Satz der Novelle geht so: „Nach einem Jahr heiratete Romeo seine holde Braut, und beide Mütter sahen es noch, wie ein blühendes Geschlecht aus den beiden vereinten Familien emporsprosste.“ Dergleichen las man gern und, wäre nicht die nun wirklich schon gewöhnungsbedürftige altertümliche Sprache, es würde wohl auch heute noch sehr gern gelesen. Fouqués Verächter haben sich darauf geeinigt, seinen sinkenden Stern bis hinein ins Vergessen mit dem Bild der Leihbibliotheken zu verknüpfen, in denen allein sein Ruhm noch lange nicht verblassen wollte. Ob das einer vom anderen abschrieb, will ich nicht behaupten, die Leihbibliothek aber geistert durch viele Texte. Und dahinter steckt die uralte intellektuelle Arroganz ihrer Verfasser: man verachtet solche Leser und, man könnte es in heutigen Zeiten zuspitzen: man verachtet Frauen, denn bis heute lesen signifikant belegbar vor allem sie bevorzugt just solche Geschichten, bekommen vor allem sie ständig Nachschub aus fließender weiblicher Roman-Produktion. Das Mittelalter lebt wie nie im Roman, Fouqué wäre begeistert.
Heinrich Heine hat es so ausgedrückt: „Während Herr de la Motte Fouqué von der Herzogin bis zur Wäscherin mit gleicher Lust gelesen wurde und als die Sonne der Leihbibliotheken strahlte, war Herr Tieck nur die Astrallampe der Teegesellschaften.“ Die Wende nach wenigen Jahren großen Erfolges dann so: „Die retrograde Richtung, das beständige Loblied auf den Geburtsadel, die unaufhörliche Verherrlichung des alten Feudalwesens, die ewige Rittertümelei, missbehagte am Ende den bürgerlich Gebildeten im deutschen Publikum, und man wandte sich ab von dem unzeitgemäßen Sänger.“ Heine schickte übrigens dem verehrten Baron sein Buch mit den Stücken „Almansor“ und „Ratcliff“ zu und bedankte sich gerührt, als ihm Fouqué im Gegenzug dafür sogar ein Gedicht widmete. Diese Geschichte wäre gut und gern einen kleinen Exkurs wert. Joseph von Eichendorff hat etwas später als Heine Fouqué sogar eine besondere Schuld zugesprochen: „Und dennoch – obgleich er lange Zeit von einem zahlreichen Publikum und insbesondere von den Frauen mit Begeisterung begrüßt und gepflegt wurde, hat gerade Fouqué, freilich ganz wider seinen Willen, am meisten dazu beigetragen, die Romantik in Missachtung, ja Verachtung zu bringen.“
Für den der Neuromantik selbst nahe stehenden Hermann Hesse war es ein halbes Jahrhundert später fast eine Schande, wenn ein Verlag Fouqué mit Novalis in einen gemeinsamen Band brachte. An Novalis knüpften die Neuromantiker, so Hesse, mit Recht an, nicht aber an „den seichtesten, unechtesten Romantiker“ Fouqué. Hätte Hesse Rüdiger Safranskis Buch „Romantik. Eine deutsche Affäre“ noch kennengelernt, ihm wäre wohl dort eine ähnlich peinliche Verkopplung unangenehm aufgefallen. Safranski schrieb an der einzigen Stelle, an der der Name bei ihm überhaupt vorkommt, dies: „Friedrich de la Motte Fouqué hörte nicht auf, seine Geschichten von Rittern, Burgfräulein und Kobolden zu schreiben und nordische Sagen umzuschreiben. Er kam damit beim großen Publikum sehr gut an, wurde viel gelesen, ebenso wie E. T. A. Hoffmann, der im damaligen Berlin den Spuk umgehen ließ.“ Mal ganz davon abgesehen, dass Hoffmann so verkürzt auch keineswegs Hoffmann wäre. „Den kurzen Ruhm musste Fouqué mit langer Verachtung bezahlen.“ So Günter de Bruyn. Und: „Während die Welt sich ändert, bleibt Fouqué, wie er war. Auf seine Rückständigkeit ist Verlass. Indem er sich neuen Erkenntnissen verweigert, bleibt er sich selber treu.“ Fast tragisch.