Marie Luise Kaschnitz: Die Fahrradklingel

Die Grundidee ist einfach. Zum 60. Geburtstag ihres Vaters, der ein Oberbaurat ist, haben seine beiden Kinder, vor allem der Sohn, auf der Basis eines väterlichen Adressbuches alte Freunde aus Jugendzeiten gebeten, als Gratulanten etwas auf ein Band zu sprechen. Sieben Stimmen sind insgesamt zusammengekommen. Man hat bei der Feier im Familienkreis eben begonnen, die Bänder abzuhören, deren Inhalt die Kinder selbst noch nicht kennen, als Gäste zu Besuch kommen. Diese werden nun Zeugen der Anhörung, die darin gipfelt, dass nach mehreren hochtönigen Lobeshymnen für den beliebten und verdienten Jubilar ein Mann zu Wort kommt, der als Jude kurz vor der drohenden Deportation an einem Vierwaldstättersee genannten Teich in der Nähe von Frankfurt auf den jetzt Gefeierten traf, der ihn zum Kaffee lud und sich danach erst bewusst wurde, dass er sich damit extrem kompromittieren würde. Er verleugnete den alten Freund und tat, als wäre das ein Betrunkener gewesen, der stürzte. Die Situation ist unendlich peinlich, die Erinnerung an sie und die Reaktionen der Geburtstagsgäste darauf sind ebenfalls bezeichnend. Ein ganzes Leben, fast übermenschlich vorbildlich, wie es bis zu dieser einen Stimme schien, ist plötzlich in Frage gestellt.

Das Hörspiel „Die Fahrradklingel“ erlebte seine Erstsendung am 20. September 1965 im Hessischen Rundfunk, Regie Mathias Neumann, es war eine Koproduktion des Hessischen mit dem Norddeutschen Rundfunk NDR. Man kann es natürlich in den Zusammenhang einordnen, der im Westen Deutschlands am prägnantesten mit dem Auschwitz-Prozess (20. Dezember 1963 – 19. August 1965) bezeichnet ist. Die Vergangenheit war nicht vergangen, sie war verdrängt. Die Gegenwart der Vergangenheit fing eben so an, anerkannt zu werden. Man kann das Hase-und-Igel-Spiel spielen: wer zuerst. Wir wissen aus der Geschichte: der Igel immer, wie der Hase auch rast. Interessanter ist, dass gegen Ende der 60er Jahre nicht nur am liebsten alle Kunst zu Grabe getragen worden wäre, auch gleich noch alle Vergangenheit, Tradition. Man gefiel sich in blödsinnigen Fragestellungen, deren Blödsinnigkeit aus benennbaren Gründen erst später fixiert werden durfte: Deutungshoheiten, Minderheitsmeinungen, die Mehrheitsmeinung spielten, weil sie direkt auf das herrschende Feuilleton durchgreifen konnten. Ein Wolf Wondratschek verdächtigte das gesamte Hörspiel der fünfziger Jahre, heute muss man schon erklären, wer das war, obwohl er noch lebt.

Irgendwie. Stephan B. Würffel, den ich bei Gelegenheit des Kaschnitz-Hörspiels „Der Zöllner Matthäus“ zu zitieren schon Gelegenheit hatte, nannte in seiner Überblickdarstellung „Das deutsche Hörspiel“ den Namen Marie Luise Kaschnitz ein einziges Mal (rund zwanzig Hörspiele stammen von ihr) und zwar unter denen, die nicht den „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ erhielten. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, weil derartige Negativ-Bestimmungen schlicht nichtssagend sind, denn man könnte auch andere Charakteristika aufrufen, die auf Kaschnitz nicht zutreffen. Wäre nicht just diese Preislosigkeit an anderer Stelle zu erklärender Bedeutsamkeit gelangt, als Würffel dann doch ausführlicher auf Kaschnitz-Hörspiele zu sprechen kam. Auch diesen Text erwähnte ich schon, nur gewinnt er hier mehr Bedeutung als damals. Und es ist schon lustig, wie er jetzt anderen vorwirft, was er sich selbst vorwerfen müsste. Denn innerhalb eines eigens zum zehnten Todestag der Autorin konzipierten Buches mit lauter eigens dafür geschriebenen Beiträgen auf die weitgehende Vernachlässigung der Hörspiele aufmerksam zu machen, ist leicht, weil es dort letztlich auch nur von denen wahrgenommen wird, die sich ohnehin schon für Marie Luise Kaschnitz interessieren.

Der sechste Band der „Gesammelten Werke“, auf den Würffel 1984 seine Hoffnungen setzte, ist drei Jahre später erschienen. Herausgegeben von Christian Büttrich und Norbert Miller, versammelt er auf mehr als 800 Dünndruckseiten sämtliche Hörspiele, ergänzt durch biographische Studien. Populärer sind die Hörspiele dadurch nicht geworden. Ein durchaus repräsentativ gedachtes, leider mit dem Jahrgang 1998 eingestelltes Verlagsprojekt wie das der Jahresüberblicke im Stuttgarter Reclam-Verlag, begonnen mit „Deutsche Literatur 1981“, hat vom Unternehmen der Werkausgabe nicht einmal Notiz genommen, geschweige auf neue Sichten, die sie ermöglichte, auch nur dezent hingewiesen. Am 14. Oktober 1984, ebenfalls im Zusammenhang mit dem zehnten Todestag am 10. Oktober, wurde erstmals ein Marie-Luise-Kaschnitz-Preis verliehen. Ilse Aichinger nahm ihn im Kaisersaal des Frankfurter Römer entgegen, dotiert mit immerhin 10.000 Mark. Doch neuer Neugier auf die Namenspatronin des Preises, gar auf ihre Arbeiten für den Rundfunk, hat das ebenfalls nicht auf die Beine geholfen. Bleibt also der vertrackte Hinweis Würffels auf den Hörspielpreis, den die Kaschnitz nie erhielt. Wir stellen erschrocken fest, dass sich am Mechanismus nichts änderte.

Die Aufmerksamkeitsökonomie, wie das Phänomen seit einer Weile gern genannt wird, dockt mit unbeirrbarer Vorliebe an Preisträgern an. Reicht deren Gesamtmenge übers Jahr nicht hin zur Füllung aller vorgesehenen Literaturseiten der Feuilletons, aller Literatursendungen im Fernsehen und sicher auch Rundfunk (zu dem ich als Radio-Muffel wenig sagen kann), dann erweist sich die Erfindung von Long List und Short List als ausgesprochen hilfreich. Man könnte sagen: das Preisträger-Wesen erspart unverschämt vielen Menschen mühsames Recherchieren im Weltmeer der gedruckten Literatur und kann als strukturelle Analogie zur Präsenz-Praxis dominanter Buchhandels-Ketten gedeutet werden. Eine Nebenwirkung der Situation ist, ein Fall wie der von Marie Luise Kaschnitz beweist es schlagend, die Erkenntnis, dass selbst prominente Lobeshymnen verblüffend wirkungslos bleiben. Zitat Stefan Bodo Würffel: „Während ihr der Georg-Büchner-Preis bereits vier Jahre vor Eich zugesprochen wurde, ist ihr der Hörspielpreis, den Eich schon 1952 erhalten hatte, auch in späteren Jahren versagt geblieben.“ Günter Eich (1. Februar 1907 – 20. Dezember 1972) hat sich zu allem 1971 auch noch von den meisten seiner Funkarbeiten distanziert.

Besagt das alles aber etwas auch nur irgendwie Relevantes zu „Die Fahrradklingel“? Elsbeth Pulver hat in ihrem Autorenbuch dieses Hörspiel nicht ignoriert, wie „Reclams Hörspielführer“, sie trägt aber massive Einwände vor: „Nicht dass es der Autorin an Einfällen gefehlt hätte; aber diese wirken manchmal gekünstelt.“ Die Tonbandaufnahmen meint sie, sechs männliche und eine weibliche Stimme sind es: „In der Aufnahme entsteht das Porträt eines weit über den Durchschnitt redlichen Menschen, man hört das Lied vom braven Mann – bis die letzte Freundesstimme, schrill wie eine Fahrradklingel – daran erinnert, dass er zur Zeit des Dritten Reiches einen jüdischen Freund verleugnet hat. Auch hier das Schematische, zugleich die – wiederum vielen Hörspielen der Zeit eigene - Tendenz einer didaktischen Überdeutlichkeit.“ Die Schweizerin Pulver, die im April 90 Jahre alt wird, gern eine „Institution der Schweizer Literaturkritik“ genannt, kommt gar nicht auf die Idee, es könne historische Phänomene geben, bei denen es wie instinktlos vom Bauch her, vom Kopf her gedankenlos wirkt, von Didaktik, von Überdeutlichkeit zu schreiben. Als Staatsbürgerin eines Landes, das Juden abwies, die dem Rassenwahn entgehen wollten zwischen 1933 und 1945!

Was ist 1965 gekünstelt an der Idee, einen „braven Mann“ als das zu zeigen, was Millionen Männer (und Frauen) waren kaum mehr als zwanzig Jahre zuvor: Mittäter, Ermöglicher, Dulder im mindesten Falle. Oder Zuschauer, oder Profiteure, Käufer verschleuderten jüdischen Hausrates, Bewohner durch die Deportationen frei gewordener Wohnungen: selbst Frontsoldaten wärmten womöglich ihre von Erfrierung bedrohten Glieder in Kleidungsteilen vergaster Juden. Überdeutliche Didaktik? Pulver folgt offenbar im Blick auf die Hörspiele von Marie Luise Kaschnitz jedem Diktum von Wolf Wondratschek, dem Tradition ungeprüft in selbst reaktionär ist. Dummerweise wenden sich Hörspiele wie jede andere ernst zu nehmende Kunst an Publikum. Man kennt diese Logik: wunderbar funktionierte eine Universität, wenn da nicht Studenten wären, Schulen, wenn nicht Schüler, Demokratien, wenn nicht die Wähler wären. Intellektuelle Weltbilder, denen Politik spannend zu sein hat als wäre sie ein Krimi, die ihr dauerndes Gelangweiltsein einfach nicht für sich behalten können, weil auch sie, sie ignorieren es nur bei sich selbst, didaktischen Trieben folgen. „In einem Leben ist eben viel drin“ lässt Kaschnitz ihren Jubilar Willy Moll sagen, vage noch.

Als eben die Rede davon war, dass draußen, vor dem Fenster, ein Erschießungskommando angetreten war, Partisanen zu erschießen: „Beinahe noch Kinder ...“. Max Wohlgemut räumt ein, dass es das gab, „aber es muss ja wohl nicht alles zur Sprache kommen.“ Vermutlich kam es auch im wirklichen westdeutschen Leben unendlich viel seltener zur Sprache als in Literatur und Film. Genau deshalb waren genau solche Hörspiele nötig. Und wenn noch heute vollkommen zu Recht Stimmen zurückgewiesen werden, die im Reden über Denkmale der Schande (nicht Denkmale, die eine Schande sind) Geschichte leugnen wollen, um wieviel mehr war das 1965 nötig? Da waren die Richter wieder und immer noch Richter, die Euthanasieärzte immer noch und wieder Professoren, die Germanisten, die Kleist zum Nazi-Vorläufer machten, schrieben immer noch und wieder über Kleist, sogar im selben Verlag. Belastung war nichts, das Aussortieren aller Belasteten behielt man sich für den nächsten Umbruch vor. Nur die Literatur, auch das Hörspiel zeigten auf, dass auch kleine, auch sehr kleine Schuld Schuld ist. Tatsächlich endet „Die Fahrradklingel“ überdeutlich. Vater Willy Moll fordert Tochter Trudi mit der Klingel auf, ihm zum Vierwaldstätter See zu folgen.

Trudi: „Der ist doch gar nicht hier.“ Moll: „Der ist überall.“ Das ist eindeutig, unmissverständlich. Und beleidigt damit Intellektuellen-Ohren. Die nichts hören wollen, was sie schon wissen, immer schon am Ende der Furche im Hase-und-Igel-Spiel. „Sie sollten aber nicht vergessen, wozu einer fähig ist, wozu Sie fähig waren und eines Tages vielleicht wieder sind.“ Herr Rieple kommentiert: „Diese Juden. So waren sie und so bleiben sie. Frech.“ Und: „Er hätte die Einladung aber gar nicht annehmen dürfen. Das war schon eine Taktlosigkeit von ihm.“ Es hätte damals den jetzigen Oberbaurat seine UK-Stellung kosten können, mit einem Juden Spaziergänge zu machen, es hätte ihm Fronteinsatz bringen können. In „Orte“, dem späten Prosaband, hat Marie Luise Kaschnitz für sich festgehalten: „O die vielen Leben, die man hätte leben können, diese vielen schrecklichen Leben.“ Als sie dies dachte, sagte im selben Deutschland gleichen Sinnes, aber ganz sicher völlig unabhängig von ihr, der eine Generation jüngere Heiner Müller: „Mich interessiert der Faschist in mir.“ So deutlich hätte Kaschnitz es nie gesagt. Dass sie es so meinte, wenn auch vielleicht nur in allerletzter Konsequenz, steht mir außer Zweifel. Schrill wie eine Fahrradklingel klingt das nicht.


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