Jakob Hein: Antrag auf ständige Ausreise

Am Ende dankt Jakob Hein Christoph Links und Pimm. Was Pimm für dieses Buch getan hat, weiß ich nicht. Christoph Links, selbst Verleger, jedenfalls hat mit seinen kenntnisreichen und detailgenauen Hinweisen nicht verhindern können, dass historische Ungenauigkeiten verblieben sind, welchem Umstand der Nachsatz auf Seite 151 offenbar vorzubeugen suchte. So mag der Tagesanzeiger vielleicht doch auf besonders hinterhältige Weise recht haben mit seiner Aussage: "Das ist ein Schreiben, das auf der Achse Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid, Max Goldt liegt", dann, wenn man erkennt, dass er ja nicht verraten hat, wie weit entfernt von den drei genannten Jakob Hein auf dieser Achse steht.

Mir ist es schleierhaft, warum ein Mann des Jahrgangs 1971, Sohn eines sehr berühmten DDR-Vaters, sich in diesen vorgeblichen Mythen der DDR ausgerechnet mit größtem Eifer auf Zeiten warf, denen er keine eigenen Erfahrungen zusteuern konnte. Das ist in bestimmten Lebensbereichen des Biotops DDR besonders gravierend: Die Annahme etwa, dass ausgerechnet Bausoldaten es gewagt haben sollten, ihre Offiziere einfach zu duzen, kann nur jemand nutzen, der gar keine NVA-Erfahrungen hatte.

Natürlich ist Jakob Hein nicht vorzuwerfen, dass er von den knapp 41 Jahren DDR nur gut 18 selbst erlebt hat, den ersten Tag unter der Beobachtung des Lichts der Welt gleich tapfer mit eingerechnet. Dem Buch insgesamt aber ist vorzuwerfen, dass es fahrlässig auf den Hinweis verzichtet: Für Leser aus der ehemaligen DDR nur bedingt geeignet. Denn die teilweise schwerfälligen, den besten Stücken des Buches hohnsprechenden schulmeisternden Hinführungen zu einzelnen Geschichten sind eben in den Fließtext gerutschte Fußnoten für Leser vom anderen deutschen Stern, der sich wohl der Deutungshoheit zum Thema DDR flagrant bemächtigt hat, wie der jüngst verstorbene Ulrich Plenzdorf so bitter registriert hatte, die zugehörige Kenntnishoheit freilich hing nicht als Wurzel einfach unten dran.

Wie herrlich sind die Texte und öfter nur Textteile des offensichtlich gewaltsam auf Umfang gestreckten Büchleins (30 übrigens meist sehr lustige Illustrationen von Georg Barber, der sich Atak nennt), die einfach nur auf eine groteske Geschehenswahrscheinlichkeit setzen und den Aberwitz lakonisch hersagen, wie er tatsächlich hätte passiert sein können in aller DDR-Blödigkeit. Wie dröge sind die langen Einleitungen dort, wo Hein seiner Idee offenbar nicht genug Fett auf die Rippen setzen wollte oder konnte. Was soll um Gottes Willen ein Brief Goethes an seine Schwester Cornelia aus dem Jahr 1784, da jene Gute schon sieben Jahre tot war? Das muss doch einer merken. Wenn Stammesmitglieder auf der Insel Ruden nördlich von Rügen Fische mit der bloßen Hand fangen, dann muss doch um Gottes willen nicht im nächsten Satz stehen, dass sie dazu keinerlei technische Hilfsmittel benötigten.

Im gleichen Text läuft das Schiff Thälmann auf Grund und droht zu sinken. Liebes Schiff, Du bist doch schon auf Grund, wohin willst du denn nun noch sinken?? Die Behauptung eines Ungedienten, DDR-Rekruten hätten sich, außer wenn sie bei der Spatentruppe waren, selten gegenseitig geholfen, ist bösartig. Die Behauptung, der enttäuschte Entwickler Trabant-Merz hätte sich noch am gleichen Abend in den Westen abgesetzt, ist fahrlässig. Wenn es so leicht gewesen wäre, wäre die DDR zum Mauerfall bereits leer gewesen. Und die Bitterfelder Konferenzen von 1959 bis 1964? Wie viele waren das denn?

Schade, dass ein doch durchaus namhafter jüngerer Mann, der für seine ersten Bücher ziemlich viel Lob bekam, einen solchen Schnellschuss in die Welt setzt. Hätte das Buch die Qualität der ersten beiden Texte gehalten, wäre es vielleicht ein lustiges Buch geworden. Lachen musste ich nie, während ich bei den Herren Gernhardt, Henscheid und Goldt oft schon beim beliebigen Aufschlagen einer beliebigen Seite auf die Konsistenz von Blasenschließmuskel und Zwerchfell zu vertrauen hatte und mein Gewieher benachbarte Schichtarbeiter, soweit es auf dem Territorium der ehemaligen DDR noch solche gibt, aus dem wohlverdienten Zwischentief riss.

* bisher unveröffentlicht, 2007 entstanden


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