Joseph Roth: April

„Der Herr Postdirektor riss seit Jahrzehnten die alten Tage ab und entschleierte die neuen, behutsam und demütig, nicht wie ein Gott, sondern wie ein Diener Gottes. Heute würde er entsetzt nach dem Wandkalender sehen, irre werden in den Wochentagen und Daten und die Welt nicht mehr verstehen.“ Der das erzählt, hat weder einen Namen, noch ein genaues Alter, noch weiß man, was er in diesem Städtchen eigentlich tut. Er ist angekommen, da, und wird wieder abreisen. Im Moment aber tut er dies: „Deshalb hob ich den zerknitterten Zettel auf, glättete ihn und brachte ihn so gut es ging, wieder am Wandkalender an. Der Reisende sah mir zu und sagte: „Mein Herr, heute ist der achtundzwanzigste Mai!“ Ich erschrak fast, so laut sagte er das Datum dieses Tages, und obwohl es eine sehr einfache Sache war und alle Welt es wissen musste, schien mir, als hätte der Reisende ein scheues Geheimnis mit unverschämter Rohheit ausgebrüllt. Der achtundzwanzigste Mai!“ Dann erscheint mit dem Schlag der Turmuhr der Postdirektor, schreitet zum Wandkalender und entfernt das Kalenderblatt. Er scheint nicht zu bemerken, dass das Blatt schon abgerissen war, vielleicht aber, das wäre eine geheime Pointe, tut er nur so, als würde er es nicht bemerken, er will nicht.

Es ist der Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger, der 1925 „April. Die Geschichte einer Liebe“ als Buch herausbringt, der Verlag, in dem auch der sozialdemokratische „Vorwärts“ erscheint, der Verlag, der noch im selben Jahr „Der blinde Spiegel. Ein kleiner Roman“ nachschiebt. Joseph Roth, inzwischen Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Paris, hat zu diesem Zeitpunkt bereits drei Romane veröffentlicht: „Das Spinnennetz“, „Hotel Savoy“ und „Die Rebellion“, wobei der Erstling nur als Zeitungs-Vorabdruck erschien, als Buch erst knapp dreißig Jahre nach Roths Tod am 27. Mai 1939. Der 28. Mai gewinnt in der „Geschichte einer Liebe“ eine höchst seltsame Wichtigkeit: „Dieser achtundzwanzigste Mai wurde einer der wichtigsten Tage meines Lebens. Ich beschloss nämlich abzureisen.“ Und: „Käthe, dachte ich, wird jeden Morgen um die gleiche Stunde ihr Fenster aufklinken, und es wird nichts dabei sein, wenn ich nicht mehr vorübergehend guten Morgen sage. Und es war schon der achtundzwanzigste Mai. Am achtundzwanzigsten Mai konnte ich unmöglich länger bleiben. … Am achtundzwanzigsten Mai weiß man bereits, was man will.“ Roth überlässt es seinen Lesern, warum er seine nicht viel mehr als zwanzig Druckseiten „April“ nennt, nicht „Mai“.

Roth kannte sicher die Statistik nicht, derzufolge der Mai Vorzugsmonat der dichtenden Zunft ist, selbst Rolf Schneider konnte mit seiner Kolportage „November“ dagegen langfristig nichts ausrichten. Roth aber verrät wenige Zeilen vor dem Ende sein diesmaliges Betriebsgeheimnis: „Während der Zug noch einmal anzog und leise zu rollen anfing, winkte ich und sah dem Mädchen in die Augen. Nur dieses Blickes wegen habe ich diese Geschichte geschrieben.“ Ich zitiere mich ausnahmsweise selbst mit einer Notiz vom 28. Mai 2006: „Was für ein Zufall ist es, an einem 28. Mai eine Erzählung zu lesen, die an einem 28. Mai ihr Ende nimmt, es ist eine Erzählung, die mich aufgewühlt hat wie länger nichts, nicht weil sie besonders tragisch, besonders nahegehend wäre, ich las sie schon einmal, wohl aber, weil ein derartiger Genuss an Literatur nicht so oft zu haben ist, wie ich ihn jetzt hatte. Ich hatte vergessen oder es gar nicht so wahrgenommen, dass dieser Joseph Roth so einen Humor entfaltet. Ich habe etliche Male lauthals gelacht und konnte nicht anders, als einzelne Passagen sofort vorzulesen und es sind noch diverse Punkte auf den Seiten von meiner ersten Lektüre und jetzt sind neue dazu gekommen.“ Die inzwischen bis auf einen verschwanden.

2006 kam mir in den Sinn, Günter Bruno Fuchs könnte vielleicht bei dieser Geschichte in die Lehre gegangen sein, sein Erzählton klang mir im Ohr, als ich „April“ zum wiederholten Male las. „Es ist alles ein wenig schwebend, ein wenig wie Märchen und zugleich doch sehr real. Die Liebe des Erzählers teilt sich, es ist eine für ein Zimmermädchen Anna von dem Hotel, in dem er wohnt. Diese Anna hat ein Kind von einem Ingenieur, den sie immer noch liebt und der verheiratet ist. Wenn ein Reisender kommt, der sie an den Ingenieur erinnert, ist sie immer gefährdet für eine Affaire. Dann aber ist da noch ein anderes Mädchen, das der Erzähler nur am Fenster jenes Hauses sieht, das unten das Postamt und oben die Wohnung des Postdirektors enthält, es ist das einzige zweistöckige Haus des Städtchens.“ Ich füge meinen alten Worten nur hinzu: Dies ist das Mädchen mit dem Blick und der Geschichte. Das der anonyme Erzähler eben nur vom Sehen kennt. Warum Wilhelm von Sternburg, Autor einer recht umfangreichen Roth-Biografie, die 2009 bei Kiepenheuer & Witsch erschien, das Finale falsch darstellt, bleibt rätselhaft. „Er reist an, und im Zug begegnet er der jungen Frau...“. Nein, das tut er nicht, er sieht sie vom Zug aus, unter Erzählern ein Unterschied.

Womit nichts gegen die Sternburg-Biografie im ganzen gesagt sein soll, sie geht eben nur etwas zu rasch über die wunderschöne Geschichte hin und tut damit immerhin schon deutlich mehr, als es etwa der spätere südafrikanische Literatur-Nobelpreisträger J. M. Coetzee tat, als er die erstmals für den englischen Sprachraum versammelten „Collected Stories of Joseph Roth“ besprach. Coetzee gab sich mit der Mitteilung an seine Leser zufrieden, „April“ gehöre zu den Stories, die bereits einmal als Buch veröffentlicht wurden. Und hielt sich im wesentlichen an den Romanen Roths fest, die für Sammlung naturgemäß gar nicht im Mittelpunkt zu stehen hätten. Sternburg weiß immerhin: „Wenn es in Roths Geschichten regnet, ist in der Regel Depressives angesagt. In diesem Fall gilt das nur bedingt.“ Denn: „Von einem Weltzugewandten erzählt Roth in seiner April-Geschichte.“ Das sind genau die unauffälligen Sätze, die meinen Widerspruchsgeist stacheln: Roth lässt einen Weltzugewandten erzählen, und das auch noch weniger von sich als von dem, was er in dieser Kleinstadt sieht. Sehen und Beschreiben des Gesehenen ist die Substanz dieser Geschichte und der enorme Lesegenuss dabei kommt aus den Beschreibungen, den aberwitzigen Vergleichen vor allem.

Davon nur einige Kostproben, eine für mich schöner als die andere. Der junge Mann in der Leihbibliothek „war blass, romantisch blass und dünn, wie ein auferstandener Dichter“. „Schön waren die Nächte, in denen die Grillen und die Mädchen unermüdlich zirpten.“ „Unsichtbar lärmte irgendwo oben ein ganzes in die Ferien geschicktes Lerchenpensionat.“ „Er war an beiden Seiten etwas plattgedrückt, wie ein Fisch. Seine Arme hingen, wie bekleidete Rückenflossen, schlaff herunter.“ „Der Postdirektor hatte so unwahrscheinlich tiefblaue, gute Augen, dass ich glaubte, er hätte sie bei einem Optiker eigens für sich machen lassen.“ „Sie sah aus wie ein armes verstörtes Tier, wie ein in die Enge getriebenes, umstelltes Eichhörnchen auf einem grausamen, baumlosen Acker.“ Natürlich trinken die Kleinstadtmenschen in „April“ auch. Bisweilen Bier, obwohl sie aussehen, als müssten sie Weintrinker sein. Der Briefträger aber trinkt nur zweimal im Jahr, an seinem Geburtstag und am Todestag seines Sohnes, „der in der großen Stadt durch Selbstmord geendet hatte.“ Lakonischer lässt sich kaum sagen, woher des Briefträgers Nöte kommen. Hätte die Kleinstadt von Roth einen Namen bekommen, läge das Buch vielleicht in der Tourist-Information.

Wenn er denn, als Reporter unterwegs, mit Namen und Hausnummer arbeitete, musste er wie im Fall der „Briefe aus Deutschland“ mit dem leben, was man heute Shit-Storm nennt: die Lokal-Patrioten hüpften auf ihre virtuelle Barrikaden, um ihren Verwünschungen eine höhere Warte zu bauen. Mir kommt dieser Vergleich nicht von ungefähr, lesen sich doch, beim Beispiel zu bleiben, die „Briefe aus Deutschland“ wie Literatur und die Literatur in „April“ wie Reportage mit einem Relotius-Effekt. Denn Ich-Erzähler dürfen Gesprächspartner erfinden, die Ich-Erzähler in einer Reportage normalerweise nicht erfinden dürfen, es sei denn für den SPIEGEL. Ob wir in dem, was das namenlose Ich in „April“ von sich sagt und schreibt, Joseph Roth selbst erkennen dürfen, mag ich nicht entscheiden müssen. „Alles im Leben wird alt und abgenutzt: Worte und Situationen. Alle geeigneten Augenblicke sind schon dagewesen. Alle Worte sind schon gesprochen worden.“ Das klingt sehr nach Roth als Roth. Und das auch: „... alle Geschichten hängen zusammen. Weil sie einander ähnlich sind oder weil jede das Entgegengesetzte beweist.“ Das aber kennzeichnet seine Sehweise: „An ihrem Lächeln lernte ich, dass es nichts Geringfügiges gibt unter der Sonne. Ihr Lächeln am dritten Tag war ein großes Ereignis.“ Gerade das Geringfügige ist für Roth das Große.

David Bronsen, der Ur-Biograph Joseph Roths, der noch Zeitzeugen auftrieb, die er befragen konnte und so aus fast unerschöpflichen Quelle arbeiten konnte, schrieb: „In „April“ sind es nicht Existenzsorgen, die den Ausschlag geben, der Trieb der Seele zeigt sich unmittelbar. So leuchtet diese Novelle in seltener Eindeutigkeit einen Teil von Roths eigenster psychischer Beschaffenheit aus.“ Das mag man so sehen können, Bronsen steht jedoch zu stark unter dem Vergleichsdruck, den er sich selbst auferlegt hat. Gabriel Dan, den Erzähler aus dem schmalen Roman „Hotel Savoy“ führt er so dauernd im Munde, was zu Erkenntnissen führt wie: „In beiden Werken wird der Mangel an Beständigkeit durch das Bild des Fortschwimmens zum Ausdruck gebracht.“ Was Bronsen dann jedoch als Belege anführt, ist schlicht nicht stimmig, es passt nicht: Fische, die nach Westen gespült werden und Strohhalme, die im Bächlein treiben, haben wenig Gemeinsames, falls man einen Moment darüber nachdenkt. Und Amerikaner muss man wohl sein in aller Verklemmtheit, wenn man auf diese Idee kommen kann: „Die Novelle ist von der schwülen Atmosphäre züngelnder Erotik durchtränkt“. Den Satz, mit dem Bronsen das demonstriert, muss ich natürlich zitieren.

Er lautet: „Rund um die Bänke, die in der Mitte der Beete standen, war das Gras ein wenig müde und hergenommen von der nächtlichen Liebe der Menschen.“ Was hier schwül ist und züngelt, verstehe, wer mag. „Diese scheinbar unbekümmert hingeworfenen Geschichte einer charmant-romantischen Liebelei ist in Wirklichkeit das Lebensgeheimnis eines mimosenhaft empfindlichen Menschen, der mit allen Fasern danach strebt, sich das rohe Leid auf Kosten einer näheren menschlichen Beziehung fernzuhalten.“ Ob der Erzähler am Ende in „April“ ein imaginäres, wie Bronsen meint, oder ein tatsächliches Gleichgewicht erreicht hat, muss nicht final entschieden werden. Ich schließe mit Hermann Kesten, dem Mann, der Joseph Roths Sterben erlebte und von ihm kündete: „Er war ein Romantiker, begabt mit allen realistischen Mitteln. Er hasste den Schein und die Fälschung und vor allem das lügnerische Wort. … Andere hatten im Leben größeren Ruhm. Sein Ruhm wird länger dauern.“ Ich will nicht ausschließen, dass ich eigens noch einmal nach Paris fahre, Roths Grab zu sehen, was mir bei drei Aufenthalten bisher nicht gelang. Es liegt einfach zu weit draußen, was man symbolisch sehen könnte. Doch er muss gar nicht im Zentrum liegen.


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