Theodor Fontane: Malchow. Eine Weihnachtswanderung

Mitten in den vierten Band seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ hat Theodor Fontane dieses Erzählstück gesetzt. Er hat es, wie vieles, was später in die „Wanderungen“ einging, zuerst separat veröffentlicht. Es gibt also gute Gründe, diese Weihnachtswanderung, die gar keine war, einer eigenen Betrachtung zu würdigen. Und es wird sich dabei zeigen, dass erstaunlich viel Fontane auf diesen wenig mehr als zehn Druckseiten zu finden ist. Wobei einschränkend zu sagen wäre: das Viele erschließt sich umso mehr, je mehr man vor der Lektüre schon von Fontane weiß. Das aber, und genau darin liegt eine der besonderen Qualitäten des Wanderers, führt andernfalls eben nicht zur Verminderung des möglichen Lesevergnügens, wenn man denn überhaupt bereit ist, dergleichen voller Empfänglichkeit aufzunehmen. Fontane schildert einen sehr nachvollziehbaren Vorgang: die Lektüre eines bestimmten Buches weckt seine Neugier doppelt: Neugier auf den Mann, der im Zentrum des biographischen Werkes steht, zugleich Neugier auf den Schauplatz des Geschehens. Und der ist eben Malchow, zu Fontanes Zeiten von Weißensee aus nur zu Fuß zu erreichen, wenn man zuvor mit dem Omnibus bis Alexanderplatz und dann mit der Pferdebahn nach Weißensee fuhr. Heute ist Malchow kleinster Ortsteil Berlins, hat weniger als 650 Einwohner.
 
Das Buch, das Fontane neugierig machte, erschien 1877 im damals sehr namhaften Verlag Duncker & Humblot. Ob es außer Fontane noch sehr viele weitere Leser anzog, weiß ich nicht, ich wage die Vermutung: Eher nicht. Denn weder der Autor noch sein biographisches Objekt können unter die ganz Großen ihrer Zeit gerechnet werden, soweit man unter solchen jene versteht, die auch von Leuten gekannt werden, die keine Spezialisten für dies und das sind. Fontane aber war 1878 schon ein sehr erfahrener Kenner und Wisser von allem, was die Mark Brandenburg sowieso, aber auch Preußen allgemein betraf. Er las immer, was ihm für seine jeweilige Arbeit hilfreich war, also in der Zeit seiner Kriegsbücher, die über Jahre parallel auch die Zeit seiner „Wanderungen“ war, vor allem Historisches aller Art: Militärgeschichte, Kulturgeschichte, Adelsgeschichte. Er schuf mit dem, was er schrieb, immer auch spezielle Arten von Geschichtsbüchern und das in einer Zeit, wo die größten deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts nicht nur Zeitgenossen, sondern bisweilen auch Bekannte Fontanes waren. Fragliches Buch trägt den Titel „Paul von Fuchs, ein brandenburgisch-preußischer Staatsmann vor zweihundert Jahren. Biographischer Essay von F. von Salpius“. Das war Friedrich Hermann Albrecht von Salpius (1831 bis 1909 laut Wikipedia, laut anderer Quelle nur bis 1903).
 
Er war Landgerichtsrat und jüngster Sohn von Johann Ludwig Wilhelm von Salpius (1785 – 1866). Der wiederum war ein preußischer General, hatte fünf Söhne und eine Tochter. Was heute eher zu hochgezogenen Augenbrauen führt und Stirnfalten erzeugt, das war Theodor Fontanes Lebenswelt und Wunschwelt. Man schaue sich beliebige Stellen etwa im Familienbriefwechsel an: wen er auf Reisen traf, mit wem er plauderte, wen er besuchte, von Freundschaften nicht zu reden, dann wird man Vertreter der Klientel sehr häufig antreffen, die hier allein aus den Namen spricht. Fontane aber las diesen Salpius nicht nur, um eine Wanderung zu bisher unbekannten Zielen ins Auge zu fassen, er schrieb auch eine Rezension zum Buch. Die war schon erschienen, ehe er sich via Weißensee und Malchow auf den Weg machte. Sie wurde zuerst gedruckt in der „Allgemeinen Zeitung“ vom 11. November 1878 (Nr. 315) und ist nachlesbar im Band VII der „Wanderungen“, der den zweiten Teil unbekannter und vergessener Geschichten aus der Mark Brandenburg versammelt unter dem Titel „Das Ländchen Friesack und die Bredows“. Für alle, die es ganz fürchterlich finden, wenn Kritiker nur Inhalt referieren: Fontane verwandte gut zwei Drittel seiner Besprechung darauf. Dann aber und fast nebenbei formulierte er auch Kriterien, die ihn selbst charakterisieren, ihm sehr wichtig waren.
 
Er bescheinigt dem Autor von Salpius „Talent, die hundert und tausend kleinen und großen Vorkommnisse klar und übersichtlich zu ordnen“. Just diese Leistung nahm Fontane für sich selbst bei seinen Kriegsbüchern in Anspruch und fühlte sich genau darin verkannt, wenn er sich schon damit abfinden musste, von der so genannten Fachwelt ignoriert zu werden. „Aber eines ist dem Herrn Verfasser nicht geglückt: uns ein menschliches Interesse für seinen Helden einzuflößen.“
Das aber war wiederum für Fontane selbst ein äußerst wichtiges Ziel seines eigenen historischen Schreibens, seinen Schreibens letztlich insgesamt. Ganz unpassend fand er schließlich jeglichen Versuch, Paul von Fuchs mit Bismarck zu vergleichen. Auch hier hat Fontane ein klares und einprägsames Diktum bei der Hand: „indessen das Aufbauen Deutschlands ist ein anderes Ding als der Aufbau der Universität Halle“. Letztlich ist sich der Kritiker Fontane sicher, „ein Buch für Fachkreise, auch für Politiker“ gelesen zu haben, keines aber von allgemeinem Interesse. Man kann, ohne Fontane gleich ein solches bewusstes Motiv zu unterstellen, annehmen, sein Weg nach Malchow wäre auch ein Gang gewesen, eigener Überlegenheit zum Ausdruck zu verhelfen. In einem späteren Brief hat er sich derart geäußert, dass diese Annahme eine gewisse Stützung findet.
 
Es handelt sich um einen Brief Fontanes an Friedrich Wilhelm Holtze vom 28. Januar 1879. Holtze (keine Lebensdaten bekannt) war Professor an der Berliner Hauptkadettenanstalt und später Bibliothekar der Preußischen Kriegsakademie. Darin heißt es unter anderem: „Es fehlen uns durchaus die Leute, die, voll Geist, Kombinations- und Gestaltungsvermögen, aus einer Kralle oder einem Wirbelknochen ein ganzes lebendiges Wesen aufzubaun verstehn. … Die Historiker müssten von den Naturhistorikern lernen; statt dessen beschränken sie sich einseitig auf Bücher und Archive.“ Wenn man die erzählte Weihnachtswanderung, die am 18. Oder 19. Dezember 1878 stattfand, in „Spreeland“ gelesen hat, versteht man, was da genau gemeint ist. Was Fontane in seinem Text geradezu mustergültig durchexerziert hat. Den Fach-Historikern werden vermutlich noch heute solche Aussagen vorlaut erscheinen, denen aber unter ihnen, die auch gelesen werden wollen, ist der alte Fontane womöglich gar ein Fingerzeig. Zu hoher Blüte hat das empfohlene Verfahren einer gebracht, dessen historischer Stoff Goethe hieß: es war Ernst Beutler. Während Theodor Fontane, wir vergessen es nur zu schnell, ja auch und in vielem sogar zuerst Journalist war, ein Zeitungsmann, der die Klaviatur seines Mediums verblüffend bis heute zu bedienen verstand.
                                                                     
In Malchow gab eine junge Frau sehr bereitwillig Auskunft, wo der Lehrer zu finden sei, der Lehrer aber hatte einen Tiefschlag für ihn parat und darüber hinaus nicht die geringste Lust, dem Besucher in irgendeiner Weise behilflich zu sein. Das kannte Fontane nicht und noch im Schlusswort zu „Spreeland“, dessen erste Auflage 1882 auf den Buchmarkt kam, sah er sich zu einer speziellen Erklärung veranlasst: „Und nun ahnt der Leser bereits, vor wem ich mich, als vor dem Dritten im Bunde, zu verneigen haben werde, natürlich vor dem Lehrer, der sich mir, unbekümmert darum, ob ich ihn bei seinen Schulstunden oder bei seinen Bienen- und Rosenstöcken störte, von einem immergleichen Entgegenkommen erwies. Einen einzigen Ausnahmefall abgerechnet, über den ich in dem Kapitel „Malchow“ des weiteren berichtet habe, hieß es allezeit und allewege: „Klopfet an, so wird euch aufgetan“, und selbst auf brieflich gestellte Fragen, aus denen sich mehr als einmal eine vollständige Korrespondenz entwickelte, bin ich zu keiner Zeit ohne den gewünschten und oft sehr eingängigen Bescheid geblieben.“ Im Malchow-Bericht aber las es sich so: „Die ganze Reihe der Schulmeister durchgehend, deren Bekanntschaft ich in Leben und Dichtung je gemacht hatte, konnt ich doch keinen finden, der mir … gleich verabscheuungswürdig erschienen wäre.“
 
Der Tiefschlag bestand in der Nachricht, dass die Gruft zugeschüttet sei, in die Fontane gern gestiegen wäre und auch sonst nichts weiter zu finden sei in der Kirche. Zu finden war jedoch, und zwar nicht weit weg vom stieseligen Lehrer, der Pastor des Ortes, dessen Namen Fontane im Text nicht nennt, der aber überliefert ist: Adalbert Hosemann hieß der freundliche Pfarrer, der seinem Besucher nicht nur half, indem er ihm die Kirche zeigte, die Kirchenbücher öffnete und Einblicke in die Tauflisten gewährte, sondern der ihn auch zu Tisch bat. Vor der Schilderung dieser Begegnung legte Fontane sich eine Art Verstehensversuch für den Lehrer zurecht, indem er sich einen Freund erfand, falls es diesen nicht sogar tatsächlich gab, der dieses gesagt haben sollte: „So verfolg ich beispielsweise die Theaterbrände. Alle fünfzehn Jahre brennt ein großes Theater ab. Nicht öfter, aber auch nicht weniger oft.“ Was den sich so selbst Tröstenden zu der Folgerung trieb: „Der Ausnahmefall war in sein geheimnisvolles Recht getreten; das Gesetz vollzog sich.“ Aus dieser Perspektive war dann Pastor Hosemann der Regelfall, der angenehme, und das lässt Fontane in jedem Wort über ihn spüren. „…alles stimmte zu den hohen Bücherregalen, auf denen die theologischen und die Fritz Reuterschen Schriften in aller Friedlichkeit beisammenstanden.“
 
„Das märkische Pfarrhaus in seiner anspruchslosen und doch zugleich von Kunst und Schönheit leise berührten Behaglichkeit hatte nie lebendiger zu mir gesprochen.“ Da führt er vor, was er meint, wenn er die Historiker auffordert, von den Naturkundlern zu lernen: sie sollen Dinge und Orte zu sich sprechen lassen. Wie wichtig ihm das war, hat er im Zusammenhang seiner drei Kriegsbücher gern betont: er musste die Schlachtfelder sehen und zwar nicht von irgendeinem imaginären Feldherrnhügel aus, sondern aus der Nähe und im Detail, der nicht selten nur für ihn den Wert hatte, den er darin erkannte und zur Sprache brachte, wenn er sich ans Schreiben setzte. Hier in Malchow aber hätte er nach abschlägiger Erstauskunft und nach unergiebiger Erstbetrachtung des Kircheninneren sich sagen müssen: Dumm gelaufen, den Weg hätte ich mir sparen können. Doch genau das tat er nicht und die Art wie er es nicht tat, ist mustergültig. Sie könnte Lehrstoff an Journalistenschulen sein, wenn dort nicht längst andere Inhalte in den Vordergrund gerückt wären. Fontane tut, was seit Karl Kraus abschätzig gesehen werden soll: Er dreht auf einer Glatze Locken. Fontane greift sich aus den Kirchenbüchern die Zeit, in der der Staatsmann Paul von Fuchs hier wirkte und wird abermals nicht fündig. Dann sieht er die Taufstatistik des Pastors Johannes Post.
 
Der ist bekannt als Schöpfer eines viel genutzten Kirchengesangbuches und hat über sieben Jahre genau sieben Taufen pro Jahr vollzogen, 49 also insgesamt. Und Fontane studiert die Listen, liest die Namen der Taufpaten, erkennt Regeln und Zusammenhänge, die man sehen kann, wenn man die Sehweise hat dazu. Die aber sonst vermutlich eher übersehen würden, wenn sich denn überhaupt je jemand für die Soziologie der Taufpaten in der Mark Brandenburg interessieren sollte. Fontane war Interessent, auch wenn es den Anschein haben kann, als habe er lediglich aus der Not eine Tugend gemacht, was freilich ein Teil journalistischer Kunst genannt werden darf. Aus dem Vollen schöpfen ist keine Kunst. Kunst ist es für Fontane, siehe oben, aus einer Kralle oder einem Wirbelknochen ein ganzes Wesen aufzubauen, je lebendiger, je größer die Kunst. „Wer aber weiß, dass das Menschenherz nicht gerne von Lieblingsvorstellungen lässt und nach dem Hinschwinden von Dingen und Ereignissen sich schließlich auch mit Betrachtung ihres bloßen Schauplatzes zufriedengibt“, der soll ihn verstehen, ist sich Fontane sicher. So gibt er kund, wie ihm bereits die Fahrt nach Weißensee unter lauter Schulkindern Spaß gemacht habe, so gibt er kund, wie ihn der Blick zu der Stelle in der Kirche, wo das Fuchs-Wappen fehlt, an Shakespeares Macbeth erinnert.
 
Und führt noch heutigen Fontane-Freunden damit vor, wie allgegenwärtig ihm Shakespeare war, es wimmelt im gesamten Werk von Präsenzstellen weit über das alles hinaus, was in Kritik und Bericht direkt und ausdrücklich Shakespeare gewidmet ist. Selbst die Erwähnung Fritz Reuters aus dem Bestand der Pastorenbibliothek könnte als ein winziges Signal gelesen werden, war doch Reuter im großen Freundes- und Bekanntenkreis Fontanes keineswegs gleichmäßig beliebt, das wechselte bisweilen innerhalb einer Familie. Die vorweihnachtliche Weihnachtswanderung nach Malchow benötigte im Erstdruck eine Teilung. Sie erschien am 1. und am 15. Januar 1879 in „Der Bär. Berlinische Blätter für vaterländische Geschichte und Altertumskunde“ und war, wie einem Brief an den Verleger Wilhelm Hertz vom 16. Dezember 1878 entnommen werden kann, letztlich  eine Art Auftragswerk. 26 nahezu komplette Jahrgänge dieser Blätter sind aktuell sogar antiquarisch zu haben für 600 bis 1300 Euro. Fontane erkannte, das weiß man seither spätestens, am Geräusch, dass die Plätterinnen im Pfarrhausflur ihre Bügeleisen mit frischen heißen Bolzen füllten. Er zählt  Reihen von Namen der Taufpaten mit Angabe ihrer Tätigkeiten auf, als hätte ihm ein gut 100 Jahre später agierender hyperaktiver Chefredakteur aus Bielefeld zugebrüllt: Namen sind Nachrichten!
 
Und nach einem längeren Zitat aus dem Buch Friedrichs von Sulpius über die fröhlichen Geber und Stifter aus der Zeit von  Paul von Fuchs, die demnach alle Eigennutz und Gemeinsinn verbanden, darunter Klöster, Kirchen, Türme als Spenden, Fuchs selbst stiftete ein Haus für Predigerwitwen sowie ein Armen- und Waisenhaus, schreibt Fontane: „Ob diese Stiftungen noch existieren, hab ich an Ort und Stelle nicht in Erfahrung gebracht.“ Den Satz hätte er einer südthüringischen Redaktion mit ostwestfälischem Chef-Stellvertreter nicht unterschieben dürfen. Der hätte in seiner täglichen Hausmitteilung geschrieben, dass es die zwingende Pflicht des Reporters gewesen wäre, genau das in Erfahrung zu bringen. Wegen des Nutzwertes der Zeitung. Fontane hätte sich das vielleicht sogar zu Herzen genommen. So aber beendete er seinen Bericht auf seine ganze eigene Weise: „Ein entzückender Tag. Die Gruft hatte nichts herausgegeben, aber das Leben hatte bunt und vielgestaltig zu mir gesprochen. Und das bedeutet das Beste.“ Das kann man, falls man Bedarf nach einer solchen hat, als eine kleine Weihnachtsbotschaft lesen, sehr weltlich freilich. Die Malchower, „kluge Leute schon damals“, wie Fontane voller Bedacht einschob, sprachen zwar nur indirekt zu ihm, so aber, dass sich ein Bild ihres Lebens daraus aufbauen ließ. Mehr war kaum zu wollen.


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