Gustav von Wangenheim: Das Urteil

Wer meinen am 18. Februar 2015 ins Netz gestellten Text „Gustav von Wangenheim: Helden im Keller“ kennt, wird sich womöglich fragen, warum ich fünf Jahre später noch einmal auf diesen Mann und sein Werk, genauer, eines seiner Werke für Bühnen, zurück komme. Die Antwort ist einfach: ich neige dazu, verstehen zu wollen. Einer, der so war, wie ich ihn anhand der mir zugänglichen Literatur damals schilderte, kein Protest gegen meine Darstellung hat mich je erreicht, ist deshalb noch längst keiner zum finalen Beiseiteschieben. „Das Urteil“, sehr kurz, in die Silvesternacht von 1932 auf 1933 führend, aber ohne Einbeziehung dessen, was am Ende des ersten Monats im neuen Jahr geschah, ist ein Debattenstück. Das Buch, in dem es gedruckt ist, erschien 1974 im Rowohlt Taschenbuch Verlag, war damals eine Erstausgabe mit dem Titel „Da liegt der Hund begraben und andere Stücke. Aus dem Repertoire der „Truppe 31“. Deren kurze Geschichte kann und soll hier nicht verfolgt werden, nur so viel muss gesagt sein: am 4. März 1933 wurde sie vom Berliner Polizeipräsidenten verboten. Das war der NSDAP-Mann Magnus von Levetzow, der nach Hitlers Machtübernahme schon am 15. Februar den DVP-Mann Kurt Melcher ablöste. Gustav von Wangenheim glaubte 1974 noch, ihn durch Verschweigen seines Namens als bedeutungslos charakterisieren zu können: „irgendein reaktionärer Admiral“ schrieb er. Hilfreich ist das nie.
 
Dafür fehlt in der Zusammenstellung für die durch ihr leuchtendes Rot berühmte Reihe „das neue Buch“ jeglicher Hinweis auf Entstehung der Stück-Texte, auf eventuelle Inszenierungen, Uraufführungen. Was man halt so erwartet an soliden Quellen in einem ja auch dokumentarisch gedachten Buch. Worum geht es in „Das Urteil“? Ein Mann, der keinen Namen hat, sitzt mit seiner Frau Else in der gemeinsamen Wohnküche, er ist S-Bahn-Schaffner, sie vermutlich Hausfrau. In frischer Erinnerung beider ist der berühmt-berüchtigte Streik bei der Berliner Verkehrsgesellschaft 1932, er dauerte vom 3. Bis 7. November 1932. Für die SPD, kann man verschiedentlich lesen, gilt dieser Streik als das historische Paradebeispiel einer keinesfalls unmöglichen Kooperation von Faschisten und Kommunisten. Seitens der damaligen KPD soll Ernst Thälmann persönlich die Parole ausgegeben haben, die Nazis in den Streik einzubeziehen, den und andere. Das wiederum wird gern mit der von Stalin den deutschen Kommunisten aufgezwungenen „Sozialfaschismus“-These erklärt, der zufolge die SPD der Hauptfeind sei. Noch während meines Studiums in Berlin von 1975 – 1980 war es keinesfalls normal, diese Seite der Verantwortung für die nicht zustande gekommene Einheitsfront gegen Hitler in die Darstellung einzubeziehen, im Zweifel war die SPD Schuld und zwar allein. Während des Streiks scheint der Schaffner Streikbrecher gewesen zu sein.
 
Nicht das aber wird zum Problem für das Paar, das trägt es am Küchentisch aus, wobei Standpunkte in ihrer Unterschiedlichkeit weder unterdrückt noch weggeschwiegen werden. Vor allem Else erweist sich, weshalb sie denn vermutlich auch einen Namen tragen darf, als sehr konsequent. Das Problem ist eine junge Frau namens Rosa Katuscinski, die beide gar nicht kennen, über die sie aber in der Zeitung lesen am genannten Küchentisch. Diese Rosa hat, weil sie sehr arm ist, ihr Kind auf einem Feld abgelegt in der offenbar sicheren Hoffnung, es werde dort gefunden. An die Finder gerichtet lag dem Säugling ein Brief bei, dieser wiederum enthielt zwei Lotterie-Lose. Man meint ahnen zu müssen, was dann passierte. Ein polnisches Bauerpaar findet Kind und Brief mit Losen und, so ist eben Kunst, eines der beiden Lose gewinnt 5000 Mark. Das war damals sehr viel Geld. Kaum aber ist der Gewinn, auf welchem Weg auch immer, der Kindsmutter zu Ohren gekommen, taucht sie bei den Bauern auf und will Kind und Geld. Denn jetzt könnte sie das Kind ja ernähren. Anders als in Brechts späterem „Kaukasischem Kreidekreis“ verbleibt Wangenheims Stück im reinen Rechtsfall. Denn Rosa Katuscinski hat den Gewinn, falls es einen geben sollte, ausdrücklich und schriftlich den Findern zugesprochen. Die freuen sich natürlich über das Geld, lieben das Kind.
 
Dennoch entspricht es ihrem Rechtshorizont, das Kind der Mutter zurückgeben zu müssen, nicht aber zugleich das schöne Geld aus der Lotterie. Verhandelt wird im Stück mit einer damals sehr modernen Bühnenkonstellation: die Ausleuchtung sorgt für Szenenwechsel, zu erleben ist etwas wie eine surreale Gerichtsverhandlung. In der ist keineswegs die Mutter Rosa angeklagt, sondern der namenlose Mann. Die Anklage lautet in den Worten seiner Frau Elsa: „Du bist angeklagt, ein hartes unproletarisches Urteil gefällt zu haben über Rosa Katuscinski, die arm ist wie wir und wie du.“ Else sagt weniger später auch: „Wir in unserm Gericht finden die öffentliche Schande in allem Privaten. Armut ist keine Schande für die Armen.“ Der Mann, in der Hinsicht modern wie ein heutiger BILD-Leser angesichts von Kinderschänder-Geschichten im textarmen Blatt, plädiert am Küchentisch für Höchststrafe, das war damals die Todesstrafe. Sein Argument: Kindesaussetzung ist Mord. Mit seinem Urteil über Rosa Katuscinski, ausgesprochen nur im Dialog mit der eigenen Gattin, verwandelt er sich in ihren Augen und denen anderer, die dann ins Spiel eingreifen, in einen Richter, der angeklagt werden muss. Auch ein Anwalt ist einbezogen, er sieht „eine unbedeutende, eine kleine Sache, eine Satire eher über das Los der Mutter als ein dramatisches Volksgericht.“
 
Man sollte nicht vorschnell seiner Sicht folgen, denn in den Jahren der Weimarer Republik, nachlesbar bei großen Publizisten wie etwa Carl von Ossietzky oder Kurt Tucholsky, war Klassenjustiz ein Begriff, mit dem eine breite Öffentlichkeit sehr viel anfangen konnte. Der Anwalt sagt, als sei er von Lenins Zwei-Nationen-Theorie unmittelbar beeinflusst: „Da oben – da unten – zwei Sprachen.“ Woraufhin ein Karl antwortet: „Zwei Welten“ und Else ergänzt: „Zwei Sorten Menschen“. Daraufhin abschließend noch einmal der Anwalt: „Und die eine verurteilt die andre“. Dass die Vermutung mit Lenin nicht völlig in die Irre ging, zeigt eine weitere Aussage des Anwaltes: „Aber wogegen unsereins kämpft, das ist eben diese mechanische Anwendung des sogenannten Historischen Materialismus!“ Das Faktische des Rechtsfalles würde wohl darauf hinauslaufen, dass das Bauernpaar das Geld behalten darf. Das Kind würde die Mutter zurück erhalten, sie würde für die Aussetzung eine kurze Haftstrafe bekommen und das Jugendamt ihr anschließend oder gleichzeitig das Erziehungsrecht entziehen. Das würde für das Kind andere Pflegeltern oder Heim bedeuten. Ob die Bauern eine Chance hätten, das Kind wiederum zurück zu bekommen, das sie eben abgeben mussten, wird im Stück nicht weiter erwogen und erörtert.
 
Dafür nimmt ein Einbeiniger am Geschehen teil, der sich mit den Statistiken des Wohlfahrtsamtes Berlin Mitte auskennt wie auch mit den Selbstmordstatistiken. Ihm legt Gustav von Wangenheim einen Satz über das neue Jahr 1933 in den Mund, der in eine erstaunlich falsche Denkrichtung führt: „1933 muss man die Frage aufnehmen: Eltern, wann werdet ihr eure Kinder aussetzen?“ Und der namenlose Mann sagt: „Die Frauen müssten nicht mehr mitmachen! Die Mütter müssten Generalstreik machen!“ Schon vier Wochen später aber begann im tatsächlichen Deutschland nicht nur eine von Beginn an brutale, von Beginn an mörderische Diktatur, sondern eben auch ein Aufschwung wirtschaftlicher Art: sinkende Arbeitslosigkeit, Bau-Boom eben nicht nur für Rüstung und Autobahnen, sondern durchaus auch im rein zivilen Sektor, sogar im kulturellen Bereich. Das alles lässt sich erklären, deuten, funktional sehen, de facto aber bewirkte es, dass gerade nicht immer mehr Eltern ihre Kinder aussetzen mussten, dass eben kein weiblicher Generalstreik a la Lysistrata eine Option in den tatsächlichen Verhältnissen war. Gustav von Wangenheim scheint dem Wunschdenken in der Tat näher gestanden zu haben als einer realistischen Lageeinschätzung. Das beweist auch die irreführend optimistische Schlussformel, die Frau Else zu sprechen hat.
 
„Vater, es gibt zwei Sorten von Menschen und die Sorte, zu der wir jehören, die ist stark genug, een Zuhause zu erkämpfen, wo keener braucht Angst zu haben, keen Vater nich, keene Mutter nich und keene Kinder nich. Det is mein Urteil.“ Das klingt wunderbar: ein Zuhause, in dem niemand mehr Angst zu haben braucht, als wäre Angst eine rein soziale, eine rein gesellschaftspolitische Größe. Früher hatte Else argumentiert, als der Anwalt vom Historischen Materialismus redete: „Zustände sind keine Menschen. Zustände können wir nicht verurteilen. Zustände können wir ändern. Wir verurteilen Menschen. Wir verurteilen den Richter, der unseren Kampf, die Zustände zu ändern, nicht mitkämpft.“ Die Einleitung von Juli 1973, geschrieben in Berlin-Biesdorf, wo ich zwei Jahre später das Studentenwohnheim „Victor Jara“ bezog, enthält diese Aufforderung: „Liebe Leser, Sie würden mich durch das, was sie selbst erleben und erlebt haben, so ergänzen, dass eine scharf eingestellte Ansicht über das Anderssein dabei herauskommen könnte und nicht nur so eine unscharfe Gegenüberstellung von Weimar, Hunger, Elend, Arbeitslosigkeit und Bonns Wohlstand samt gesichertem Arbeitsplatz.“ In der DDR gab es, soweit ich sehe, nach 1962 keine neuen Wangenheim-Bücher mehr, sein Verlag Tribüne brachte 1977 noch einmal eine veränderte Ausgabe des alten Erzählbandes „Fährmann, wohin?“ von 1961, das war es. Man darf sich fragen: Warum?


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