William Dean Howells: Leben in Venedig

Wem bei „Leben in Venedig“ sofort „Tod in Venedig“ einfällt und damit Thomas Mann, könnte mit etwas Pech auf 500 Euro zurückfallen. Aber solche Fragen werden nicht gestellt. Nicht in unserem Fernsehen. Vermutlich wird auch der Suchbegriff „Durchs Nadelöhr“ nicht übertrieben oft eingegeben und wenn doch, wäre es nicht schlimm. Man stößt dann zum Beispiel auf Postkarten aus dem Elbsandsteingebirge oder auf Rafik Schami, der schrieb dereinst „Der erste Ritt durchs Nadelöhr“. Man stößt auf die Erinnerungen einer jüdischen Frau, zu Papier gebracht von Carlotta Marchand, auf „Ein Leben mit der Anthroposophie“ von Bernard Livegoed. Und man findet Klaus Bergers „Der Humor Jesu“. Gegen diesen Humor soll hier nichts vorgebracht werden, wir alle haben „Das Leben des Brian“ gesehen. Doch findet man auch ein Buch aus dem Jahr 1990 aus dem Verlag Rütten & Loening Berlin, das einfach und ohne Zusätze „Durchs Nadelöhr“ heißt. Den meisten ist dieses Buch 1990, Achtung: Kalauer, nicht durchs Nadelöhr, wohl aber durch die Lappen gegangen. Das von Wolfgang Barthel aus dem Amerikanischen übersetzte Buch gehörte zu genau dem letzten Jahrgang von DDR-Büchern, der auf Deponien landete oder bei Peter Sodann.

Autor des Buches war William Dean Howells, geboren am 1. März 1837, gestorben am 11. Mai 1920, vor hundert Jahren also. Howells kannte noch Nathaniel Hawthorne persönlich, lernte Ralph Waldo Emerson kennen, war befreundet mit Henry James und mit Samuel Langhorne Clemens, den alle nur als Mark Twain kennen. Er förderte Frank Norris und Stephan Crane, er förderte nicht mehr Upton Sinclair, was der ihm übelnahm und es tapfer zu verbergen suchte. Nach 1945 gab es in den USA so etwas wie eine kleine, niedliche Renaissance für Howells, was ihn belustigt hätte, soweit es so formuliert worden wäre. Denn Renaissance war ihm ein Gräuel. Man kann es gut nachlesen an etlichen Stellen in „Leben in Venedig“. Dort sind wir aber noch nicht. William Dean Howells hat etwa 100 Bücher geschrieben, darunter zirka vierzig Romane. Man streitet sich nicht darüber, was noch ein Roman ist und schon keiner mehr, letztlich ist wichtig, was drin steht im Buch und das war für zwei bis drei Jahrzehnte, die Einschätzungen schwanken, eine, wenn nicht gar die Instanz in den Staaten. Howells war als Kritiker und Theoriebildner (das soll ein ganz feiner Unterschied zum Theoretiker sein in meiner privaten Terminologie) mehr Instanz denn als Verfasser von Romanen.

Er wird, nun kommt die Katze aus dem Sack, was seine Nachwirkungen im deutschsprachigen Raum betrifft, als einer der Begründer des Realismus in den USA gesehen. Ich höre förmlich das Wiehern der Rösser, auf denen thronend die Literaturhistoriker einher galoppieren, hoch und zurück gerissen: Realismus! Um Gottes Willen! Und bei Howells, man kann es verschiedentlich und verschieden formuliert nachlesen, kommt noch eins erschwerend hinzu: er liebäugelte mit einem von Leo Tolstoi vermittelten Sozialismus. Dann doch lieber gestandene Hitler- und Mussolini-Sympathisanten, die unverständliche Langverse verbrachen! Die Folge, um das Verfahren abzukürzen, ist verblüffend radikal. Seit 1895 ein Howells-Buch mit dem Titel „Pflichtgefühl“ auf Deutsch erschien (Übersetzung A. Wiedemann), vergingen 63 (in Worten: dreiundsechzig) Jahre, ehe unter dem deutschen Titel „Die große Versuchung“ der von manchen als bedeutendster Roman von Howells angesehene „The Rise of Silas Lapham“ herauskam, im Verlag Volk und Welt Berlin. Die Übersetzung besorgte der am 25. Juli 1923 in Wien geborene Eduard Klein (er starb am 2. Januar 1999 in Berlin), DDR-Lesern, die „Spannend erzählt“ liebten, ganz sicher ein Begriff.

Diese 58er Ausgabe, mit einem Nachwort von Karl-Heinz Wirzberger ausgestattet, der zu William Dean Howells 1961 einen DDR-Bürger-feindlichen Text in Heft 1 der „Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik“ publizierte, der mich noch heute in wilde Rage versetzt, wurde 1982 mit einem neuen Nachwort, diesmal von Wolfgang Wicht, im Verlag Neues Leben Berlin neu gedruckt. Bei Rütten & Loening Berlin erschien 1980 „Ein Reisender aus Altrurien“, sieben Jahre später dann „Leben in Venedig“, deutsch von Gertraud Michel, Nachwort von Wolfgang Barthel, der, siehe oben, „Durchs Nadelöhr“ gleich selbst übersetzte. Der amerikahörige Westen unseres Vaterlandes setzte auf kontinuierliche Ignoranz, der Name William Dean Howells geistert zwar hier und dort durch Biographien oder Überblicksdarstellungen, kommt in Briefsammlungen vor, sonst nicht. Ganze Waggon-Ladungen amerikanischer Wegwerf-Literatur sind im Lauf der Jahrzehnte gedruckt und vergessen worden zwischen Flensburg und Mainau am Bodensee, Howells nie. Obwohl etwa einer wie John Updike mit einem Essay aus dem Jahr 1987, als in den USA des 150. Geburtstags von Howells gedacht wurde, bei Rowohlt mit anderem im Band „Vermischtes“ gedruckt, durchaus anregend hätte wirken können: Wer aber liest schon Essays, selbst wenn sie von John Updike sind?

So stehen wir hundert Jahre nach dem Tod von William Dean Howells vor der ein wenig seltsam anmutenden Erkenntnis, dass er offenbar eine Art von DDR-Autor gewesen sein muss. Weder der zweibändige Roman-Verführer von Rolf Vollmann noch das ZEIT-Literatur-Lexikon kennen den Namen Howells: beide könnten deshalb also Modell stehen für das Denkmal des unbekannten Ignoranten, an dem natürlich keine ewige Flamme brennen dürfte. Das Verdienst der DDR um den Amerikaner aus Ohio, der vier Jahre in Venedig lebte als Konsul der Vereinigten Staaten, nachdem er zuvor eine Wahlkampf-Biographie von Abraham Lincoln verfasst hatte, die vielleicht sogar eine Rolle für dessen Wahlsieg spielte, darf aber nicht übertrieben werden. Soweit es die philologischen Begleittexte betrifft. Karl-Heinz Wirzberger (2. Juni 1925 bis 23. April 1976), erst 1958 zum Professor berufen, wollte vermutlich sich und der Welt beweisen, wie gut und fleißig er anderen Sterblichen vollkommen unzugängliche amerikanische Zeitschriften- und Buchtexte lesen und verstehen konnte. Und damit auch möglichst niemand außer ihm verstand, was er verstanden hatte, knallte er seine 50-Seiten-Arbeit voll mit Original-Zitaten, die er weder übersetzte noch referierte.

Das mag, wenn man sehr gutmütig sein will, in einer so genannten Fachzeitschrift so eben noch durchgehen, wobei sofort die Frage zu stellen wäre, für wen die eigentlich gedruckt wird, aber in einem Buch, herausgegeben zu Ehren des früh verstorbenen Amerikanisten, das sich an mehr als die fünf bis sieben Fachkollegen wendet? Wäre solch ein Buch in einem Land mit Papierknappheit und Papierkontingentierung ein sehr böser Witz? Wirzbergers „Von Cooper bis O’Neill. Beiträge zur USA-Literatur“ erschien 1979 im Akademie-Verlag, da wären gute 15 Jahre Zeit gewesen, das unlesbare Werk mit dem prägnanten Titel „The Simple, the Natural, and the Honest“ und dem wenig einladenden Untertitel „William Dean Howells als Kritiker und die Durchsetzung des Realismus in der amerikanischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ für Leser herzurichten durch Übersetzung der Original-Zitate, die auch noch massenhaft durch die übertrieben vielen Fußnoten geistern. Der Beitrag von Wirzberger hantiert mit Namen und Titeln, die niemand in der DDR kennen konnte und zum Teil wohl auch kennen durfte, als wären sie jedermann bekannt und vertraut. Das ist, auch wissenschaftlich, schlicht ein äußerst miserabler Stil.

Dass es anders und besser geht, demonstrierte Jahre später Robert Weimann (18. November 1928 bis 9. August 2019), der freilich mit seinen Aussagen zu William Dean Howells in dem Buch „Der nordamerikanische Roman 1880 – 1940. Repräsentation und Autorisation in der Moderne“, 1989 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar gedruckt, schon vorführte, wie weit die Erosion der DDR nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern eben auch innerhalb der einst marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften fortgeschritten war. Marxistische Basis-Theoreme kommen bei ihm nur noch verschämt vor wie kleine Rückversicherungen für alle Fälle, in der Hauptsache aber schwelgt er in semiotisch-semiologisch-strukturalistischer Terminologie, die sterblichen DDR-Lesern wiederum so fremd sein musste wie das Amerikanische anno 1961. Das führt zu krassen Ergebnissen, die ich nur ungern Leistungen nennen möchte. Wenn ich lese, was Weimann, den ich als Shakespeare-Experten relativ regelmäßig und gern zu Rate ziehe, für ein absurdes Kauderwelsch verzapfte angesichts eines schmalen Büchleins von Mark Twain, im Unterhaltungs-Verlag Das Neue Berlin unter dem Titel „Wilson, der Spinner“ erschienen, bin ich sprachlos. Was war das?

So weit, so schlecht. Iwan Turgenjew, einer der Über-Russen des 19. Jahrhunderts, schrieb am 28. Oktober 1874 aus Paris an William Dean Howells: „Nehmen Sie meinen besten Dank für das freundliche Geschenk, für Ihr entzückendes Buch „Their Wedding Journey“ entgegen, das ich mit demselben Vergnügen gelesen habe wie früher „Chance Acquaintance“ und „Venetian Life“. Ihre literarische Eigenart ist höchst sympathisch: sie ist natürlich, einfach und klar – und gleichzeitig voll unaufdringlicher Poesie und feinen Humors.“ Howells hat seinerseits viel getan, um seinen Landsleuten Turgenjew nahe zu bringen. Der Howells gern getroffen hätte, am liebsten natürlich in Amerika. Anders verlief es mit Henry James, dessen erste unter eigenem Namen veröffentlichte Kurzgeschichte im März 1865 die Aufmerksamkeit von Howells erregte, der seinen Chef drängte, „mehr Einreichungen von James zu erbitten. Dies war der Beginn einer bedeutenden Freundschaft zwischen den beiden jungen Männern. Howells, ebenfalls ein aufstrebender Autor und Kritiker, war sieben Jahre älter als James und kam aus gänzlich anderen Familienverhältnissen.“ So steht es in der lesenswerten Henry-James-Biographie von Hazel Hutchison, Parthas Verlag Berlin 2015.

Und weiter geht es dort: „Er war in einem Blockhaus in Ohio aufgewachsen, als Sohn eines Schriftsetzers und Druckers, aber genau wie James strebte er danach, der amerikanischen Literaturszene Leben und Selbstvertrauen einzuhauchen. Fortan sollte Howells sein ganzes weiteres Leben James‘ Werke in Amerika veröffentlichen und sich für sie einsetzen. Die Briefe, die sich die beiden schrieben, belegen die Tiefe ihrer Freundschaft und demonstrieren ihr leidenschaftliches Interesse am Wesen und der Wirkungsweise von Literatur. Sie waren sich nicht immer einig über die Natur der Literatur oder ihre Methoden, aber sie teilten einen unverbrüchlichen Glauben an ihre Bedeutung und ihr Potential.“ Es verwundert deshalb natürlich kaum, dass Henry James auch eine Würdigung seines Freundes öffentlich machte, die mehr sein wollte als nur Freundestext. Und in der „Venetian Life“, also „Leben in Venedig“, eine wichtige Rolle spielte. Der Essay „William Dean Howells“ erschien zuerst am 19. Juni 1886, da war Howells noch nicht 50 Jahre alt und hatte noch fast 34 weitere Lebensjahre vor sich. Henry James aber meinte zu diesem Buch: „seitdem hat er nichts von reinerer literarischer Qualität hervorgebracht“. Und ordnete es auch weiter reichend ein.

„Die Mischung aus Frische und Ironie gab diesen Dingen eine Originalität, die meines Wissens nie durch irgendwelche Impressionen europäischen Lebens aus amerikanischer Sicht aufgehoben wurden.“ Henry James äußerte sich auch zu einigen Romanen, die Howells bis 1886 veröffentlicht hatte. Das muss hier unberücksichtigt bleiben. Das aber darf zitiert werden: „In Venedig schrieb er Gedichte, wie er es in Ohio von jeher getan hatte, und seine Gedichte wurden später in zwei dünnen Sammelbänden herausgegeben, offenbar als Ergebnis einer strengen Selektion. Sie haben im Gedächtnis vieler Menschen, die sie lasen und sich ihrer erfreuten, mehr Spuren hinterlassen, als sie es in des Autors eigenem Gedächtnis getan zu haben scheinen.“ Liest man heute, was und warum es Henry James  an Howells faszinierte, ich las es zuerst im Dezember 1987 und jetzt abermals, dann fragt man sich natürlich, warum sich niemand davon inspirieren ließ. Der Updike-Essay, auf einem Vortrag basierend, wirft die Frage abermals auf. Da hilft es wenig, wenn jetzt darauf verwiesen werden kann, dass einer der zahlreichen Reprint-Verlage, die am Book-on-Demand-Markt tätig sind, Hansebooks, eine mittlerweile beachtliche Reihe von Howells-Titeln im Original neu anbietet.

„Leben in Venedig“ in der einzigen bis heute vorliegenden deutschsprachigen Fassung (Berlin 1987) ist ein Buch, das gut 150 Jahre nach dem ersten Erscheinen als Buch, davor gab es Teildrucke in Zeitschriften, die man nicht zwingend Vorabdrucke nennen kann, an vielen Stellen verblüffend aktuell wirkt, durchgängig informativ ist und vermutlich jenen Lesern mehr sagt, die schon in Venedig waren, als jenen, die erst dorthin wollen. Herausgeber Wolfgang Barthel hat seine Fassung von insgesamt 22 Kapiteln in einer Vorbemerkung „Zu dieser Ausgabe“ erläutert und begründet. Er hat weggelassen und ergänzt, die Kapitel 20 und 21 sind dem späteren Buch „Italian Journeys“ (1867) entnommen, das nie auf Deutsch erschien. Beide fügen sich problemlos ein, weil die Jahre, die Howells mit Frau und dann auch Kind in Venedig erlebte, eben auch Jahre von Ausflügen in die nähere und fernere Umgebung der Lagunenstadt waren. Howells war ein genauer Beobachter und ein guter Schilderer, er verschwieg trotz großer Liebe zu Venedig nicht, was ihm ärgerlich oder hässlich schien: nicht Dreck, nicht Lügen, nicht Betrügereien. Er schrieb begeistert von gotischen Kirchen, immer herabsetzend von allem, was Renaissance war oder ihm davon geprägt schien.

Er kritisierte oder ironisierte John Ruskin und seine Urteile über Venedig, Kunst und Architektur und er zeichnete liebevolle, zum Teil begeisternde Porträts bestimmter Personen, die im Leben der Familie Howells eine Rolle spielten. Das waren Vermieter, Dienstmädchen, Köchinnen, Nachbarn, Menschen in Ghetto, Gondolieri. Er beschrieb seine Ausflüge zu den Inseln, nach Murano, nach Torcello, zum Lido, seine Wanderungen in die öffentlichen Gärten, die heute aller zwei Jahre der Hauptschauplatz der Biennale sind. Er sah Klöster von innen, die heute kaum noch zu besuchen sind, Inseln, die damals schon nur noch Ruinen beherbergten. William Dean Howells hatte das heute wohl niemandem mehr zuteilwerdende Glück, eine eigene Gondel führen zu können. Er badete im Kanal, seine Frau malte und zeichnete, sein Kind saß inmitten von Personal in der Küche auf dem Tisch und war Mittelpunkt. Seite um Seite hat mich das Buch beteiligt, ich erfuhr Neues, was ich natürlich längst hätte erfahren haben können. Als Howells in Venedig lebte, tobte in seiner Heimat Bürgerkrieg, und Venice, wie es alle Inglese nennen, gehörte den Österreichern. Es ging friedlich zu, aber man saß in anderen Cafés am Markusplatz. Man applaudierte anderer Musik.

Alles in allem füllt das Buch mehr als 440 Seiten, die Kapitel sind thematisch, nicht chronologisch sortiert, auch wenn es mit der Ankunft und dem ersten Winter beginnt. Man erfährt von Feiertagen und Vergnügungen für die Venezianer, die in den Zeiten der Republik von den harten Bedingungen der Rechtlosigkeit und Unterdrückung erfolgreich ablenkten, von Gewohnheiten im Umgang, der inneren Struktur der Paläste, von geteiltem Eigentum an den Palästen, etagenweise und auch innerhalb der Etagen, den Höfen, die der Vorbeifahrende nie sieht, den Juden, die im Ghetto blieben, auch als sie nicht mehr gezwungen waren, von Malern und Napoleon, der massiv in die Bausubstanz eingriff. Das sechste Kapitel, eines der längsten, ist der Haushaltsführung in Venedig gewidmet, es geht um Einkäufe, um die Märkte, die Zuverlässigkeit des Personals. Im zwölften Kapitel geht es um Armenier, die eine eigene Insel besiedeln. Heute nur noch schwer vorstellbar: Die Kirche San Marco war jederzeit begehbar. Familie Howells hatte im Lauf der vier Jahre nicht nur einen Wohnsitz, zwei aber direkt am Canale Grande. Bei einem Umzug blieb das Personal zurück, man übernahm im neuen Quartier das dortige. Altes Personal wurde man nur so los.

„Ich habe fast jedes bedeutende Gemälde in Venedig immer wieder betrachtet“, heißt es im zehnten Kapitel. Und vorher schon: „Ich bin sicher, keiner, dem der Beruf des Künstlers fremd ist, war jemals in der Lage, sich irgendein Bild richtig vorzustellen, wenn er nur die Beschreibung gelesen hat“. Diese Überzeugung hielt Howells davon ab, in seinem Buch mit extensiven Beschreibungen glänzen zu wollen. Dass man die schönsten Sonnenuntergänge im Oktober von den Giardini Pubblici aus sieht, verrät das 7. Kapitel, dort steht auch die hübsche Formulierung „der Oktober ist der Monat der Sonnenuntergänge und der Engländer“. Davor: „Die Wahrheit ist nämlich, dass die Amerikaner diese Leute nicht mögen, und ich glaube, die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit.“ Das sechste Kapitel beginnt mit einer Absichtserklärung: „Ich habe mir vorgenommen, in diesem Buch gerade das zu schildern, was nach meiner Beobachtung in den meisten Reiseberichten nur sehr unzureichend behandelt wird, das heißt, ich will so viel wie möglich über das tägliche Leben eines Volkes schreiben, dessen Gewohnheiten sich wesentlich von unseren unterscheiden.“ In „Ein Reisender aus Altrurien“ hat er das erneut getan, nur mit einer genau umgekehrten Blickrichtung.

John Updike hielt seinen Howells-Vortrag am 1. Mai 1987 in der Emerson Hall der Harvard University. Schon sein zweiter Satz darf als ein Resümee gelesen werden: „Wenige Schriftsteller vermochten am literarischen Himmel Amerikas so zu leuchten wie Howells in seiner besten Zeit; wenige auch sind vergleichsweise so tief in der allgemeinen Achtung gesunken.“ Von Venedig und Howells sagte er: „1865 kehrte er mit einer erheblich verstärkten und aufpolierten Kulturrüstung in den Kampf und Konflikt zurück; wenn die Setzereien in Ohio seine Oberschule waren, dann war Venedig sein College. Ein Aufenthalt im Ausland bereichert das Heimatland nicht nur, es verkleinert und relativiert es auch.“ Das wäre separat und ausführlich zu durchdenken, hier mag es einfach stehen bleiben. William Dean Howells rief seinem „College“ nach: „O Fremder, wer immer du auch seist, der du zum erstenmal in diese bezaubernde Stadt reist, lass mich dir sagen, wie glücklich ich dich preise.“ Das 22. und letzte Kapitel des Buches „Leben in Venedig“ blickt sieben Jahre später zurück. Es ist schon ein etwas anderer Blickwinkel. „Die Nachwelt ist meist streng mit jenen, die ihrer eigenen Gegenwart zu sehr ergeben waren“, glaubte John Updike. Mag sein. Vielleicht. Ja.


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