Max Weber: Wissenschaft als Beruf

Ein Roman ist das nicht, eine Erzählung oder Novelle auch nicht und schon gar nicht ein Drama für Bretter, die angeblich die Welt bedeuten. Es ist ein Vortrag, von dem bis heute niemand weiß, wann genau ihn Max Weber vor welchem Publikum gehalten hat. Ich plädiere auf Grund des Textes für die Später-Hypothese: man sollte die Novemberrevolution als geschehen, mindestens aber noch im Gang befindlich annehmen als Voraussetzung, sonst würden manche Sätze im hinteren Teil des Vortrags weniger oder gar keinen Sinn machen. Nicht wenig im Vortrag klingt auch nach einer Bezugnahme auf zeitgenössische Kulturphänomene wie den sich rasant entfaltenden und rasch wieder in sich zusammen sinkenden Expressionismus deutscher Färbung. Man kann, das will ich gleich sagen und damit als abgehakt betrachten, Regalmeter voller Weber-Literatur zu Rate ziehen. In unserer Zeit hat sich vor allem Joachim Radkau damit hervorgetan, Max Weber auf die Couch zu legen, wie der SPIEGEL in üblicher Süffisanz anmerkte, man kann aber auch einfach diesen Vortrag lesen und genießen. Ich zum Beispiel gleite fast tiefenentspannt über all jene Stellen, an denen das Wort Fortschritt auftaucht, an denen Weber quasi en passant das Problem des Fortschritts in der Kunst erledigt: genau das war 1980, just in diesen Tagen vor 40 Jahren, mein Diplomthema.

Da ich „Politik als Beruf“ eher las als „Wissenschaft als Beruf“, vermute ich, den zweiten Vortrag erst im Zuge der Arbeit an meiner Dissertation vor Augen gehabt zu haben. Und später, als ich sieben feuerwehrrote Weber-Bände aus der Reihe der Universitäts-Taschenbücher UTB erwarb in einer Universitätsbuchhandlung, die längst keine mehr ist und sehr lange leer stand, interessierten mich erst einmal die Schriften zur Religionssoziologie heftiger. Klingt vielleicht seltsam aus dem Munde eines, der Theaterkritiken schreibt und an Charles Dickens oder Stephan Hermlin erinnert. Es ist aber nicht sehr viel seltsamer, als wenn Max Weber mit Tolstoi operiert oder kryptischen Goethe-Verweisen am Ende seines Vortrages, nachdem er mittendrin, schon wieder fast en passant, des Olympiers aus Weimar Thesen über Dilettantismus geweitet und erweitert hat. Es hat etwas mit Souveränität zu tun (bei Weber natürlich). Ich las jetzt und erwähne es des zeitgeschichtlichen Aspekts halber, eine ganz und gar unphilologische Ausgabe des Vortrages, kleinformatig in grau-weißem Gewande, sie erschien 1990 in einer Reihe OKTAV eines Verlages mit Sitz im sächsischen Radebeul: octopus Verlag, die Anschrift hatte noch eine DDR-Postleitzahl: 8122. Der damalige Macher Olaf Trunschke lädt mich bisweilen nach Erfurt, in die Geburtsstadt Max Webers, ein.

Ich bin den Einladungen bisher nicht gefolgt, weil ich gern Trunschke, weniger gern aber andere träfe, die dort womöglich auflaufen, weil sie halt wie ich eingeladen wurden. Außerdem hat es bestenfalls ostalgischen Wert, über Versuche milde zu meditieren, mit Verve und persönlichem Engagement tiefe und große Defizite auszugleichen, die die DDR irreversibel kennzeichneten. Es war fast im Handumdrehen klar, dass niemand eine so lange Fortexistenz des Kleinstaates wollen konnte, bis der Ausgleich zum Punkt Null vollzogen war, von dem aus erst Positives über der Null hätte kommen müssen. Die Geschichte, auch und vor allem die Editionsgeschichte, rollte über die DDR hinweg, niemand brauchte eine endlich auch erschienene Reclam-Auswahl von Max Weber, wenn er den ganzen Weber problemlos in jeder Dorfbuchhandlung bekommen konnte. Die musste nur die Bestellung bei KNV auslösen, den Katalog gab es nach der Wende noch vielbändig auch in meiner schon zitierten Universitätsbuchhandlung, die da sogar noch Hochschulbuchhandlung hieß. Die Reihe OKTAV war eine, deren Programm ich noch immer mit Verständnis und Wohlwollen sehe. In meinem Weber steckt sogar noch ein unbenutzter Zahlschein mit der Kontonummer des Empfängers: über sieben Mark, was mich vermuten lässt, es sei ein Presseexemplar gewesen.

Geschwätz beiseite, zurück zu Weber. Man könnte gleich auf der ersten Seite Anstoß nehmen daran, dass der Vortragende mit größter Selbstverständlichkeit davon ausgeht, dass es sich bei denen, die mit dem Gedanken spielen, Wissenschaft zu ihrem Beruf zu machen, um junge Männer handelt. Ich erwähne es, weil es danach schon aufhört, für mich jedenfalls, mit Stellen, an denen ich Anstoß nehmen könnte. Im Gegenteil: ich bin erstaunt und begeistert, wie viel von dem, was da, vermutlich also Ende 1918, Anfang 1919, irgendwo von einem Katheder herunter gesprochen wurde, so klingt, als wäre es vorgestern für heute und morgen, jedenfalls brandaktuell entworfen. Da sagt der Nationalökonom Weber, wie er sich selbst allzu bescheiden nennt, dies zur modernen Medizin: „Die allgemeine Voraussetzung des medizinische Betriebes ist, trivial ausgedrückt: dass die Aufgabe der Erhaltung des Lebens rein als solchen und die möglichste Verminderung des Leidens rein als solchen bejaht werde. Und das ist problematisch. Der Mediziner erhält mit seinen Mitteln den Todkranken, auch wenn er um Erlösung vom Leben fleht, auch wenn die Angehörigen … seinen Tod … wünschen und wünschen müssen.“ Vor 100 Jahren also exakt und fast in den heutigen Worten das Problem der Apparate-Medizin und das der Sterbehilfe im Prinzip mit.

Und wir müssten lügen, wenn wir bei der Lösung dieses und anderer Probleme schon sehr viel weiter zu sein behaupteten. Mittendrin stoße ich auf diesen Satz: „Wenn jemand ein brauchbarer Lehrer ist, dann ist es seine erste Aufgabe, seine Schüler unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren“. Preiswert könnte ich und dazu aus eigener Erfahrung behaupten: Nach dieser Definition hat es im real existierenden Sozialismus so gut wie nie einen brauchbaren Lehrer ausgerechnet für die Basis-Theorie des Gebildes, für den Marxismus-Leninismus gegeben. Ich erinnere mich eines Seminars mit Studenten des ersten Semesters, es mag auch zu Beginn des zweiten gewesen sein, in dem ich, um die Relativität der Bewertung von Persönlichkeiten zu demonstrieren, sinngemäß sagte: man wird auch über Honecker ganz anderes reden, wenn er nicht mehr an der Spitze steht, so wie es einst bei Ulbricht war. Einer meiner Studenten kolportierte höheren Ortes, ich hätte gesagt, Honecker sei auch nicht besser als Ulbricht, was ich ja indirekt auch wirklich gesagt hatte. Und schon hatte ich Stress. Im Sinne Webers war ich also punktuell ein brauchbarer Lehrer, was mir nach der Wende kurioserweise vor allem etliche Mitglieder der katholischen Studentengemeinde bestätigten. Im System selbst aber war ich eine sehr verdächtige Gestalt, Beobachtung verdienend.

Unter der sich über zwei Seiten ziehenden Überschrift „Sex, Religion und Wachstum – Max Weber ist wieder da“ erfreute der Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 13. November 2005 seine Leser unter anderem mit einem separaten Dreispalter mit eigener Titelzeile: „Max Weber für Einsteiger. Die fünf wichtigsten Thesen“. Ich teile hier diese fünf Thesen so mit, wie sie dort sogar farblich hervorgehoben gedruckt wurden, nur die Nummerierung ist von mir eingefügt: „Politik ist kein Beruf, sondern Berufung (1). Verantwortungsethik zählt in der Politik mehr als Gesinnungsethik (2). Auch die Demokratie benötigt charismatische Führernaturen (3). Die protestantische Ethik ist eine wichtige Triebkraft des Kapitalismus (4). Wissenschaft verträgt keine Werturteile (5).“ Wenn die Medien, die so genannten Qualitätsmedien natürlich nur, im Lauf der Jahre vermeldeten, dass die große Edition der Briefe Webers fortgesetzt wurde, dann war das für Leser wie mich niederdrückend und aufreizend zugleich. Der Band 1912 bis 1913 kostete noch bescheidene 279 Euro, der Band 1915 bis 1917 schon 344 Euro. Das ist für mich regelmäßig der Moment, da ich mich in den fernsehbekannten Gernot Hassknecht verwandeln könnte und in eine Brüllorgie ausbrechen: Wer soll das denn bitte, bitte bezahlen? Nicht einmal große Bibliotheken haben dafür Geld oder hat sich da inzwischen was verändert? Das gehört ins Internet, ins Internet!

Für die Erstausgabe von „Wissenschaft als Beruf“ (Duncker & Humblot, München 1919), 38 Seiten stark, kann man heute 75 Euro auf den Tisch des Hauses legen, meine Ausgabe, seltener als die uralten des genannten Verlages, würde dem anbietenden Antiquariat eben gerade 6,99 Euro plus Versandkosten bringen, die Stuttgarter Reclam-Ausgabe von 1995 kostet 5,90 Euro im besten Falle. Wie auch immer: dieser Vortrag vermittelt puren Genuss. Kein Satz, der nicht verständlich ist, ich klammere solche darunter aus, in denen es lateinisch zugeht: einmal nennt Weber Platons Staat „Politeia“, das kann man vielleicht noch eben so wissen und braucht keine Fußnote, dann aber heißt es, Augustinus zitierend: credo non quod, sed quia absurdum est, unter Fußgängern bisweilen in der Kurzform credo quia absurdum bekannt. Bei WIKIPEDIA kann der Laie nachlesen, dass dies sowohl Augustinus als auch Tertullian zugeschrieben wurde, sich bei denen aber nicht finden lässt. Und man müsste heute schon wieder verraten, wer denn diese beiden Herren waren. Als Diplom-Philosoph mit Doktor-Titel bin ich im Vorteil. Wir hätten Max Weber also auf dem linken Fuß erwischt. Wichtig aber ist ihm ja nur, was der Satz besagt: es geht um den Glauben, um Theologie: „Ich glaube, weil es der Vernunft zuwiderläuft“ oder „Ich glaube, weil es widersinnig ist“.

So greife ich noch einige Leckerli heraus: „Der Dilettant unterscheidet sich vom Fachmann – wie Helmholtz über Robert Mayer gesagt hat – nur dadurch, dass ihm die feste Sicherheit der Arbeitsmethode fehlt“. Vorher: „Nur auf dem Boden ganz harter Arbeit bereitet sich normalerweise der Einfall vor.“ Noch vorher: „Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“ Das Wort Leidenschaft ist an dieser Stelle sogar kursiv gesetzt. Dass im Vortrag auch Sätze stehen, die als überholt gelten dürfen, wenigstens in ihrer formulierten Absolutheit, hat Weber selbst als Merkmal des wissenschaftlichen Fortschritts charakterisiert. Man tritt ihm also nicht zu nahe, wenn man festhält: der folgende schöne Passus gilt so nicht mehr: „Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das Vollgefühl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird. Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialisierte Leistung.“ Zum Verhältnis Forschung und Lehre hat Weber einfache Wahrheiten zu bieten, die auch heute noch gern den oben thematisierten unangenehmen Tatsachen zugeordnet werden: „Es kann jemand ein ganz hervorragender Gelehrter und ein geradezu entsetzlich schlechter Lehrer sein.“

Weber ergänzt seinen Satz auf der folgenden Seite vielsagend: „Wenn es von einem Dozenten heißt, er ist ein schlechter Lehrer, so ist das für ihn meist das akademische Todesurteil, mag er der allererste Gelehrte der Welt sein.“ Und hat bisweilen überraschende Vergleiche und Parallelen zur Hand: Wo es um die Besetzung von Lehrstühlen geht, blickt er auf Papstwahlen: „Nur selten hat der Kardinal, von dem man sagt: er ist Favorit, die Chance durchzukommen. Sondern in der Regel der Kandidat Nummer zwei oder drei.“ Das sieht er bei amerikanischen Präsidentschaftswahlen und den Vorwahlen ähnlich. Wo aber Monarchen oder revolutionäre Gewalthaber („wie jetzt“ schreibt er und liefert damit das Indiz zur Datierung seines Vortrags) eingreifen, „kann man sicher sein, dass bequeme Mittelmäßigkeiten oder Streber allein die Chancen für sich haben.“ Ich finde die indirekte Gleichsetzung von Monarchen und Revolutionären bemerkenswert: wieder eine der unangenehmen Tatsachen, die nicht nur Revolutionäre und solche, die sich dafür halten, mit dem sattsam bekannten Äpfel-Birnen-Gleichnis gern von sich weisen. Was neuerdings als so genannte Hufeisentheorie durch die Feuilletons geistert, gehört zu dem, was brauchbare Lehrer tapfer zu bekämpfen hätten.

Max Weber beginnt mit einer Frage, die er, natürlich ironisch, als Ausdruck nationalökonomischer Pedanterie bezeichnet: „Wie gestaltet sich die Wissenschaft als Beruf im materiellen Sinne des Wortes?“ Und kommt mit einem zeitlos wichtigen methodischen Hinweis: „Um zu verstehen, worin da die Besonderheit unserer deutschen Verhältnisse besteht, ist es zweckmäßig, vergleichend zu verfahren und sich zu vergegenwärtigen, wie es im Ausland dort aussieht, wo in dieser Hinsicht der schärfste Gegensatz zu uns besteht: in den Vereinigten Staaten.“ Weber, für alle mit einer etwas längeren Leitung sei es wiederholend gesagt, hält einen Vergleich mit dem schärfsten Gegensatz für fruchtbar, für zielführend, wie man heute gern sagt, ohne damit mehr zu sagen. Ich will deshalb nicht noch einmal die Hufeisentheorie ins Gespräch bringen, über deren Zurückweisung Weber vermutlich höchstens kurz gelacht hätte. Bestimmte Beispiele zu Ungunsten deutscher Verhältnisse entnimmt er interessanterweise aus der Germanistik: der ordentliche Professor macht drei Stunden in der Woche Goethe, der junge Wissenschaftler macht zwölf Stunden die Woche und höchstens Uhland (in den USA). Dort wäre Uhland also eine Art Herabsetzungs-Signal, Goethe die Krone.

Am 14. Juni 1920 ist Max Weber in München an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben. Seine Frau Marianne heiratete der am 21. April 1864 Geborene im Jahr 1893. Die oben genannte Zeitung hielt in diesem Zusammenhang diesen Hinweis für sehr wichtig: „Die später bekannte Frauenrechtlerin wird ihm zu einer engen Kameradin fürs Leben, mit der er aber nach Vermutung seines Biographen über viele Jahre keine sexuelle Beziehung unterhält.“ Traumatisiert wurde Marianne Weber davon offenbar nicht: „Erst nach seinem Tod beginnt eine von seiner Witwe geförderte intensive Beschäftigung mit seinem Werk, die gelegentliche Züge einer Heldenverehrung annimmt.“ War Marianne Weber also so etwas wie die Elisabeth Förster der Nationalökonomie? Typische Feuilletonisten-Frage: Die humorlose Antwort wäre: Elisabeth war die Schwester Nietzsches, während Marianne doch die Gattin Webers war. Schließen wir dieses Gedenken an einen 100. Todestag mit der Begründung seiner These: „Man sagt und ich unterschreibe das: Politik gehört nicht in den Hörsaal.“ Sie lautet: „Aber es ist doch etwas allzu bequem, seinen Bekennermut da zu zeigen, wo die Anwesenden und vielleicht Andersdenkenden zum Schweigen verurteilt sind.“ Heute quaken Anwesende dazwischen und halten den Mann am Katheder vom Reden ab, bisweilen gar gewaltsam und das kommt dann ins Fernsehen: man muss es nicht zwingend Fortschritt nennen.


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