Hanns Cibulka: Sizilianisches Tagebuch
Der Kritiker, gern als Hund gesehen, den es totzuschlagen gilt, was speziell unter großen Humanisten und Pazifisten süffisant und regelmäßig zitiert wird, ist viel häufiger in einer dummen Lage, als es seine ebenfalls nur schreibenden Verächter zugeben würden, fragte man sie danach. Adolf Endler, in der endenden DDR gern als der „Tarzan vom Prenzlauer Berg“ apostophiert, war in seinen jungen Jahren auch einer, der anderer Leute Bücher kritisierte. Er tat das mit exponiertem Eifer in der noch jungen DDR, in die er, der in Düsseldorf Geborene, übergesiedelt war, was allein ihn zum weißen Raben stempelte. Einer, dem er sehr früh sein besseres Wissen, sein angemaßtes natürlich nur, um die Ohren hieb, war Hanns Cibulka, dem die DDR auch nur zweite Heimat werden konnte. Er nahm sich dessen erste zum Buch gewordene Prosa-Arbeit vor, „Sizilianisches Tagebuch“ (1960) und hatte, ohne es zu ahnen, schon beide Füße im Fettnapf bis zum mittleren Schienbein. Denn offenbar verriet ihm die Erstausgabe im Mitteldeutschen Verlag Halle mit keinem Wort, dass der Verfasser Sizilien keineswegs in amerikanischer Kriegsgefangenschaft zuerst erlebt hatte, er war auch als Soldat der Wehrmacht schon dort, 1943 für runde zweieinhalb Monate.
Damit sind, Pech für Endler, der keine Chance hatte, seine ohne eigenes aktives Zutun manifesten Falschaussagen zu verhindern, nur schlechte Karten im Spiel, zu welcher er auch immer greifen mochte. Heute muss man für die Erstausgabe, wenn sie einem denn überhaupt irgendwo ins Sichtfeld gerät, mehr als hundert Euro auf den Tisch des Hauses blättern, was für ein schmales altes DDR-Büchlein ohne die geringste explosive Substanz ein horrender und abenteuerlicher Preis ist. Welches Antiquariat die dreiste Forderung aufmacht, lässt sich leicht ausfindig machen im weltweiten Netz, wenn man weiß, wo man suchen muss. Die Folge für alle heutigen Cibulka-Leser, soweit sie nicht Uraltbestände bewahrt haben, wie sie in Ilmenau etwa alljährlich an einem Stand des Weihnachtsmarktes in der Nähe des Apothekerbrunnens direkt vom Mitteldeutschen Verlag verkauft wurden, ist, dass sie mit einer Fassung des Tagebuchs leben müssen, die für einen 1976 edierten Band mit fünf Tagebüchern Cibulkas auf nicht erkennbare Weise neu überarbeitet war. Bernd Leistner, wissender Kritiker des Sammelbandes, drückte sich mit einer recht fadenscheinigen Begründung vor jeder, auch der geringsten, Andeutung, was die zweite von der Urfassung scheidet.
Auf zwei nicht uninteressante Differenzen stieß ich, auch ohne die Urfassung zu kennen, weil Adolf Endler natürlich nur diese kennen konnte und also Stellen zitieren musste, die später fehlen oder in bezeichnender Weise anders formuliert sind. Darauf komme ich noch zurück. Vorerst einmal will ich Bernd Leistner zitieren, den ich schätze, wie ich sicherheitshalber erwähne. „Ein Vergleich der beiden Druckfassungen ist besonders im Falle des Sizilianischen Tagebuchs nicht uninteressant. Da er jedoch die Befunde, die in der vorliegenden Arbeit zutage gefördert werden, nicht wesentlich modifizieren würde, wird – eingedenk auch der Raumfrage – davon Abstand genommen, auf die Veränderungen einzugehen.“ Ich halte dagegen: zwei bezeichnende Beispiele hätten einem mündigen Leser durchaus Chancen geboten, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Der zugegeben recht lange Aufsatz für die „Weimarer Beiträge“ (Heft 9/1978) wäre kaum länger geworden, aber sicher wertvoller. Denn der erfahrene DDR-Leser des Jahres 1978, noch keine zwei Jahre nach der Ausbürgerung Biermanns, wusste natürlich, dass Autoren keineswegs nur aus Ehrgeiz, alles immer besser zu machen und deshalb nie zufrieden zu sein, an ihren Texten Änderungen vornahmen.
Man lese probehalber ein paar Kritiken aus den fünfziger Jahren, allein Adolf Endlers Beitrag ruft Schlagworte auf, die eine akute Bedrohung für eine Schriftstellerexistenz im eben zehn Jahre alt gewordenen Arbeiter-und-Bauern-Staat darstellen konnten (nicht automatisch mussten), manch Bedrohter erklärte sich ausgleichend zu etwas bereit, was man Zusammenarbeit nannte. Selbst die ganz Großen, Christa Wolf etwa oder Erwin Strittmatter, fanden sich zeitweise bereit, inoffizielle Prosa zu verfassen. Endler aber, in einer gewissen Scheinheiligkeit, lobte „Sizilianisches Tagebuch“ auch deshalb, weil es sich positiv von der Lyrik unterschied. Nur stellte er sich, wie auch sonst später offenbar niemand, angesichts der Tagebuch-Reihe aus der „Feder“ Hanns Cibulkas, die Frage nach der Authentizität der unter einem Datum zu findenden Notate. Wenn es sich tatsächlich um solche von 1946 handelte, wie das Buch vorgibt, dann wäre es glatter Unfug, es im Vergleich zu deutlich später erschienenen und ziemlich sicher auch erst geschriebenen Lyrik-Bänden als einen wie auch immer beschriebenen Fortschritt zu sehen. Man gewinnt nicht in einem Lager auf Sizilien angesichts von Not, Elend und Klassenkampf neue sozialistische Grundüberzeugungen, um sie umgehend wieder zu vergessen, dekadente Gedichte schreibend, falschen Vorbildern folgend.
Nun hat Bernd Leistner aber, fast zwanzig Jahre nach Endler, den wenigen Lesern der „Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie“, so der Untertitel der „Weimarer Beiträge“, verraten, dass es eine Diplomarbeit zu Hanns Cibulka gibt, in der ein Interview mit ihm zitiert wird, wo er bekundet, dass ihm Louis Fürnberg die entscheidende Anregung gab. Ich zitiere: „Einer Anregung Louis Fürnbergs folgend, war Cibulka daran gegangen, „echte“ Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit seiner amerikanischen Kriegsgefangenschaft auf Sizilien zu überarbeiten und – unter Beibehaltung der diaristischen Anlage – eine publizierbare Fassung herzustellen. Zurückgegriffen wurde auf die Phase des Sizilienaufenthaltes, die vom Erfahrungsgewicht her nachträglich als die bedeutsamste erschien: auf jene sechseinhalb Monate, die Cibulka im Jahre 1946 in einem sizilianischen Dorf verbrachte“. Auch hier keinerlei Hinweis auf den vorangegangenen aktiven Kriegseinsatz des Nachrichtensoldaten, keine Aussage zur Gesamtdauer der Kriegsgefangenschaft, keine darüber, wann genau und wo er in die Hände der Alliierten fiel. Stimmen späte Angaben, muss er rasch nach der Rückkehr aufs italienische Festland in Gefangenschaft geraten sein.
Was aber ist eine „publizierbare Fassung“? Die Frage führt an alle denkbaren und tatsächlichen Abgründe des DDR-Literaturbetriebs. Lässt sich überhaupt von „echten“ Aufzeichnungen reden, wenn einer selbst notiert, am Tagebuch gearbeitet, ganze Sätze gestrichen oder verändert zu haben? Was ist zu verstehen unter Erfahrungsgewicht: eines, das der Autor empfand, als er ins Tagebuch schrieb, oder eines, das seinen Wert erhält in einem bestimmten literaturpolitisch-ideologischen Koordinatensystem? Der Leser der Tagebücher Hanns Cibulkas kommt spätestens nach dreien zu der Erkenntnis, dass sogar fassbare Fakten anders erinnert werden und offenbar niemand den Autor darauf aufmerksam machte, wenn er es schon selbst nicht merkte. Wenn er in einem Buch schon vor der Landung der Alliierten in Sizilien Stabsgefreiter war und dadurch viel mehr Zeit hatte als ein Unteroffizier, dann lässt sich das nur schwer in Übereinstimmung bringen mit der späten „Nachtwache“, die unter anderem erzählt, dass die Beförderung zum Stabsgefreiten gefährdet war wegen des Kontaktes zu einem Italiener, gleichzeitig aber auch, dass ein Unteroffizierslehrgang abgelehnt wurde. Das klingt 1989 fast widerständlerisch, früher eher nach purer Bequemlichkeit.
Wie auch immer: aus der deutlich längeren Zeit der Kriegsgefangenschaft greift „Sizilianisches Tagebuch“ jenen Zeitraum heraus, in dem der bereits malariakranke Cibulka sich freiwillig meldet zur Landarbeit auf den Latifundien des größten Grundbesitzers der Gegend, in der das Lager steht. Es geht vor allem um Rodungsarbeiten, für die ehemalige Waldarbeiter aus dem Schwarzwald deutlich besser gerüstet sind als der auf Büro und Schreibtisch fixierte gelernte Handelskaufmann. Deshalb verhilft ihm der erste schwere neue Malariaanfall auch zu einem neuen Arbeitsauftrag: er soll ein Schreibbüro einrichten und nimmt zu diesem Zweck Quartier bei einer Italienerin. Ein Wesenszug aller Prosa-Bände Cibulkas ist der des Aussparens, des Verschweigens bestimmter eigentlich elementarer Informationen. Man darf also annehmen, dass er gut italienisch sprach und verstand, findet nirgend aber die geringste Aussage darüber, die er das erlernte. Kein Wort bietet „Umbrische Tage“ etwa darüber, wie er zu dieser ungewöhnlichen und vor allem ungewöhnlich langen Reise kam, wie er unterwegs war. Man darf folgern aus Nebensätzen, dass es eine Bahnreise war. Unaufgeklärt bleiben immer und überall die Lücken zwischen den Eintragungstagen.
Wer die DDR und ihre Literaturgeschichte ein wenig kennt, wie wichtig vor allem in den ersten zehn bis fünfzehn Jahren die Rolle war, die in erzählender Literatur, nicht zwingend in Gedichten, aber auch dort, Kommunisten, sowjetische Befreier und Mentoren zu spielen hatten, kann ermessen, welche Probleme einem Mann erwuchsen, der keine „solide“ antifaschistische Umschulung, um nicht Gehirnwäsche zu sagen, in einem sowjetischen Lager vorweisen konnte, wo ihn die üblichen Kulturmajore schulten, die Goethe und Schiller besser kannten als deutsche Gymnasialpauker. Aus dieser Sicht ist der sehr unorthodoxe Pastor Don Lorenzo, der in „Sizilianisches Tagebuch“ eine tragende Rolle spielt, etwas wie der Sowjetlehrer im italienischen Priestergewand. Er darf im Tagebuch sinntragende Sätze sagen, die fast wie Sentenzen fürs individuelle Zitatenlexikon klingen. Cibulka absolviert bei ihm, von Rotwein und Schachspiel begleitet, etwas wie ein katholisches Parteilehrjahr. Hier hat Ulf Heise wohl recht, wenn er zu dieser Konstellation schreibt: „Durch die Konfrontation mit Hunger und Elend in dem ausgezehrten Landstrich gewinnt er schließlich einen sozialen Blick. Doch diese sprunghafte Belehrung erscheint ebenso simpel wie plakativ.“
Sieht man dies nun aber vor dem Hintergrund offenbar heftiger Kritiken an den ersten beiden Lyrik-Bänden Cibulkas, „Märzlicht“ (1954) und „Zwei Silben“ (1959), dann darf man begründet vermuten, hier wollte sich einer auch, wenn auch nicht nur, gut Wetter erschreiben. Das wäre, dies sei ausdrücklich betont, nur aus völlig ahnungsloser Sicht heraus moralisch fragwürdig oder gar verwerflich. Selbst Adolf Endler (nach welchem Antifaschisten haben ihn seine Eltern 1930 eigentlich so genannt) räumte ein, er sei angesichts verständnisloser Kritik an Cibulkas Lyrik geneigt gewesen, sich verteidigend vor ihn zu stellen, dann aber fand er doch, „dass diese Gedichte zum großen Teil die schönen Augen vor der Gegenwart niederschlagen“. Das ist, nicht sehr lange nach der Ausrufung des „Bitterfelder Weges“, ein keineswegs harmloser Vorwurf. Vergiftet ebenso das Lob: „Mit dem „Sizilianischen Tagebuch“ trennt sich Cibulka eindeutig von der Dekadenz, was ihm in seiner Lyrik noch nicht restlos gelungen ist.“ Von „Mauern subjektiver Enge“ ist die Rede, die „noch manche seiner Gedichte umgeben.“ Nur drei NDL-Hefte später, Mai 1961, bedichtete Cibulka dann brav den „Sozialismus“, ein anderes neues Gedicht hieß „Der Kommunist“.
Übrigens macht Endler Cibulka auch den Vorwurf, nach bildungsbürgerlich beflissenen Antike-Reminiszenzen am Beginn des Buches „zum zwiespältig-pathologischen Italienerlebnis Platens“ gesprungen zu sein. Dessen Name freilich gar nicht genannt wird, man muss ihn schon sehr gut kennen, um zu wissen, dass er gemeint ist. Und der Name Ernst Jünger fällt, Endler verweist auf dessen Schrift „Dalmatinischer Aufenthalt“, zwischen 1934 und 1941 mehrfach gedruckt. Auch Jünger kommt im Tagebuch nicht vor. Aber, und deshalb ist es wichtig, hier darauf hinzuweisen, man kann die ausführliche Behandlung Jüngers in „Nachtwache“ wie auch den ausdrücklichen Hinweis auf Platens schulpflichtige Verse um Cosenza dort als späte, ein wenig auch rachsüchtige, Reaktion auf die frühen Vorwürfe des Kritikers deuten. Der, schöner Zufall, auf den Tag genau zehn Jahre jünger war als Cibulka, also am 20. September all die Jahre mit ihm Geburtstag zu feiern hatte. In Kenntnis der „Nachtwache“ von 1989 lässt sich heute sagen, dass eine angemessene Rezeption des ersten publizierten Tagebuches 1960 streng genommen gar nicht möglich war. Erst der späte Rückgriff auf die Geschehenszeit drei Jahre vor 1946 ermöglicht Ein- und Zuordnungen.
„Sizilianisches Tagebuch“ vermittelt beispielsweise den Eindruck, als sei Hanns Cibulka vollkommen selbstverständlich davon ausgegangen, dass sich Empedokles, wie überliefert, in den feuerspuckenden Ätna stürzte. Man hätte natürlich auch 1946 schon wissen können, etwa anhand des Historikers Diogenes Laertios, dass es mehrere Erzählungen darüber gab in der Antike, wie der Philosoph zu Tode kam. Aber in „Nachtwache“ korrigiert Cibulka sich gewissermaßen selbst, indem er die Ätna-Geschichte ausdrücklich nicht nur ablehnt, sondern für geradezu undenkbar erklärt. Ulf Heise sah in seinem schon zitierten Lexikon-Essay das 60er Tagebuch als Dokument einer „fragwürdigen Fortschrittseuphorie“, um dann mit einem Zitat einen wichtigen Hinweis zu liefern: „Zum Zeugen eines Bauernaufstandes geworden, notiert er: „Sizilien hat mich sehen gelehrt. Wäre ich den landlosen Bauern nicht begegnet, mein Leben hätte eine falsche Wendung genommen.“ In der 1976er Fassung steht statt „falsche Wendung“ nun „andere Wendung“. Man muss nicht lange argumentieren, um darin eine nennenswerte Korrektur des Urtextes kenntlich zu machen. Gerade weil spätere Deuter immer die zweite Fassung, die andere Wendung, zitieren.
Adolf Endler findet es merkwürdig, dass Cibulka eine Erinnerung an seine polnische Liebe Halina in seinen Text einfügt, als wäre es undenkbar, an einer Stelle und allein an eine andere Stelle und zu zweit zu denken, aber er macht auch die Bemerkung vom Hass, die diese Liebe ihr und Cibulka eintrug. Davon steht in der Fassung von 1976 nichts, es muss also aus dem Urtext getilgt worden sein. Halina, Cibulka-Kenner wissen das, kommt an etlichen Stellen im Werk vor, Lyrik und Prosa. Übersehen wurde dagegen ganz offenbar, dass in der zweiten Notiz zum 17. Mai zu lesen ist: „Es waren die alten sandbraunen Zelte, die uns jahrelang durch Afrika begleitet hatten.“ Afrika? Es ist stets nur von Polen, der Ukraine und Italien die Rede gewesen, wenn es um den Kriegsteilnehmer Cibulka ging. Just diese Zelte gibt es aber auch an anderer Stelle, oberhalb von Messina den Nachrichtensoldaten beherbergend. Mehrfach gibt es merkwürdige, nun aber tatsächlich merkwürdige Sätze über Begegnungen mit Frauen, die ganz unsozialistisch zeigen, dass ein Mann in und nach jahrelanger Gefangenschaft von weiblichem Schweißgeruch um seine Besinnung gebracht werden kann. Es gibt mehrere kurze Stellen dieser Art, die eigentlich Geständnisse sind.
Jene den Soldaten durch den Krieg begleitet habenden Bücher, die in der „Nachtwache“ eine zum Teil ausführliche Würdigung erfahren, sind in „Sizilianisches Tagebuch“ nicht einmal mit Titel und Verfasser benannt. Man ahnt also nichts, wenn man das späte Buch nicht kennt. Ein Lehrsatz des Pfarrers Don Lorenzo könnte auch eine Maxime des Dichters Cibulka geworden sein: „Wer aber seinem Leben einmal Aufgabe und Ziel gegeben hat, für den ist der Ort, in dem er lebt, nicht mehr das Entscheidende.“ So schreibt man sich Gotha schön, könnte man sagen. Zu fragen hat man aber, woher ein deutscher Wehrmachtssoldat, der sieben Jahre Krieg mitmachte (wenngleich zuletzt nur noch als Gefangener) Renato Guttuso kennt und erkennt, wenn etwas von diesem bekennenden Kommunisten im Arbeitszimmer eines katholischen italienischen Priesters an der Wand hängt. „Auch in unseren Dörfern wohnten katholische Priester, aber keiner hat jemals solche Worte zu uns gesprochen. Keiner von ihnen hat sich um die Not der Menschen gekümmert.“ Diese Behauptung hat Cibulka dem 11. Juli 1946 zugeordnet. In Kenntnis späterer Tage-Bücher, die an die Enden der „authentischen“ Notate Nachträge, auch ausdrücklich als solche bezeichnet später, ausweisen, könnte man dies als eine Konzession an den SED-geführten Kulturkampf der 50er Jahre lesen.
Wer die schwelgerische Beschreibungen von Villen und Kirchen und Gemälden und Fresken in „Umbrische Tage“ kennt, wird diesen Behauptungen im frühen Tagebuch höchst misstrauisch gegenüber stehen: „Wie unwahr sind dagegen die Madonnen in Rom und Florenz, man glaubt ihnen nicht, diesen Gesichtern mit der hellen zarten Hautfarbe und dem kastanienbraunen Haar, dass sie jemals die Verantwortung und den Mut der Mutterschaft auf sich nahmen. … Man würde die Bäuerinnen der sizilianischen Dörfer beleidigen, wollte man diese Madonnen in ihren Kirchen aufhängen. Jene Mütter aber, die ihre Kinder Tag für Tag hinaus auf die heißen Felder tragen, bedeuten mir mehr als die blühenden Madonnen in Rom und Florenz.“ Sollte Hanns Cibulka vor 1960 tatsächlich geglaubt haben, mit solchen kruden Bekenntnissen Punkte sammeln zu können bei den Präzeptoren der frühsozialistischen DDR-Literatur-Politik? Schon 1960, nicht lange nach dem Erscheinen des „Sizilianischen Tagebuches“ notierte er ganz anderes von den Kultur-Pilgerstätten, die er aufsuchte. Unter dem 1. August ruft er den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz an. Braucht er den für den Übergang zu Halina: „Halina, wir waren Liebende in einem toten Land.“?
Und immer wieder die Lehrsätze von Pater Lorenzo: „Gefühl allein schafft keinen Boden unter den Füßen, sagte er. Kunst ist das Gewissen der Welt.“ Verblüffend immerhin: Dieser Priester hob auf dem Friedhof die Gräber selbst aus, die er für seine Gemeinde benötigte. Unter dem 23. August steht dann jener Satz, der die Flagge hisst: „Dieser Morgen war entscheidend für mein ganzes Leben.“ Er wird Zeuge einer friedlichen Bauernrevolte, die brutal unterdrückt wird. Nur lässt sich während eines solchen Erlebnisses schon rein logisch kein Satz formulieren mit „war entscheidend“, es folgen ja noch fast 60 Cibulka-Jahre nach. Da wollte ein Lektor das Ungeschick nicht sehen, für das der übergute Wille des Dichters wohl ohnehin blind war. Es will auch einfach nicht passen, wenn Cibulka seinen ersten Blick gen Sizilien von Reggio aus und alles Folgende mit den Worten beschreibt: „So war ich ausgezogen, um Sizilien zu suchen …“. Das ist wohl kein Soldat der faschistischen Wehrmacht, er müsste nach vier Jahren erlebten Krieges von Polen an ein allzu sonniges Gemüt gewesen sein. Dann beobachtet er Menschen mit zweirädigen Karren und erkennt umstandslos in ihnen Auswanderer, „die ihr letztes Hab und Gut zum Trödler fuhren.“
Das scheint wie immer wieder nachträgliches Hineindeuten, denn woher will er das wissen, wenn es ihm niemand erzählt hat und warum verschweigt er dann, wie er zu seinem Wissen kam? Und immer wieder Pseudotiefsinn wie dieser: „Es gibt Dinge, die wichtiger sind, als die Tränen, die Persephone geweint.“ Zum Beispiel auch, seinen Lesern zu verraten, wer die weinende Dame denn eigentlich war. Unter dem 1. Oktober 1946 schaut Cibulka in einen Atlas bei Don Lorenzo und liest die Namen Kremenez, Freiwaldau und Erfurt, sogar der Spiegelsaal im Schloss Friedenstein wird genannt, offenbar das Wissen voraussetzend, wo der sich findet. Was aber wusste der in Böhmen geborene Cibulka 1946, vor Ende seiner Kriegsgefangenschaft, weit weg von Gotha also, schon von Gotha? War er je dort, ehe er für immer dorthin umsiedelte? Ich müsste lügen, wenn ich diese Fragen gänzlich unwichtig nennen sollte. Überraschung aber unter dem 4. Oktober, Erinnerung an den Sommer 1943: „Wir lagen in der vorderste Linie und erwarteten den Angriff der Alliierten.“ Mit dem in „Nachtwache“ beschriebenen 1943 lässt sich das nicht in Übereinstimmung bringen. Den Tod eines Freundes, dem ein Bordgeschoss die Brust zerriss, gibt es 1989 nicht mehr, warum nur?
Der Eintrag zum 7. November verrät, dass Cibulka auf alle Fälle schon am 18. Mai 1945 im Lager nahe Catania war, es war der Tag, an dem sein Vater starb zweitausend Kilometer weiter nördlich. Und dann wieder rätselhafte Sätze: „Gräber ausheben – war das nicht das einzige, was unsere Generation wirklich gelernt hat?“ Es war natürlich nicht das einzige. „Und noch heute blühen im Garten, wo ich als Kind gespielt habe, die blassroten Malven.“ Woher weiß er das im November 1946? Wann war er zuletzt auf Heimaturlaub davor? In Tagebüchern kann man dergleichen nicht einfach durchgehen lassen. In den September 1939 datiert Cibulka den ersten Toten, „den ich in meinem Leben anfasste“. Harte Fakten neben keinen? Im Nachtrag zum 19. November liest man wieder überrascht: „O bittere Tage vor Al-Alamein!“ War Cibulka doch eine Zeit im Afrikakorps von Rommel? Er verlässt Don Lorenzo nach seinem letzten Besuch am 30. November ohne die Dankesworte auszusprechen, die von seinen Augen abzulesen sein sollen. Bis zum letzten Satz lässt sich der Eindruck nicht verwischen: hier wollte einer unbedingt und vor allem staatstragende Inhalte vermitteln, schade für das frühe Tagebuch, es hat zu viele Schwächen, um noch gut zu sein.