Arthur Eloesser: Palästina-Reise 1934

Wüsste ich, wann genau der See Genezareth Tiberias überflutete, Altstadt und Stadtmauern vernichtete, dann könnte ich dazu beitragen, Arthur Eloessers erste Reise nach Palästina genauer zu datieren. Denn er sah noch die hinterlassenen Verwüstungen, als er nacheinander die vier heiligen Städte der Juden, Jerusalem, Hebron, Safed und eben Tiberias aufsuchte. Wir wissen aber nicht einmal, in welcher Folge er diese Städte sah, wir wissen nur, was er in zwei Artikeln für die „Jüdische Rundschau“ niederschrieb, wir wissen auch, wann diese Artikel erschienen. Der erste trug die Überschrift „Die Erwartung“, der zweite „Die Jugend“. Zu lesen waren sie am 12. und am 15. Juni 1934, an einem Dienstag und einem Freitag, in den Nummern 47 und 48. Das entsprach genau der Erscheinungsweise des Blattes, das seit 1919 zweimal wöchentlich in die Hände seiner Leser gelangte. Aus diesen beiden Artikeln hat Horst Olbrich ein Büchlein gemacht und in seinem hauseigenen Verlag H. Olbrich (Berlin) veröffentlicht, das Impressum vermerkt als Lieferanten von Idee und Konzeption Jens August (23. Februar 1966 – 2. Juni 2020). Olbrich hat auch ein Nachwort verfasst, mit dem gemeinsam inklusive Fotos und Leerseiten 36 Buch-Seiten zusammen kommen.

Angesichts dieses höchst bescheidenen Umfangs und im Wissen, dass Arthur Eloesser für die „Jüdische Rundschau“ noch eine Reihe weiterer Beiträge verfasst hat zwischen 1933 und 1937, insbesondere seine „Erinnerungen eines berliner Juden“, die inzwischen an verschiedenen Stellen zitiert werden, ohne irgendwo in einem Neudruck lesbar zu sein, darf gefragt werden, warum das Büchlein so und nicht anders erschien. Denn nüchtern betrachtet, würde es sich gut einem Korpus anfügen, der eine vorhandene und bekannte Biographie mit bisher Unbekanntem ergänzt. Doch liegt hier die Ergänzung bereits vor dem, was Ergänzung im Falle Eloessers immer verdient hätte, vor. Horst Olbrich selbst hat in seinem Verlag schon einige Jahre früher, 2011, „Wiedereröffnung“, eine Sammlung von Feuilletons aus den Jahren 1920 bis 1922, publiziert, ergänzt um einen Essay mit dem Titel „Der Geist von Berlin“. Dort präsentiert er den Feuilletonisten Eloesser in seiner zweiten journalistischen Arbeitsphase, die vor allem geprägt war durch seine Mitarbeit an der bekannten „Frankfurter Zeitung“. Er war so etwas wie Berlin-Korrespondent und erst eine Differenz über sein Honorar führte zum Ende der Zusammenarbeit, die hier keine weitere Rolle spielen kann und soll.

Im Nachwort zur „Palästina-Reise 1934“ teilt Horst Olbrich ohne näheren Quellenhinweis mit, dass beide Artikel „unmittelbar“ nach der Heimkehr Eloessers gedruckt wurden, was im Verständnis eines gestandenen Tageszeitungsmitarbeiters normalerweise bedeuten würde: am nächsten, allerspätestens übernächsten Tag. Für ein Blatt, das nur zweimal in der Woche erscheint, ergibt das je nach Wochentag der Heimkunft etwas mehr Luft. Letztlich aber ist es natürlich ohne Belang, weil die entscheidenden Daten: wann Eloesser mit wem und von wo aus genau die Reise antrat, ganz einfach nicht bekannt sind. So, wie wir überall, wo wir überhaupt etwas über Eloesser zu lesen bekommen, zwar das Geburtsdatum seiner Frau Margarete erfahren und das Jahr ihrer Hochzeit, nie aber das Datum der Hochzeit. Es fehlt, das sei wiederholt, falls ich das schon früher schrieb, einfach an all dem Material, aus dem normalerweise die Biographen, Monographen oder auch nur Ersteller tabellarischer Lebensläufe schöpfen: ein Nachlass mit Briefen, mit Tagebüchern, Notizkalendern. Das Wort normalerweise sagt in diesem Fall alles: für Juden gab es zwischen 1933 und 1945 in Deutschland keinerlei Normalität. Mit Eloessers ging auch unschätzbar viel Otto Brahm unter.

Auch dies kann hier vorläufig weder vertieft noch auch nur näherhin angedeutet werden. 1934 jedenfalls sahen sich Arthur und Margarete Eloesser zweifellos veranlasst, nach ihrem Sohn Max zu schauen, der 1933, rechtzeitig, wie man rückblickend und mit Aufatmen sagen muss, gen Palästina ausgewandert war, seine Schwester Elisabeth folgte später, aber in eine andere Richtung. Den beiden Reise-Berichten, die genau genommen gar keine sind, jedenfalls keine herkömmlichen, ist nicht zu entnehmen, ob Eloesser allein oder mit Margarete reiste, es sind inzwischen Indizien gefunden worden, die auf ein gemeinsames Unternehmen deuten. Ich kenne bisher nur eine einzige gedruckte Stelle aus dem umfangreichen feuilletonistischen Schaffen Eloessers, die auf sein sehr schönes, väterliches Verhältnis zu Sohn Max deutet: Zu Weihnachten 1912, Max war sieben Jahre alt, Schwester Elisabeth fünf, spielte man Krieg zwischen Bulgaren und Türken auf dem Fußboden. Erst „nachdem ich eine elektrische Eisenbahn installiert und mit meinen Türken eine große Schlacht gegen die wackeren Bulgaren und ihren kleinen Feldherrn großmütig verloren hatte“, so der Vater, griff er zur Jahres-Weihnachtsgabe der Goethe-Gesellschaft, einem Buch über Ottilie von Goethe.

Laut Nachwort von Horst Olbrich lebte Sohn Max Eloesser 1934 in Naharija, was insofern missverständlich ausgedrückt ist, als die heute knapp 60.000 Einwohner zählende Stadt nördlich von Haifa erst 1935 gegründet wurde. Vermutlich gab es einen Ort dieses Namens oder eine Siedlung, die später diesen Namen erst erhielt. Jedenfalls, so der Reisebericht, holte Max seinen Vater (oder seine Eltern) am Hafen ab, das riesige englische Schiff konnte nicht einlaufen, die Passagiere in strenger Bordklassen-Teilung wurden mit Tendern zur Mole gebracht. Im ersten Teil des Berichts erfährt der Leser manches über die Soziologie englischer Luxusschiffe, viel über die Gruppen der hauptsächlich jüdischen Reisenden. Er selbst hatte Touristenklasse gebucht, die Reichen über sich, die Mittellosen unter sich, die Reichen wohl vor allem Amerikaner, die das Gelobte Land einmal sehen wollten, um dann wieder in das andere gelobte Land zurückzukehren. Die Mittellosen unten wollten auswandern, die Touristen der Mitte wollten sehen, sondieren und vielleicht eigene Auswanderungspläne beflügeln. Alles in allem vermittelt Arthur Eloesser deshalb den Lesern der „Jüdischen Rundschau“ zwar kein geschöntes, aber ein spürbar wohlwollendes Bild.

Es darf als sicher angenommen werden, dass die Reise zwischen Abfahrt und Heimkehr mehrere Wochen in Anspruch nahm, drei ganze Tage Zeitverlust notiert Eloesser infolge eines Stopps vor Athen. Die entsprechende Passage liest sich wie die Beschreibung eines Verzichts auf ein früher immer favorisiertes Reiseziel, das Athen der alten Griechen. Es geht aus ihr jedenfalls nicht hervor, dass Eloesser zehn oder elf Jahre zuvor, auch hier konnte ich bisher keinerlei präzise Daten irgendwo finden, gemeinsam mit seinem Kollegen von der Frankfurter Zeitung, mit Bernhard Guttmann, „Tage in Hellas“ verbrachte. Das ist der Titel des Buches, das Guttmann (24. Juli 1869 bis 20. Januar 1959) 1924 in der Abteilung Buchverlag der Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH veröffentlichte. Es umfasst immer 214 sehr leserfreundliche gedruckte Seiten und ist natürlich nicht nur in Hinsicht auf eventuelle biographische Details von Arthur Eloesser von Interesse. Der hat diese Reise, soweit ich sehe, mindestens einmal in einem Beitrag für die „Weltbühne“ erwähnt. Zwei Namen hat Eloesser in seiner „Palästina-Reise 1934“ ausdrücklich erwähnt: es handelt sich um Elias Auerbach und Alex Bärwald, das Nachwort von Horst Olbrich hält sich zu beiden bedeckt.

Doch ist es keineswegs uninteressant zu wissen, wer die beiden waren. Elias Auerbach (28. Juli 1882 – 15. Juli 1971) war Arzt, Allgemeinmediziner und Gynäkologe, der 1909 erstmals nach Palästina reiste. Er ist der Verfasser eines zweibändigen Werkes mit dem Titel „Wüste und gelobtes Land“, von dem der erste Band 1932 erschien, der zweite erst 1938. Wenn Eloesser diesen Titel, ohne ihn ausdrücklich als Buchtitel zu kennzeichnen, gleich in den ersten Zeilen des zweiten Artikels zitiert, dann zeigt das mindestens eines: Er hat sich auf dieser Reise überaus gründlich vorbereitet. Die Titelformel, so Eloesser, „meint das Palästina von immer, sie trifft sein altes Schicksal und seine neue Aufgabe.“ Alex Bärwald (3. März 1877 – 25. Oktober 1930) wiederum war ein deutscher Architekt, der etwa ab 1910 in Palästina baute, das Technikum in Haifa ist sein Werk, von dem Eloesser 1934 vermutet, es könnte einmal der Mittelpunkt der damals noch ohne einen solchen bestehenden Stadt werden. Auch hier die Botschaft für Leser: der Autor hat sich weit über jeden Durchschnitt mit seinem Reiseland beschäftigt. Dass auch die Namen Heine und Goethe im Büchlein auftauchen (im ersten Teil), sei der Vollständigkeit halber wenigstens erwähnt, einem Literaturkritiker und Literaturhistoriker nimmt dergleichen ohnehin jedermann unbesehen ab.

Ähnlich nimmt man natürlich auch einem geborenen Berliner gern ab, dass er disponiert ist, wo er auch hinkommt, bei passender Gelegenheit Berlin-Bezüge zu sehen. Über Tel Aviv schreibt er so: „Die Stadt ist überlebhaft wie jedes schnell aufgeschossene Gemeinwesen“, und das klingt, als schriebe er über das Berlin der Gründerjahre, die er von klein auf selbst erlebte: als er mit Familie in die Dahlmannstraße in Charlottenburg zog, war das eine eben gewissermaßen aus dem Boden gestampfte neue Straße. Seine Feuilletons über Berlin und den Berliner greifen immer wieder einmal gerade den Gedanken auf, wie sich solch rasches Wachstum auswirkt oder eben gerade nicht auswirkt. Wenn er für die Leser der „Jüdischen Rundschau“ mäkelige Kritiken an der Stadt-Architektur in Palästina zurückweist, tut er das so: „Die Jaffastraße ist schließlich auch nicht viel anderes als die Leipziger Straße oder die Zeil“, letztere natürlich in Frankfurt und nicht in Berlin. Wichtiger ist ihm, seine Leser ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass die jungen Siedler regelmäßig zuerst ein Kinderhaus errichten, „in dem nie Schulangst zu drücken scheint“, wobei er für sich behält, wie er zu dieser Vermutung gekommen und warum gerade sie so ihm wichtig ist.

Hat er vielleicht Schulangst der eigenen Kinder in Berlin erlebt oder erinnerte er sich gar eigener Schulangst aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts? Eine weitere Erkenntnis gewann er über sein jüdisches Volk, sie hätte er ziemlich sicher noch zwei, drei Jahre früher nie so und mit dieser Perspektive ins Auge gefasst: „…ich sah zum ersten Male unser Volk, das sich in so viele Sprachen übersetzte, sich an so viele alte und junge Kulturen ansetzte, und das jetzt in dem Schmelztiegel Palästina aus allen fremden Legierungen herausgeläutert werden soll.“ Er zählt auf: deutsche, russische, polnische, sefardische, jemenitische, bucharische, kurdische Juden. Diese Vielfalt hat er vor 1933 meines Wissens nie thematisiert. Jetzt aber will er ein möglichst präzises Bild vermitteln, was diejenigen erwartet, die sich ernsthaft mit dem Gedanken tragen, ebenfalls nach Palästina auszuwandern, was 1934 und bis 1938 noch vergleichsweise problemlos möglich war (wenn man nicht gerade zu den armen Juden Deutschlands gehörte, die die Mehrheit bildeten). Deshalb auch schaut er auf dem Umstand, dass junge Leute mit Hochschulbildung in den Dörfern und Siedlungen die Vergangenheit komplett ablegen, um nur noch Handarbeit, Landarbeit zu tun.

Junge Siedler sagen ihm und fragen ihn: „Die Frauen gehören zu unserer Kameradschaft, ob sie für die Kleinkinder, für die Schule, für den Garten, für das Feld arbeiten. Wir können unbedenklich Kinder in die Welt setzen. Wer kann das noch in Europa? Die Kinder gehören den Eltern und zugleich der Gemeinschaft, sie sind hier willkommen als ein Glück und ein Segen.“ Eloesser lässt das einfach stehen in seinem Text, er hätte in anderen Zeiten vielleicht darüber reflektiert, ob Kinder einer Gemeinschaft gehören sollen, welche auch immer das sein möge. Hier aber, 1934, ging es um anderes. „Wir sind angekommen. Wir sind zu Hause.“ So endet der erste Artikel. Der von der Anreise selbst berichtet und auch dies enthält: „Man hätte dreißig oder vierzig Jahre später geboren sein müssen, um nicht nur so von oben zuzustimmen, um auch da unten mitmachen zu können.“ Das klingt eher sachlich als resignativ. Arthur Eloesser hat wohl nie ernsthaft erwogen, seinem Sohn zu folgen, er hat ihn, vermutlich, nicht einmal wirklich beneidet. Denn man beneidet seine Söhne und Töchter nicht. Man liebt sie, man gönnt ihnen, was sie haben und was sie vielleicht noch bekommen. Von der zweiten Palästina-Reise Eloessers 1937 wissen wir fast nur, dass sie stattfand.


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