Inge von Wangenheim: Der goldene Turm

Würde heute ein schreibbegabter Mensch einem Verlag, weil er zehn Tage in Paris war, ein Paris-Buch anbieten, und auf die Nachfrage, was er denn beschreiben wolle, die zehn allerbekanntesten, am allerhäufigsten beschriebenen und abgebildeten Sehenswürdigkeiten der Stadt an der Seine nennen, würde schon der Volontär des Verlages, falls nicht bereits der Personalpolitik des Hauses zum Opfer gefallen, heimlich auf den roten Knopf unterm Tisch, falls nicht bereits eingespart, drücken, um der Außenwelt zu signalisieren, es stehe ein Verrückter im Hause, wenn auch nicht sofort abgesehen werden könne, ob gemeingefährlich.

Inge von Wangenheim, geboren am 1. Juli 1912, war im durchaus fortgeschrittenen Alter von 74 Jahren 1986 für zehn Tage in Paris und hat darüber ein Buch geschrieben, nicht dick, keine 200 Seiten. Das Buch ist heute fast interessanter als damals, als es in der kleinen abgeschotteten und dennoch anerkennungsgierigen DDR im Greifenverlag erschien. Denn damals waren Reisebücher Reiseersatz, was sie heute in gewisser Weise zwar immer noch sind, aber die gewisse Weise ist eben nicht die von damals. Damals fuhren Schriftsteller, ob sie das so sahen oder nicht, quasi stellvertretend für das vom Politbüro und seinen Vollzugstruppen verwaltete Staatsvolk herum, das zu Hause bleiben musste. Sie waren privilegiert und hätten das nie zugegeben. Schriftsteller gingen auch, wenn sie ein Auto benötigten, nicht zwingend und zuerst zum IFA-Vertrieb. Hier ist ein immer noch weithin dunkles Kapitel von Vorteilsnahme abzuarbeiten, für das freilich Inge von Wangenheim nicht herzuhalten hat. Sie war schon mit 18 eine Kommunistin und ist es geblieben, mit allem was sich daraus ergab.

Wer heute im DDR-Romanführer, Band II/2 20. Jahrhundert nachliest, was die Verfasser als Inhalt Wangenheimscher Romane wiedergeben, mag kaum glauben, dass diese haarsträubenden Plots, die man früher Fabel nannte, tatsächlich für Bücher herhalten mussten, die Anspruch erhoben. Kolportage in Reinkultur war das und wenn ein BDM-Führermädchen bis zum Antrag auf Eintritt in die SED und zum Pädagogikstudium geführt wird, dann ist das starker Toback. Wer aber das Nachwort von Werner Kahle zu dem ebenfalls seltsamen Roman „Die Probe“ heranzieht, der wird merken, wenn er es nicht aus eigener Erfahrung schon weiß, dass die offiziöse Sicht auf Literatur und ihre Funktion in der DDR eine bisweilen nur noch groteske war und dennoch Forderungen an die Autoren richtete, die am deduktiven Reißbrett entworfen wurden. Man muss es heute studieren, um wirklich zu erkennen, was da von Autoren gefordert, wie da mit Autoren umgegangen wurde.

Bekannten sich diese reinen und ehrlichen Herzens zur DDR als ihrem Staat, zur SED als der Partei, dann zeitigte das nicht nur bei drittrangigen Autoren bisweilen Ergebnisse von unfreiwilliger Komik. Inge von Wangenheim hatte zudem ein Emigrationserlebnis Sowjetunion, sie kam über den Umweg Frankreich dahin, das auch nicht geeignet war, undoktrinär ans Schreiben zu gehen. Alle wunderbaren Ansätze der jungen, freien, avantgardistischen Sowjetliteratur der frühen Jahre waren längst reglementiert, ihre Autoren vertrieben, den Säuberungen zum Opfer gefallen oder totgeschwiegen, nicht gar selten auch zu Zugeständnissen gezwungen, die einem geistigen Selbstmord nahe kamen, die sie dann, wie Fadejew, nur mit einem tatsächlichen Selbstmord auszugleichen wussten. Da nicht schwach zu werden, war schwer zu vermeiden.

Inge von Wangenheim ging mit einer Bürde auf den Schultern in die Literatur, die ihr möglicherweise lange oder fast bis zum Schluss gar nicht als Bürde erschien. Denn ehrlich war sie, guten Willens war sie und sie war klug. Viel zu klug für manchen Literaturbürokraten. Aber sie war auch naiv, fast unglaubliche Fälle dieser Naivität lassen sich im Paris-Buch studieren. Das auffallendste Beispiel: Ihr wird verboten, in Paris Metro zu fahren. Das erwähnt sie, das begründet sie halbherzig, bisweilen trotzig, wenn sie wieder darauf kommt. Ich bin wenig später als sie mehrfach in Paris gewesen und die Metro war unser Hauptfortbewegungsmittel quer durch Paris. Die erfahrene alte Dame ist offenbar der billigsten antiimperialistischen Gruselpropaganda aufgesessen oder aber, und nun muss man gar kein Hellseher sein, diese Vermutung anzustellen: Sie sollte einfach unter Kontrolle gehalten werden und das geht am besten, wenn sie in einem Auto sitzt, das eine DDR-Einrichtung in Paris stellt. Selbst wenn das endlose Zeitverluste in Staus bedeutet, die in Paris der Normalfall sind.

Das Paris-Buch offenbart überraschend fest sitzende Vorurteile gegenüber farbigen Zuwanderern, wenngleich sich ihre Trägerin fast überredet, den Eindruck verbal abschwächen zu müssen. Vollkommen kurios ist ihr Wunsch, grüne italienische Nudeln zu essen, so oft es geht oder mit dem DDR-Repräsentanten beim Griechen zu sitzen. Isst man in Frankreich bei Griechen und Italienern, aber nicht bei Franzosen? Dabei sind ihr die einfachen kulinarischen Genüsse sogar so wichtig, das sie gleich mehrfach an der öden DDR-Realität Anstoß nimmt, die ihr Obst und Gemüse im heimatlichen Weimar fast das ganze Jahr über verweigert. Zu DDR-Zeiten ist das sicher von den einen begeistert, von den andern „not amused“ gelesen worden. Überhaupt kommt Weimar im Paris-Buch denkbar schlecht weg.

Das französische Bett, das sie im Hotel vorfindet, ist immer wieder, man möchte sagen: penetrant „die Spielwiese“, die „Breitspielwiese“. Das nimmt sich als Aussage einer 74-jährigen, Verzeihung liebe 74-jährigen, etwas seltsam aus, ähnlich wie die Beschreibung jener französischen Erfahrung, die mit dem Zielen in ein Loch zu Füßen zu tun hat, über dem auch Frauen kauern müssen in Fußlöchern. Inge von Wangenheim hat jeden Morgen gebadet in Paris, was man nicht zwingend wissen muss, sie findet es jedoch Kapitel für Kapitel erwähnenswert. Wie auch die finanzielle Situation, in die sie sich gestellt sieht. Sie ist zu strengem Sparen angehalten, sie hat aber auch, erstaunlich schon, dass dies in einem DDR-Buch gedruckt wurde, illegale Devisenquellen angezapft. Hört man gegen Ende des Buches, was sie sich mitnimmt und welche Wünsche sie zu erfüllen gedenkt bei den Daheimgebliebenen, dann ist man gerührt und man schämt sich für das Land, das solches seinen Bürgern zumutete.

Von moderner Architektur hielt Inge von Wangenheim nichts. Bei der Schilderung des Centre George Pompidou lässt sie nichts aus, was auch der gewöhnliche Stammtisch-Banause so an Argumenten auspackt. Das frappiert negativ wie auch all die komischen Sätze über Monumente und Nationalheiligtümer Frankreichs in Paris vom Pantheon bis Sacre Coeur, von Napoleon bis Pere Lachaise. Immerhin muss sie eine offizielle Kranzniederlegung bei Heinrich Heine im Montmartre mitmachen, schildert auch die Entstehung der dazu gehörigen Protokollfotos. Auf der anderen Seite gibt sie immer wieder zu erkennen, wie urtief begeistert sie von Frankreich, vor allem von Paris ist. Sie schwelgt, sie erinnert natürlich auch die Zeit ihrer Emigration. Sie kommt wieder und wieder auf Literatur zu sprechen, worauf denn auch sonst, sie hat sich vorbereitet auf die Reise. Und sie berichtet auch von dem, was man bei den Fallbeobachtern in der Berliner Normannenstraße als Westkontakt sicher kaum begeistert registrierte.

Es gibt nicht wenige Stellen im Buch, die Allgemeinaussagen treffen, die vom im Text vorgestellten Erleben nicht getragen sind. Die auch nicht in dem Sinne aufgeklärt werden, aus welcher Erfahrungsgrundlage sie überhaupt stammen. Es gibt sehr viel, was damals und heute dem Nachdenkenden anheim gegeben werden sollte. Es gibt, Rudolstädter aufgemerkt, sogar Rudolstädter Spruchweisheit, wenn auch sparsam. Es sind resignative Töne im Buch. Und man soll es noch heute schätzen, dass sie damals zweifach im Dünnbuch von den Zeitungen schreibt, die sie fast gierig und im Kilo kauft, den West-Zeitungen wohlgemerkt, die sie dann freilich auch mit gebremster Pflichtschuldigkeit kritisch betrachtet. Mancher Satz wie „Ich wußte wirklich nicht, wie aufregend wir sind“, ist auch Polemik gegen DDR-Kritiker innerhalb des Verbandes. War es doch ein Bühnensatz, die DDR sei das langweiligste Land der Erde, der Aufregung machte bei den Gralshütern des organisierten Leselandes, wenn ich mich recht erinnere, von Volker Braun.

Verblüffend für eine Kommunistin der späten DDR ist die Äußerung, in den Kulturschatzkammern des Landes sei nicht alles für alle und sie richtet den Satz ausdrücklich gegen Schüler vor Kunst, weil die mal kichern oder auf dem Parkett schlittern. Da spricht dann doch nur die einfache Oma Inge, nicht eine wirklich denkende Frau von Format und Kenntnis. Dass auch ein Taxifahrer den „Aluminiumkoffer“ mit dem Namen des französischen Präsidenten Pompidou hässlich findet, interpretiert Inge von Wangenheim als Kunstverstand des einfachen Mannes in Paris. Wie sie umschreibt, dass die Mitarbeiter des DDR-Kulturzentrums sich von Kontakten mit normalen Parisern zurückhalten (müssen), das hat, mit Verlaub, die Grenzen der noch erlaubten kleineren ideologischen Verlogenheit mit Schwung überschritten. Wie sie arg triviale Sätze gegen Massentourismus formuliert, als könne man den nicht auch als Demokratisierung des Reisens interpretieren, erinnert eher an westliche Intellektuellen-Arroganz im Ausland, denn an eine genuine sozialistische Sicht auf die Welt.

„Wem verdankt man sein Zufallsglück, hier in Paris tagelang herumlaufen zu dürfen?“ So lautet der vielleicht ehrlichste und erschrockenste Satz des Buches. Und nicht viel später überlegt sie, weil sie im Text offenbar nach eigenem Gefühl nicht genügend Klassenfeind-Geißelung geleistet hat, wie sie das erklären könnte. Ihre Antwort ist zeitlos: „Was soll der politische Schriftsteller tun? Jeden Tag von neuem die Apokalypse an die Wand malen? Im Einzelfall von hoher Bedeutungskraft ist das möglich, auf die Dauer für die Literatur im Ganzen bedeutet es Verkümmerung.“ Das haben bis heute viele nicht begriffen und die DDR ist längst untergegangen, ihre Diktate treiben niemanden mehr vor sich her. Hut ab, Inge von Wangenheim. Dass sie den alten Gustav verlassen hat, weil sie dann doch lieber Frauen lieben wollte, las ich bei Matthias Biskupek, der es auch las. Was muss Rudolstadt phasenweise für ein Ort gewesen sein! „In Rudolstadt anzukommen und nicht in die Höhe zu sehen, ist unmöglich“, schrieb Inge von Wangenheim 1963. Da war sie noch auf dem Bitterfelder Weg und nicht in Paris. Der "goldene Turm" ist übrigens der Eiffelturm.


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