Efraim Frisch: Von der Kunst des Theaters

Wäre das Büchlein nicht 1910 bei Georg Müller, München und Leipzig, erschienen, möchte man meinen, es ahme das Erscheinungsbild der berühmten und bis heute existierenden Insel-Bücherei nach. Die begann allerdings erst 1912 zu erscheinen: wenn also überhaupt Nachahmung, dann in der umgekehrten Richtung. Der vollständige Titel lautet: „Von der Kunst des Theaters. Ein Gespräch“. Es ist tatsächlich ein Gespräch, eine fiktives natürlich, und hat als solches sicher ein Vorbild in antiken Gesprächen zweier oder mehrerer Gesprächspartner. Man muss nicht in den Dialogen Platons nachsuchen, wie nahe, wie fern, wie neu oder traditionell der Autor Efraim Frisch damals verfuhr. Der am 1. März 1873 geborene Frisch (heute ist demnach sein 150. Geburtstag) war also 37 Jahre alt, als das Büchlein in den Buchhandel kam. Auch die spärliche Frisch-Literatur weiß von kritischen Reaktionen nichts Überprüfbares zu melden. Guy Stern, der am 14. Januar seinen 101. Geburtstag feiern konnte und vor inzwischen auch schon wieder 60 Jahren seine Sammlung „Efraim Frisch: Zum Verständnis des Geistigen. Essays“ im Verlag Lambert Schneider, Heidelberg/ Darmstadt veröffentlichte, weist auf hohe Wertschätzung hin, belegt sie aber nur auf einem Umweg.

 

„Was Frisch nunmehr „Von der Kunst des Theaters schrieb“ - ein Fazit seiner Erfahrungen als Kritiker, Dozent und Dramaturg sozusagen – wurde sofort als gewichtiger Beitrag zur Theaterwissenschaft gewertet, und noch vierzehn Jahre später (am 23. Juni 1925) ersuchte der damalige Oberspielleiter des Württembergischen Landestheaters, Wolfgang Hoffmann-Harnisch, Frisch um ein Exemplar – mit dem Angebot, darüber in einer Stuttgarter Zeitung zu schreiben. Zur Zeit seines Erscheinens aber bedeutete dieses (hier vollständig abgedruckte Werk) eine Brücke zu dem Verleger des Buches, Georg Müller.“ Ohne dem inzwischen uralten Autor zu nahe treten zu wollen mit außerdem sechs Jahrzehnten Verspätung: von einer irgendwie institutionalisierten Theaterwissenschaft war 1910 keine Rede. Die Gründung eines theaterwissenschaftlichen Instituts an der Berliner Universität fällt erst ins Jahr 1923, als Efraim Frisch schon seinen 50. Geburtstag feierte. Wolfgang Hoffmann-Harnisch (13. Mai 1893 – 7. Januar 1965) war von 1923 bis 1926 in Stuttgart, das aus dem vormaligen Hoftheater hervorgegangene Landestheater ist heute das Staatstheater Stuttgart. Er veröffentlichte selbst unter anderem eine Moliere-Biografie (1922).

 

Ob Hoffmann-Harnisch tatsächlich für eine Stuttgarter Zeitung über Frisch schrieb, verschweigt Guy Stern, wie er eben auch kein einziges Beispiel für die sofortige Wertschätzung des Gespräches namhaft macht. Wir müssen es glauben. Da Stern ganz offenbar auf diverse Quellen, vor allem Briefe, zurückgreifen konnte und sehr viele Details aus der Biografie benennt, sind kaum Gründe anzuführen für Zweifel an eben den Details. So können wir davon ausgehen, dass für Efraim Frisch nach seiner Eheschließung mit Fega Lifschitz (8. November 1878 – 30. Mai 1964) seine bis dahin nebenberuflich ausgeübte Tätigkeit als Theaterkritiker nun, ab 1903, zur hauptberuflichen wurde. Wobei das wie fast immer in vergleichbaren Fällen sehr ehrgeizige Projekt einer Art neuer „Hamburgischer Dramaturgie“ nach dem Vorbilde Lessings, die Zeitschrift „Das Theater“, nach zwei Jahrgängen schon wieder eingestellt werden musste. Der gemeinsame Ehrgeiz von Max Reinhardt, Bruno Cassirer und Christian Morgenstern, an den in solchen Zusammenhängen wohl kaum jemand denken wird, scheiterte. Efraim Frisch aber bekommt 1904 ein Engagement als Dramaturg an Reinhardts Deutschem Theater, aus dem er nach fünf Jahren wieder ausscheidet.

 

Guy Stern dazu: „Es war Frisch ungleich gemäßer, über das Theater zu schreiben als an seiner Leitung teilzunehmen.“ Mindestens einmal ließ ihn Max Reinhardt in diesen fünf Jahren auch Regie führen, Frisch inszenierte August Strindbergs „Fräulein Julie“. Erfahrungen hatte er also auf jeden Fall, als er sein Gespräch „Von der Kunst des Theaters“ zu Papier brachte, wobei er zunächst den Anschein erweckte, als wolle er ein Gespräch zwischen einem Kritiker und einem Schauspieler vorführen, dann aber übernimmt rasch und immer dominanter werdend ein Schriftsteller die Hauptrolle. Er erscheint quasi als letzte Instanz, dem alle anderen Gesprächsteilnehmer, von denen keiner einen Namen bekommt, allenfalls kurz widersprechen. Für derartige Gespräche müssen keine Situationen aufwendig erfunden werden, Efraim Frisch führt in ein Art Salon, in dem allerdings außer der Dame des Hauses nur Männer zu Wort kommen. „Ein Teil der Gäste hatte sich entfernt und im kleinen Salon der Dame blieben nur einige Herren zurück. Sie boten den Anblick von Menschen, die unter sich sind, und von einem leichten Zwange befreit, je nach Charakter und Laune, dem Genuss des Schweigens sich hingeben.“ Geschwiegen wird dann eher weniger.

 

Der Kritiker ist der erste, dem die von der Verabschiedung eines Teils der Gäste zurückkehrende Hausfrau das Stichwort gibt. „Der Kritiker drückte die über der Brust verschränkten Arme noch fester an den Leib“, lesen wir und wissen nicht, ob 1910 schon körpersprachliche Deutungen von Befindlichkeit im Schwange waren, wie sie heute jeder mittelmäßige Sportreporter auf jeden Fußballer anwendet. Verschränkte Arme, so die Klippschule für Körpersprache, bedeuten immer eine Abwehrhaltung. „Was ich über das Theater zu sagen habe, kann jeder lesen. Ließe ich mit mir darüber diskutieren, wo bliebe da die Autorität?“ Ein Satz, dem man nur beipflichten müsste, würde anders lauten. „Nach sehr kurzer Zeit kommt unfehlbar jenes lieblich klingende Wort von der Verschiedenheit des Geschmacks, und man darf nicht einmal „Idiot!“ sagen.“ Was eher wie eine Klage klingt und keinesfalls einen Kritiker von Autorität vorführt. Vielleicht geht die Autorität innerhalb des Gesprächs eben deshalb rasch auf den Schriftsteller über, der zunächst erst einmal nur schweigender Hörer ist, also dem Genuss nachgeht. „Jeder wahre Beruf macht stachlig. Ich kann es nicht hindern, dass sich die Spitzen gelegentlich auch nach außen kehren.“ Sagt der Kritiker.

 

Dem Reiz, der Frage nach den Stacheln nachzugehen, die sich einwärts richten, widerstehe ich tapfer, auch habe ich immer Hemmungen, wenn ich von „wahren“ Dingen lese, weil es immer das andere zum Unwahren stempeln will, was meist einfach nur, mit einem Kritiker zu reden, den ich fortgesetzt schätze, Mumpitz ist. Auch der Schauspieler ist mit seinen Argumenten nicht eben der Überflieger der Saison: „Wenn Sie dichten, ein gelehrtes Buch schreiben, eine Entdeckung machen, müssen Sie gewärtig sein, kontrolliert, widerlegt, überführt zu werden. Schreiben Sie aber Kritiken, und gar über Theater, so sind Sie gefeit, Sie sind auf einmal tabu!“ Während man von widerlegten Dichtungen eher selten hört, auch Entdeckungen, derer man überführt wurde, wollen mir keine einfallen, dafür aber verbale und gedruckte Attacken gegen Kritiker gleich in Serie in der großen Spannweite zwischen Johann Wolfgang von Goethe bis zu Hermann Sudermanns „Verrohung in der Theaterkritik“, 1902 bei J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, Berlin und Stuttgart erschienen. Heute kommt als ganz neue Variante Hundekot zum Einsatz mit der sehr schönen Nebenwirkung, dass große Feuilletons das Thema Kritik als Thema entdecken für eine kurze Zeit.

 

Der Fiktivschauspieler Efraim Frischs glaubt: „... paradoxerweise besteht seine Überlegenheit darin, dass einzig über ihn nicht geschrieben wird.“ Das ist seither so oft und so gründlich widerlegt worden, dass man kein Wort mehr darüber verlieren sollte. „Ihr Handwerk ist es zu schreiben, witzig, überlegen zu schreiben. Das ist schließlich auch das einzige was von Euch verlangt wird. Vom Theater brauchen Sie nichts zu verstehen.“ Die Hausfrau ist es, die den eifernden Mimen bremst mit einem gern genutzten Argument: „Sie verlangen hier etwas, was nicht sein kann, nämlich, dass wer eine Sache tadelt, bereit sein müsste, das Getadelte besser zu leisten.“ Man muss kein Huhn sein, heißt das knapper, um ein faules Ei zu riechen und kein Koch, um eine versalzene Suppe zu schmecken. Letztlich sind Kritiker sogar in den Rang von Theaterdirektoren aufgestiegen und sie haben ihren neuen Job, Otto Brahm und Paul Schlenther mögen als Beispiele ausreichen, keineswegs schlecht gemacht. Wir reden nicht von der langen Reihe der Schauspieler, die als Bühnenautoren erfolgreich waren, Shakespeare, Moliere, Nestroy, Raimund haben es bis zum Klassiker-Status geschafft, Iffland und Charlotte Birch-Pfeiffer wurden nur mehr gespielt als gelobt.

 

Die Hausfrau erwartet vom Kritiker, dass er ihr bestätigt, warum ihr etwas gefällt oder nicht, was den Kritiker wiederum zu Bekenntnissen verleitet: „Ich habe zwar oft und deutlich genug zu verstehen gegeben, dass ich niemand diene, am allerwenigsten aber dem Publikum, und muss doch stets diesem Missverständnis begegnen.“ Man kann dem Publikum auch dienen ohne die bewusste Absicht dazu. Dieser Kritiker aber lehnt auch „jede Kritik mit der Klasse ab, mit den Rezensenten vom Fach, wie sie genannt werden.“ Darunter könnte man im Falle von gedruckter Literatur wohl mühelos gestandene Literaturhistoriker verstehen, die freilich zuzeiten von Efraim Frisch nur mit Mühe an die Gegenwart gezwungen werden konnten und zudem (bis heute) nicht immer die Sprache so zu handhaben in der Lage sind, wie sie der gern verschriene Feuilletonist handhabt. Wer aber wäre im Falle des Theaters ein „Rezensent vom Fach“? Völlig recht hat der Kritiker in Efraim Frischs Gespräch aber mit seiner selbstbewussten Behauptung: „Und deshalb kann eine Aufführung mir ein Anlass sein, schönere, bedeutendere Dinge zu sagen, als der p. p. Dichter während ganzer fünf Akte.“ Der Fall tritt, behaupte ich, mit wachsender Bedeutung des Kritikers zunehmend auf.

 

„Wer von Euch unterzieht sich aber der Mühe, den ersten Eindruck zu ergänzen oder zu überprüfen?“ fragt der Schauspieler und ist mit dieser seiner Weisheit einfach nur ein unbelesener Mann. Sonst wäre ihm beispielsweise aufgefallen, wie gern etwa Theodor Fontane seine eigenen Urteile in Frage stellte und sie auch ohne jede Koketterie korrigierte, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Und der auf die Aufführungen des königlichen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt spezialisierte Fontane hatte in der Vossischen Zeitung, die er ein rundes Vierteljahrhundert lang belieferte, verblüffend oft diese Gelegenheit. „Das Theater lässt sich alle günstige Wirkung der Kritik gern gefallen und weiß sie brav zu nutzen; die ganze Institution wird ihm aber plötzlich problematisch, sobald die Kritik einmal andrer Meinung ist.“ Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Ich plaudere aus dem Nähkästchen: nach mehr als zwanzig lobenden und bisweilen sogar überschwänglich lobenden Kritiken über Vorführungen eines Hauses, das ich nicht nennen will an dieser Stelle, musste ich eine glatte Fehlbesetzung monieren und hatte umgehend den Intendanten per Post im Briefkasten, der eine Verteidigungsattacke gegen mich ritt wie weiland Blücher.

 

Und nun lässt Efraim Frisch den Schriftsteller in die Arena, legt ihm eine steile These in den Mund, die auch gut auf die erste Seite des Büchlein gepasst hätte aus Gründen, die man heute so gern Aufmerksamkeitsökonomie nennt. Die These lautet: „ So wenig als das Theater im allgemeinen Kunst ist, so wenig ist Theaterkritik Wissen um Kunst.“ Der Schriftsteller vergleicht Theater und Kritiker mit klugen alten Eheleuten, die wissen, wie sie auf ihre Kosten kommen. „Spielen Sie Ihre Zugstücke nicht fünfhundertmal hintereinander, versuchen Sie aus Ihren guten Aufführungen ein Repertoire zu bilden, dann wird die Kontinuität hergestellt sein.“ Für diesen Rat ist selbstredend der Schauspieler der falsche Adressat, er ist schlimmstenfalls das Opfer verfehlter Spielplangestaltung, günstigstenfalls steigt er auf in einen Star-Rang, der dem Haus auch wieder nicht wirklich gut tut, wenn nicht genau das der Ehrgeiz nämlichen Hauses ist. Dann gibt es auch einen insgesamt recht zurückhaltenden älteren Herrn in der Runde, der einwirft: „Der Mann hatte nicht so unrecht, der mir neulich sagte: Unsere Tagesgeschichte ist dramatischer als unsere Literatur – wenn Sie wollen, auch theatralischer.“ Dazu könnte heute wohl jeder sein ganz persönliches Beispiel herauskramen.

 

Der Schriftsteller schlägt seinen Gesprächspartnern vor, einfach einmal vernünftig über Theater zu reden, was für ihn gleichbedeutend ist damit, profane Fakten festzuhalten: „Wenn wir nun einfach sagen: das Theater befasst sich mit der Darstellung von Werken der dramatischen Kunst, so haben wir einmal ein Gebiet bezeichnet, das dem Theater das Material für seine Kunst bietet.“ Sind der Text eines Dramas und die Partitur eines Musikstückes miteinander vergleichbar? Da man alles mit allem vergleichen kann, was die einschlägigen Apfel-und-Birnen-Experten in ihrer tiefen Dummheit immer wieder gern verleugnen, kann man natürlich auch diesem Vergleich nachgehen. Die Frage ist nur, zu welchem Zwecke. In Konzerthallen wird deutlich seltener der dritte vor dem ersten Satz einer Symphonie gespielt als auf Theaterbrettern der zweite Akt gänzlich gestrichen und einige seiner Dialoge in andere Münder gelegt werden. Für den Schriftsteller (und für tatsächliche Theater) „ist eine unendliche Anzahl von Darstellungen eines und desselben dramatischen Werkes möglich.“

Eine andere Frage wäre, ob jedes Theater den Ehrgeiz entfalten sollte, eine bis dato nie gewesene Darstellung zu finden und sei es um den Preis, die Kenntlichkeit des Stückes völlig zu zerstören.

 

Zu den einfachsten Dingen gehört auch eine „Empfindung, die uns im Theater nicht verlassen darf. Der König dort auf den Bühne ist weder ein wirklicher König noch auch sein Schattenbild und der Raum ist nur deshalb ein Saal, weil sich diese Vorgänge in ihm abspielen.“ Für den Schauspieler, der ja nichts anderes ist als ein Mensch, wie der Bäcker ein Mensch ist oder die Garderobiere im Theater, heißt das: „Dieser Prozess der Umwandlung eines wirklichen Menschen in einen eingebildeten, an den zu glauben wir übereingekommen sind, wenn er uns nur zu überzeugen versteht, - dieser Prozess, der sich vor unseren Augen vollzieht, ist der Grund für die illusionäre Wirkung.“ Viel abstrakter gesprochen gilt: „Daher auch das Geheimnisvolle, Paradoxe am Theater: dass es das Zuständliche als Bewegung und noch die rascheste Bewegung so darstellen muss, als wäre sie im kleinsten Zeitteilchen kontinuierliche Ruhe“. Leider, hier wird es deutlicher als zuvor und später, hat Efraim Frisch vorerst nicht die Absicht, die Ansichten seines Schriftstellers von ihm oder einem der anderen Teilnehmer des Gespräches mit authentischen Theatererfahrungen zu illustrieren, zu untermauern oder möglicherweise auch gleich wieder fragwürdig werden zu lassen.

 

Dass der Autor seine fiktiven Personen seiner damaligen Zeit entnimmt, es sind die Jahre vor dem ersten Weltkrieg, die in den Theatern mit der völlig neuen Situation nach 1887 begannen, liegt auf der Hand, Anspielungen auf Theorien des „Gesamtkunstwerkes“ zeigen es deutlich. Sein Kritiker empfindet das einfach nur als „Klimbim“. Der Schriftsteller sieht auch hier sofort den größeren Zusammenhang: „Ganz sicher aber ist, dass keine Zeit ihren Stil gesucht, noch auch bewusst ihn empfunden hat; denn was wir so nennen, ist ja unsere Abstraktion.“ Von „Ismen“ ist 1910 offenbar noch nicht die Rede, gemeint sind sie aber mit solchen Aussagen. „Wenn also gesagt wird, wir wollen den neuen Stil auf dem Theater, so ist das schlecht geredet.“ Der neue Stil kam mit Henrik Ibsen 1887 nach Berlin und machte mit Gerhart Hauptmann 1889 Skandal. Nie verdrängte neuer Stil alten vollkommen, immer rief neuer Stil rasch eine oder mehrere Gegenbewegungen hervor. Einst neue Stile benötigten keine zehn Jahre, um aus der Mode zu kommen, einst revolutionäre Mittel wirkten selbst in den Händen ihrer Erfinder bald gestrig. „Der ganze Lärm und Widerstreit der Meinungen weist darauf hin, dass sich noch nichts Gültiges hat durchsetzen können.“

 

Was der Schriftsteller ausführt, richtet sich, ohne dass der Begriff fällt, gegen Naturalismus auf der Bühne: „Und wo, wie bei den neuen Dichtern, die szenischen Vorschriften sehr ausführlich und präzise erscheinen, sind sie im Grunde nur eine epische und lyrische Hilfe, mit welcher der Dichter die Ortsphantasie des Lesers in einen bestimmten Kreis zu bannen sucht. Der wirkliche Dramatiker macht fast gar keinen oder nur sehr knappen Gebrauch von dieser Freiheit.“ Vom Leser ist hier ausdrücklich die Rede, nicht von Theatergänger. Wenn der das Textbuch nicht kennt, was eher die Regel als die Ausnahme darstellt, kennt er natürlich auch nicht die Vorschriften, die oft genug kursiv gedruckt erscheinen und mit unschlagbarer Regelmäßigkeit die Möglichkeiten eines jeden wirklichen Theaters überfordern. Das wird am deutlichsten, wenn es Rollen zu besetzen gilt, deren Grundvoraussetzung nicht ein bestimmten Bühnenfach ist: der Mohr von Venedig etwa, den wir alle als Othello kennen, war buchstäblich jahrhundertelang ein Problem der Maske, noch Fontane schildert Farbabwandlungen bei den verschiedenen, immer natürlich weißen Darstellern. Jetzt ist die Rolle in die Hände von Kulturkämpfern geraten, Szenenanweisungen haben eine Atempause.

 

Auch wer auf der Suche nach Argumenten ist, die belegen könnten, dass Verfremdungstheorien unterschiedlicher Art, antiillusionistische Spielansätze von Beginn an eigentlich immer offene Türen stürmten, wird bei Efraim Frisch fündig. Er lässt seinen Schriftsteller auf den gewöhnlichen Bühnenrahmen hinweisen, „wenn der Zuschauer nur ein wenig mehr rechts oder links auf die Proszeniumsumrahmung sieht, dann weiß er auch so, dass er nicht in Helsingör, sondern im Theater ist.“ Vielleicht fand Brecht es lustig, Theatergänger aus einer Illusion zu reißen, der sie gar nicht erlegen waren; vielleicht haben auch deshalb immer wieder Kritiker sich ein ähnliches Vergnügen daraus gemacht, Brecht dabei zu erwischen, wie er auf seine eigenen Theorien pfiff. Illusion ist aus dem Theater gar nicht zu verbannen, es sei, man ernennt Dinge zur Illusion, auf die man dann leicht verzichten kann. Dergleichen hat in anderen Zusammenhängen den Namen Popanz. Pappkamerad Popanz ist ein sehr beliebter sogar im Felde der Politik, man muss also nicht ausgerechnet im Theater an seine Vernichtung durch Verbalien besonders viel Energie verschwenden. Auch zum Thema Maler im Bühneneinsatz lässt Frisch seinen Schriftsteller eine dezidierte Meinung haben.

 

„Eben dies, was Sie am Maler loben, macht ihn für das Theater zu einer Gefahr. Und je selbständiger er als Künstler ist, desto weniger wird er für unsere Zwecke zu brauchen sein. Denn er kann ja nicht anders, als den Ausdruck seiner malerischen Persönlichkeit dem szenischen Bilde mitzuteilen und sein Prospekt wird so mit Notwendigkeit ein selbständiges Kunstwerk, das je gelungener es ist, desto weniger dem Zwecke dienen kann“. Wobei einzuräumen wäre, dass Große wie Oskar Kokoschka, Pablo Picasso oder Markus Lüpertz mit der Annahme von theatralischen Herausforderungen, wie sie das gern nennen, natürlich auch Aufmerksamkeits-Effekte, eine extra Werbewirkung als Mitgift einbringen. Was Frischs Schriftsteller zur Dekoration sagt, kann füglich Lehrbuchcharakter für sich beanspruchen. Zwei Beispiele: „Die Dekoration kann im Prinzip weder malerisch noch plastisch sein: sie muss dramatisch sein.“ „Die Dekoration muss so beschaffen sein, dass sie an sich so bedeutungslos wie möglich, ihren Sinn erst im Zusammenhang mit der Handlung und mit der Situation der Personen erhält“. Speziell zum Licht: „Das Licht darf nie in der Weise zerstreut werden, dass es Gestalt und Gebärde des Schauspielers zur Staffage herabdrückt.“

 

Und dann kommt doch noch ein praktisches Beispiel, die Aufführung von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“. An der Traumszene zu Beginn führt der Schriftsteller vor, welche Rolle der Dekoration zukommt, wie das früher aussah und wie jetzt. Das wird so heute definitiv niemanden mehr interessieren: welches Theater leistet sich noch pompöse Schlossfassaden mit prunkenden Freitreppen, Gärten im Vordergrund, mit Baumstämmen und auch einst war es nicht mehr als eine „Fülle schlechter Details“. „Das Zerstreuende an ihr macht es dem Schauspieler fast zur Unmöglichkeit, seinen inneren Zustand dem Zuschauer zu suggerieren; er wird jeden Augenblick von der Dekoration widerlegt.“ Ob keine Dekoration die unabweisliche Alternative ist, war 1910 noch keine Überlegung wert. Obwohl die „Meininger“ nach ihrem letzten Gastspiel in Berlin seit 1890 kein Faktor mehr im deutschen Theaterleben waren, war, wenn eine solche flapsige Formulierung erlaubt ist, „Meiningen minus X“ noch eine durchaus verbreitete Bühnenrealität. Nun examiniert der Schriftsteller den Schauspieler und führt ihn sanft, aber zielstrebig auf erwünschte Denkwege, die er selbst vorgibt. Und der Schauspieler, der offenbar doch beeindruckt war, folgt.

 

„Spielen, richtig spielen, kann man nur auf der Bühne und vor dem Publikum.“ Sagt er und ergänzt sogleich: „Erklären lässt es sich nicht. Es ist eben ein geheimnisvolles Fluidum, eine besondere Atmosphäre, die ganz eigentümlich wirkt.“ Nicht die Kunst des Schauspielers erzwingt eine Wahrheit der Bühnenvorgänge, die ist vorher vorhanden, weiß der Schriftsteller: „Diese Mitarbeit des Zuschauers: dass seine Phantasie sich auf die leiseste Andeutung hin willig in jede gewünschte Richtung in Bewegung setzt, verleiht dem Theater seine beispiellose Wirkungsmöglichkeit und seine große Bedeutung.“ Und schließt unmittelbar daran seine Kritik am zeitgenössischen Theater an: „Unser Theater aber bringt sich selbst um seine Macht, dadurch, dass es das Wesen seiner Mittel verkennt und sie zum Zwecke erhebt.“ Er vertieft das Thema nicht, weil er wieder zur Arbeit des Schauspielers zurückkehren will. Bei ihm konstatiert er ein besonderes Phänomen. „Denn in dem Augenblick, wo der Schauspieler seine Aufgabe aus der Hand des Dichters empfängt, tritt eine merkwürdige Trübung ein; sie entstammt einer völlig unsinnigen, weil unsachlichen Rivalität.“ Gemeint ist die gewissermaßen stille Textkritik, die der Schauspieler beim Textstudium ausübt.

 

Der Schauspieler meint, alles wirklich Dramatische wirke auf ihn, der Schriftsteller kontert: „Ich gestehe, ich wüsste nicht zu sagen, was dramatisch ist.“ Und ergänzt wenig später: „Das Theater kann gar nicht bestimmen, was dramatisch ist, denn für das Theater ist da eine ganz klare und recht ferne Grenze gezogen: das Darstellbare überhaupt.“ Die Aussagen des Schriftsteller werden immer mehr zum dramaturgisch unterbrochenen Monolog, der kaum noch Widerspruch zulässt. „Es gibt keine Schauspielkunst ohne ein Drama, wie wir gesehen haben, es gibt nur eine Technik der Menschendarstellung, die erst durch die Qualität des Dargestellten, das heißt durch den Dichter, zur Kunst wird. Der Schauspieler kann keine Norm für die Kunst des Theaters aus sich herausholen, wäre er ein noch so großer Künstler!“ Kaum Zustimmung fände sicher die folgende Behauptung, die allerdings eine zählebige Realität des Theaters beschreibt: „In dem Augenblick, da uns nicht mehr Hamlet, sondern der Hamlet des Herrn X. angeht, ist aller Sinn des Theaters hin.“ Womit auch gesagt ist und vielleicht ganz unabsichtlich, dass der Sinn des Theaters keineswegs auf den Kritiker zielt, denn dem ist der Hamlet der Herren A bis Z das A und O des Theaters: ohne jeden Abstrich.

 

Die Ausnahme wäre das unbekannte Drama, aber auch hier haben sehr viele Kritiker den Ehrgeiz, es vorher zu kennen, sie könnten sonst, sagen sie, ja nicht erkennen, wo Dramaturgie und Regie eingegriffen haben und wie. Und da ist sehr viel dran. Wo der Hamlet des Herrn X Vorherrschaft ausübt, folgt „die für das Theater ganz unsinnige Präponderanz des bloßen Geschmacksurteils, welche unser Premierenpublikum zu Richtern macht und schließlich die Wirkung der Kritik.“ Efraim Frisch scheint durch den Mund seines fiktiven Schriftstellers auch eine Sonderstellung des Premierenpublikums als Thema erkannt zu haben. Der Kritiker, also viel später auch die Kritikerin, besucht bis heute in aller Regel Premieren, erlebt damit selten bis nie das Publikum in seinen Reaktionen, das naiv und erwartungsfroh in Theater geht, weder Texte kennt noch Interpretationen, von der Aufführungsgeschichte keine Ahnung hat und auch gar keine haben will. Als bedrohliche Alternative zum Drama sieht der Schriftsteller, zugleich als eine höchst akute Gefahr, „eine Art Stegreifkomödie“, welche „nichts enthält als eine Sammlung von mimischen und Gefühlsmomenten zum konzertanten Gebrauch für den Schauspieler. Im Grunde ist dies zumeist schon der Fall.“

 

„Ist im Werk des Dichters der Sinn der Handlung symbolisch und gleichnisartig, trotz ihrer Wirklichkeit, so erhält sie hier erst dadurch eine Bedeutung, dass sie mit einem beliebigen Stück Wirklichkeit mehr oder minder Ähnlichkeit hat.“ Dem nur gelegentlich am Gespräch teilnehmenden jungen Mann ergibt sich daraus die Folgerung, dass alles, was Theaterreform genannt wurde um 1910, für das Theater ergebnislos blieb. Der Schriftsteller bestätigt ihm dies verbunden mit weiteren Thesen: „Das Theater ist nur dann Kunst, wenn es seine Mittel zum Inkommensurablen eines wirklichen Dramas so in Beziehung setzt, dass seine Wirkung gleichnisartig, symbolhaft, trotz ihrer Einmaligkeit und Individualisierung ist. Je geringer aber der Kunstwert seiner Vorlage im Innersten ist, desto mehr Spielraum gewinnen die Details seiner Mittel.“ Eine schier endlose Reihe von Theaterkritiken, die das gespielte Stück mehr oder minder in den Boden stampfen, aber grandiose Leistungen der Darsteller und Inszenatoren loben, wäre zum Beleg dieser Behauptung anzuführen. Schauspieler und Regisseure sämtlicher Geschlechter stehen damit in einer Reihe mit dem berühmt berüchtigten Feuilletonisten, der auf einer Glatze Locken drehen kann, Herrn Karl Kraus zufolge.

 

Die Einschätzung, dass die Theaterreform insbesondere damit scheiterte, dass sie zwar den Regisseur „auf den Schild“ hob, es aber nicht vermochte, ihn „gegen den Schauspieler“ durchzusetzen, scheint der deutlichste Fehlgriff in den Theorien des Schriftstellers zu sein, die nachfolgende Geschichte hat bis heute nicht aufgehört, die kontinuierliche Beweiskette dafür zu liefern. Dafür kennt Frischs Sprachrohr bestimmte Phänomene sehr genau: „Noch jeder Dichter, wenn er der Praxis des Theaters fernsteht, ist am Abend der Aufführung überrascht.“ Weiter: „Was aber den Dichter zur Leitung einer Aufführung ungeeignet macht, ist in der Hauptsache dies: er ist nicht fähig, die Spontaneität, mit der der Schauspieler seine Rolle sich einverleibt, als einen von ihm – dem Dichter – unabhängigen künstlerischen Willen anzuerkennen, solange die Leistung nicht abgerundet vor ihm steht.“ Ausnahmen sind als Regelbestätiger hier nicht ausgeschlossen, auch wenn Frisch vielleicht an die allergrößten Ausnahmen gar nicht denken wollte. „Der Regisseur besitzt jene für alle Kunstgestaltung unumgängliche Freiheit zu seinem Stoff in viel höherem Maße als der Schauspieler.“ Was der eine lieber als der andere hören mag. Und das hat seine Ordnung.

 

Der Regisseur ist kein Drillmeister, er ist letzten Endes der anonyme Künstler, - und anonym soll er bleiben – der hinter dem Rücken des Schauspielers und ohne ihn zu stören, noch das Freieste seiner Leistung zu einem höheren Zweck nützt. Die Emanzipation des Schauspielers aber macht naturgemäß die Arbeit des Regisseurs illusorisch. … Der Regisseur aber, der sich herbeilässt, diesem Wollen des Schauspielers zu willfahren, zerbricht sein Kunstwerk im Innersten“. Die schon benannte Gefahr Stegreifkomödie als Ersatz für das Drama wird wiederholt. Der Wunsch nach einem Gesamtkunstwerk erfährt spät im Gespräch noch eine plausible Erklärung: „Der Traum von der Vereinigung der Künste auf dem Theater ist eine Abart dieser etwas verdächtigen Sehnsucht unserer Zeit nach der Synthese überhaupt.“ Ein Buch-Fazit lautet: „Werden wir uns doch endlich klar, dass kein noch so raffiniertes Surrogat eines Stils imstande ist, einen Mangel an Schönheit zu ersetzen, die nicht in uns und in unserem Leben ist.“ Mit dem Titel seines Buches wies Efraim Frisch die Ausgangsthese seiner dozierenden Hauptfigur zurück. Und wenn Theaterkritik schon nicht Wissen um Kunst sein darf, soll Schriftstellerwissen auf jeden Fall ein höheres Wissen sein.


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