Joachim Jahns: Erwin Strittmatter und die SS

Das Buch (Dingsda-Verlag Querfurt, Leipzig 2011) hat außer dem Titel, der vorn drauf steht, noch einen Titel, der hinten drauf steht: Günter Grass und die Waffen-SS. Innen stehen beide Titel in gleicher Schriftgröße untereinander, den zweiten würde ich dennoch bestenfalls als Untertitel gelten lassen. Und hier geht es schon los. Während ich mich mit der Gültigkeit von Titeln des Buches eher rhetorisch befasse, gibt es Menschen, die allein von der Tatsache der Existenz eines solchen, speziell natürlich auch diesen Buches, sofort in solche Rage versetzt werden, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Kataraktartig donnert aus ihnen ein Tiefenfrust heraus, dessen mögliche Existenz ich stets rundweg verneint hätte als miese Erfindung, wenn ich nicht selbst mit ihr konfrontiert worden wäre.

Ist es, um noch diesseits des Buches zu verharren, tatsächlich das Signalement eines Charakterlumpen, wenn er im Leben einer Ikone (vermeintlich/tatsächlich, noch ungeklärt) Punkte entdeckt, die man ohne sonderliche Überinterpretation als dunkle Punkte bezeichnen könnte? Darf, falls es sich um eine Ikone der aus der Weltgeschichte eigenverschuldet entwichenen DDR handelt, über solche dunklen Punkte, falls es sie denn gab/gibt, erst öffentlich verhandelt werden, wenn der siegreiche Imperialismus nachgewiesen hat, dass er mit der Dunkelpunktaufklärung eigener Ikonen drei Runden Vorsprung besitzt und außerdem (Olympia lässt grüßen!) Innenbahn laufen kann? Allein die Überlegung zeigt, wie dämlich die Voraussetzungen sind, die manche Hirne als unerlässlich deklarieren, ehe sich jemand, nun kommen wir zum Namen, um den es geht, Erwin Strittmatter im Weltkrieg nähert.

Ist ein Verdacht einmal in der Welt, diesenfalls hat ihn Werner Liersch in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG gestreut vor nun schon ein paar Jahren, das deutsche Feuilleton ist draufgesprungen wie eine Gepardin auf das flüchtige Gazellenkitz, dann sollte der Verdacht schon überprüft werden. Am Ende wird sich der Verdächtiger blamieren oder aber der Verdächtigte wird dümmer dastehen als zuvor, ebenso seine Verteidiger. Vor Gericht wenden Verteidiger, denen gar nichts mehr einfällt, Verfahrenstricks an. Vor allem aber ist festzuhalten, und das tue ich hier in voller Absicht immer noch diesseits des Buches von Joachim Jahns: Mit den Büchern, die Erwin Strittmatter geschrieben hat und ihren Qualitäten (Plural bewusst gesetzt) hat weder eine noch eine Summe von Tatsachen nennenswert viel zu tun. Es sei, man setze plötzlich eine Abbildtheorie in einer Weise in vermeintliche Rechte, wie es selbst zu Zeiten kanonischer Geltungsansprüche solcher Theorien nie verlangt wurde. Ich habe, um Eigenwerbung zu betreiben, in meinem Text über DIETER FRINGELI, nachzulesen unter MEINE SCHWEIZ, sehr bewusst auf das Beispiel Jakob Schaffner verwiesen. Das hätte ich auch ohne den Zusammenhang mit Fringeli tun können, hatte aber wohl unterbewusst schon den „Fall“ Strittmatter im Hinterkopf. Denn Schaffner hat öffentlich und nachlesbar Nazi-Bekenntnisse verfasst. Und wenn ihn ein „linker“ Kritiker dennoch aus der Vergessenheit holen möchte, die eher eine Verdammtheit war, weil er GUTE BÜCHER schrieb, dann ist mir das nicht nur exemplarisch.

Von Strittmatter gibt es Bekenntnisse, die auch nur in der Nähe dessen liegen, was Autoren wie HAMSUN, SCHAFFNER, EZRA POUND, CELINE hinterlassen haben, nicht. Es ist also, immer noch diesseits des Buches von Jahns gesprochen, vollkommen absurd und albern, dumm und dämlich, ich könnte fortsetzen, ausgerechnet beim alten Erwin Strittmatter, weil sich nun auch noch der hundertste Geburtstag ereignet, mit Maßstäben zu fuchteln, die schlicht inadäquat sind. Sie sind, das sollte wenigstens bedacht werden von allen, die sich solchen Maßstäben in ihren aufgeregten Pamphleten verpflichten, den finstersten und dümmsten Vorurteilen von DDR/SED-Kulturpolitik peinlich ähnlich. Denn da musste man primär ein guter Genosse sein und noch primärer vom marxistisch-leninistischen Klassenstandpunkt „ausgehen“ (wohin eigentlich ging der Ausgang, musste man um 12 Uhr zurück sein?), dann durfte man sich immer noch jedem Spätbürger überlegen fühlen, der schrieb, weil der mit seinem Schreiben nicht über seinen spätbürgerlichen Schatten zu springen vermochte. Armselige LPG-Romane wurden so schön geredet, bis selbst den Vollzugsbeamten solcher Literaturdoktrin auffiel, dass gute Bücher dann doch noch etwas anderes an sich haben, als Ausdruck von „Klasseninstinkt“ zu sein.

Joachim Jahns, Jahrgang 1955, hat mich schon nach wenigen Seiten von sich eingenommen. Aus einem ganz einfachen Grund: Er hat NICHT mit Schaum vorm Hirn geschrieben. Er ist mit dem Mittel, aus ganz und gar gesicherten Fakten über eine astreine Logik zu neuen Thesen zu kommen, die auf alle Fälle erst einmal plausibel sind und am Ende immer an eventuell noch auftauchenden und ihm selbst nicht oder noch nicht zur Verfügung stehenden Dokumenten überprüfbar bleiben, zu sehr klaren Aussagen gelangt. Er hat sich stilistische Mätzchen verkniffen, er hat sich Polemik verkniffen, soweit es denn irgend ging (ich persönlich habe nichts gegen Polemik, ich habe auch nichts gegen Salz in einer Suppe, nicht einmal ein Haar in ihr macht mich per se zum Suppenfeind).
Nach Jahns weiß ich nun, Strittmatter kann sich nur freiwillig gemeldet haben. Anhand des Weges der militärischen/polizeilichen Einheiten, zu denen Strittmatter gehörte, hierzu hat auch Günther Drommer ja einen seriösen Beitrag geliefert, hat Joachim Jahns mögliche Lebenstatsachen Strittmatters vorgelegt, die so bisher oder gar nicht bekannt waren.

Zu der albernen Folgerung, es sei Erwin Strittmatter ein Vorwurf daraus zu machen, dass er die diversen Details, vor allem die für ihn selbst peinlichen oder beschämenden oder ihn schuldig erscheinen lassenden, nicht in Romanepisoden von Aktenkundigkeit verwandelt hat, oder separate Erzählungen daraus dichtete, versteigt sich Jahns nicht einmal ansatzweise. Vergessen wir nicht, dass selbst in einem Gerichtssaal niemand sich selbst beschuldigen muss, er darf schweigen, noch wenn ausgemachte Verbrechen mehr oder minder offensichtlich von ihm begangen wurden. Autoren sind, weil sie gern als moralische Instanzen genommen werden (und gern auch genommen werden wollen, es sei nicht vergessen) in der Tat unter anderen Gesichtswinkeln zu betrachten. Vor allem aber sind Autoren künstlerische Instanzen. Ich will in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass in anderen Kunstgattungen, die nicht oder kaum mit dem Wort arbeiten, solche Denkfiguren nicht angewandt werden. Oder ist je ein Maler beschimpft worden, weil es kein Ölbild von ihm gibt, auf dem er selbst in Uniform zu sehen ist?

Man kann, wenn man mag, ich mochte, Joachims Jahns Buch eine sauber geführte Darlegung entnehmen, wie Erwin Strittmatter vom SS-Betrieb Zellwolle in Schwarza in Thüringen am Ende in einer Militäreinheit landete, die ab einem bestimmten Zeitpunkt das SS im Titel führte, ohne dass jeder Angehöriger dieser Einheit deshalb SS-Mann (gar noch mit Blutgruppe am Oberarm) wurde oder war. Viele kleine Widersprüche und Ungereimtheiten, die in Akten und in zeitgleichen und späteren schriftlichen Hinterlassenschaften Strittmatters neugierig machen, wenn die Neugier denn einmal geweckt ist, werden von Jahns plausibel erörtert und erklärt. Es werden biographische Details erkundet, nicht literarische Wertungen gefiltert, das ist wichtig festzuhalten. Joachim Jahns ist die Leistung, um Ruhm geht es weniger, nicht abzusprechen, in die Thüringer Zeit Strittmatters allerhand neues Licht gebracht zu haben. Dass ich persönlich die Bad Blankenburger Schriftstellerin Toni Schwabe nicht kannte, aus der Strittmatter viel später TINA BABE buk, will ich mir als lässliche Sünde zuordnen. Dass ich von den sehr tiefen Feindseligkeiten zwischen Strittmatter und Stephan Hermlin nichts wusste, bekenne ich ebenfalls gern.

Wäre eine militärisch vollkommen unbelastete AUTORIN je auf den Gedanken gekommen, ohne dass ihr ein bezügliches Dokument vorgelegen hätte, allein aus dem Anfangsdienstgrad Strittmatters dessen Freiwilligkeit zu beweisen? Das spricht nicht gegen Autorinnen, bleibt aber zu bedenken, wenn solche Wunderliches zu militärischen Tatsachen äußern. (Auch Günther Drommer verhaspelte sich in seiner „Verteidigung“ Strittmatters am Umstand, dass Schreiber Pistolenträger waren und deshalb gar nicht geschossen haben KÖNNEN bei Partisaneneinsätzen!) Ich gönne Joachim Jahns das Gefühl, das er vermutlich hatte, als er den Satz auf Seite 53 niederschrieb: „Aber es liegt auf der Hand, dass nunmehr alle Leser, auch natürlich die Zunft der Literaturwissenschaftler dazu eingeladen sind, mithilfe meiner Erkenntnisse Strittmatters Literatur neu zu lesen, zu erforschen und zu bewerten.“ Das ist nun in der Tat wirklich interessant. Erste Reaktionen auf Annette Leos Strittmatter-Biographie, die ich hier gelegentlich ebenfalls besprechen werde, zeigen, dass nun auch ein angeblich „biographistisches“ Herangehen an das Werk von den Schaumhirnen als Signalement um sich greifender Blödigkeit gesehen wird. Natürlich ist jedem Biographen Werk immer auch Dokument. Problematisch wird es nur, wenn der Kunstcharakter des Dokuments ignoriert wird.

Ich zitiere eine sehr klare Aussage Jahns: „Ob Erwin Strittmatter an Kriegsverbrechen in Slowenien oder Griechenland beteiligt war, ist nicht bekannt. Das grausame Verbrechen in Distomo verübte Strittmatters Bataillon nicht...“. Und ich unterschreibe ausdrücklich Jahns Aussage zum „Wundertäter“: „Spannender scheint mir heute die Frage, wie viel Strittmatter steckt im Kompaniefeldwebel Zauderer...“. Auf Geschichten über Strittmatters erste Ehe inklusive Denunziation durch die geschiedene Gattin wäre ich eher nicht neugierig gewesen, aber wenn ich sie denn erfahre, will ich sie auch nicht ignorieren. Die zweite Ehe mit der Funktionärin macht mich schon neugieriger. Über die werde ich vielleicht bei Annette Leo mehr lesen. Gern las ich ich über Dr. Werner Nickold und so weiter und so fort. Das Erscheinen der umfangreichen Biographie Strittmatters aus der Hand der Historikerin Dr. Annette Leo (Jahrgang 1948) sollte Strittmatter-Interessenten nicht dazu verführen, diesen Jahns nun gleich zum Altpapier zu stellen. Ich rate dazu, erst Jahns, dann Leo zu lesen. Das hat Jahns auf alle Fälle verdient.


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