Arthur Eloesser: Heinrich von Kleist. Eine Studie

Umstritten ist das Erscheinungsjahr natürlich nicht. Es wäre auch noch schöner, wenn neuerdings sogar noch Erscheinungsjahre ins Blickfeld aller Polemiker rückten. Viel zu viel wird umstritten genannt, obwohl es lediglich ein paar Meinungen sind, die voneinander abweichen, ohne dass die große weite Welt von der Kampfzone überhaupt Notiz nimmt. Die Studie „Heinrich von Kleist“, vom Verlag Bard, Marquardt & Co Berlin als Band 16 der Reihe „Die Literatur. Sammlung illustrierter Einzeldarstellungen. Herausgegeben von Georg Brandes“ genannt, ist ohne Jahreszahl erschienen, spätere Bände weisen eine aus. Meist steht in Literaturangaben oder Teil-Bibliographien 1905 als Erscheinungsjahr, vorsorglich in Klammern gesetzt, einmal fand ich auch 1904. Und 1997, mehr als 90 Jahre nach der Erstausgabe, hob Horst Häker, in Fachkreisen als Kleist-Forscher und Autor zu Kleist geführt (seine Bibliographie umfasste 1997 29 Titel, davon 22 zu Kleist), das Jahr 1903 aus der Taufe und umgehend in die Überschrift seines hochgradig bedauerlichen, für einen Experten zugleich hochgradig inkompetenten Aufsatzes in den „Beiträgen zur Kleist-Forschung“. Sein Argument für 1903: ein Vorbesitzereintrag im antiquarisch erworbenden Exemplar, der Häkers Lesart zufolge März 1903 auswies, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein schlichter Lesefehler.

Das kaum zu widerlegende Hauptargument für 1905 ist eine Buchbesprechung, die die Vossische Zeitung am 21. März 1905 druckte, das Blatt also, bei dem Arthur Eloesser festangestellt war. Es ist in Tageszeitungen bis heute vollkommen unüblich, das Buch eines eigenen Mitarbeiters zwei Jahre liegen zu lassen, um es dann erst zu rezensieren. Der Nebeneffekt jeder Besprechung, natürlich auch jeder im eigenen Blatt, ist bis heute der Verkaufsanreiz. Aus heutigen Marketing-Abteilungen jener Verlage, deren Bücher überhaupt eine Chance haben, besprochen zu werden, mehr als 90 Prozent aller Verlage bekommen diese Chance nie, verlautet, dass die erste Woche, vielleicht noch die zweite Woche, entscheidend sind für jeden Verkaufserfolg. Kritik ist, auch wenn den Kritikern das nicht gefallen sollte und sie es deshalb nur ungern hören, zuvörderst Werbung. Schlechte Presse ist, hörte ich von etlichen dabei fröhlich grinsenden Experten sämtlicher Geschlechter, besser als gar keine Presse, am förderndsten sind unblutige nette kleine bis mittlere Skandale. Fällt ein Autor vollkommen zufällig von einer Brücke auf das Autodach seiner Lektorin, dann liefert das den Stoff für einen kompletten TV-Krimi, in dem wir sehen, wie gut doch Autoren in Deutschland leben: ihre Häuser sind so groß, dass ganze Film-Crews darin Platz haben, ohne beim Dreh Schatten zu werfen.

1905 war eher ein Schiller- als ein Kleist-Jahr. Wenn Arthur Eloesser dennoch ein Kleist-Büchlein schrieb, nicht mehr als 70 Seiten stark, mit Illustrationen versehen, dann darf man das zwanglos auch ein Statement nennen. 100 Jahre später, drei volle Schiller-Jahre dazwischen, rollten die Bücher vom Fließband, was schließlich auch bei Kleist 2011 klappen sollte. Dumm nur: angesichts von fünf dicken Biographien flohen die Kritiker ins Dickicht der Sammelbesprechung: keine Redaktion, die das Feuilleton ohnehin immer auf potentiellen Streichlisten führt, hätte auch nur zwei Kritiken zu zwei Kleist-Wälzern gedruckt. Nicht zuletzt deshalb konnte ich diese gedruckten Marktteilnehmer schon kurz nach dem Ersterscheinen zu halben Preisen erwerben und kann nun bei passender Gelegenheit immer gleich in allen nachschauen, was jener zur Kant-Krise schrieb oder dieser zur Würzburger Reise, wie jener sein korrektes Näschen über die „Hermannsschlacht“ rümpfte oder diese Henriette Vogel madig machte. Wirklich viel Neues wurde seit Otto Brahm nicht öffentlich gemacht: wer auch noch Franz Servaes liest oder eben Arthur Eloesser, dem fehlt wenig zum Kleist-Glück: da vielleicht eine nette Formulierung, hier ein Bonmotchen aus dem Hause Kreatives Schreiben. Und am Ende immer neu mein Erstaunen, wie das flutscht bei den Verfassern.

Noch einmal vorab auf Horst Häker zu kommen, der womöglich nur bei Arthur Eloesser einen ganz und gar rabenschwarzen Tag erwischt hatte, als er ihn 1997 allen Ernstes in die Nähe von Goebbels, Gobineau und Houston Stewart Chamberlain rückte: ohne elementare Kenntnisse des Autors, den man bespricht, sollte man die Finger entweder ganz davon lassen oder mit äußerster Vorsicht agieren. Häker (1927–2017), Studium der Germanistik und Anglistik in Berlin, von 1964 bis 1992 Leiter des Heinrich-von-Kleist-Gymnasiums Berlin (Tiergarten), von 1978 bis 1984 Geschäftsführer der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, seit 1992 Vorsitzender des Förderkreises der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte in Frankfurt (Oder), zahlreiche Veröffentlichungen über Heinrich von Kleist (Angaben des vbb, Verlag für Berlin-Brandenburg), wusste offenbar bis zum Zufallsfund in einem Antiquariat nichts von Arthur Eloesser. Nichts also von diesem Bändchen 1905, nichts von seiner fünfbändigen Kleist-Ausgabe 1910, deren fünfter Band wieder eine Kleist-Biographie enthält, nichts von den Kleist-Reden im Jubiläumsjahr 1911, dem Dutzend Kleist-Kritiken des Theaterreferenten und natürlich dessen zweibändiger Literaturgeschichte 1930/31. Man muss tapfer sein, das als gute Voraussetzung für eine verspätete Buchbesprechung anzusehen.

„Die Olympier in Weimar haben Kleist einen Herrschersitz auf den seligen Höhen verweigert, wenn auch der kluge alte Wieland den Dichter des „Robert Guiscard“ gern in die Lücke zwischen Goethe und Schiller gesetzt hätte. Als Kleist sich vermaß dem offen bewunderten und heimlich geliebten Goethe den Kranz von der Stirn zu reißen, wurde er von einem Blitzstrahl des obersten Olympiers getroffen.“ So kann man es gleich auf der ersten Seite des Eloesser-Büchleins lesen. Damit sind Koordinaten vorgegeben: der Goethe-Bezug, der jeden, der je ernsthaft über Kleist schreiben will, beschäftigen muss. Die Sonderrolle Wielands, alt und klug, wie er sofort genannt wird, mit etlichen Töchtern, was auch Eloesser nicht übersehen hat, letztlich aber wirkungslos. Mit dem unvollendeten „Guiscard“ kam Kleist nach Weimar, wo später „Der zerbrochne Krug“ auf der herzoglichen Bühne von Goethe höchstselbst zuschanden gemacht wurde. Noch hundert Jahre später sah der Theaterkritiker Arthur Eloesser den Krug nur in Kopplung mit anderen Stücken, die natürlich stets die schlechteren waren, aber ebenso stetig anzeigten, dass die jeweils Theaterverantwortlichen der Komödie nicht vertrauten. Die Theaterpraxis, was ihr durchaus zu Gesicht steht, widerlegte dann Jahr für Jahr den alten Goethe: die Komödie lebt aus ihrer Hauptrolle immerdar und das ist gut so.

Schon auf der zweiten Seite lesen wir: „Heinrich von Kleist steht ganz allein, niemandes Schüler, niemandes Meister, und wie ihn die Klassiker von sich abzuweisen scheinen, so weist er wiederum trotz manchen Zusammenhängen die zeitgenössische Romantik als Familie von sich ab. Die schulmäßige Litteraturgeschichte sucht ihn als Typus des unglücklichen Dichters auszugeben, der so arm wie verkannt sein muss, aber die Armut kann höchstens für sein letztes Lebensjahr als mitbestimmende Macht gelten, und wenn auch sein Name nicht im Munde der Leute war, so brauchte der Mann sich nicht für verkannt halten, dem die Wieland, Tieck, Gentz, Adam Müller, Fouque, Arnim, Brentano huldigten.“ Noch heute gilt im Mund der Leute zu sein fast immer klar weniger als im Mund der Wenigen zu sein, die im engeren oder weiteren Sinn Kollegen sind. Daran ist wenig Mystisches: Die Kollegen äußern sich, die Leute nicht. Die, falls sie denn ins Theater gehen, allenfalls in der Pause über das Gesehene reden, Inszenierungen ohne Pause verlagern das Gesprächsszenario auf die Straße, wo es oft regnet und immer die Bahn wartet. Mit „Goethe hat Kleist nicht übersehen“ beugt Eloesser noch auf der ersten Seite allen Lesergedanken vor, hier wolle einer auf Kosten Goethes Kleist überhöhen. Heinrich von Kleist braucht keine Überhöhung.

Eine gute Möglichkeit, mit der Studie umzugehen, besteht darin, die Superlative aufzusuchen, die ihr Autor formuliert hat. Sie finden sich verteilt über einige Seiten. Eloesser nennt ihn „wohl den reinsten Künstler unserer Literatur“ (S. 3); „der dramatischste unserer Dramatiker“ (S. 5); „Der größte Plastiker unserer Bühne“ (S. 6); „dieser mächtigste Torso unserer Literatur“ (S. 33, gemeint der Robert Guiscard); „unser lustigstes Lustspiel“ (S. 39, Der zerbrochne Krug); „Dieses Zusammenbrechen der ganzen Männlichkeit im Angesicht des Todes ist eine der kühnsten und tiefsten Empfindungen, die sich je ein Dichter gegen geheiligte Konventionen erlaubt hat“ (S. 65, Prinz von Homburg). Sportsprachlich könnte man von den Podestplätzen schreiben, die sich Kleist errang in seinen Spezialdisziplinen, den Weltcupsiegen, das Leben selbst jedoch war es nie, das er so beherrschte, um als Modellathlet gelten zu können. Eloessers komprimierte Aussagen zu Kleists Leben fand auch Horst Häker so lobenswert, dass er dies glaubte, festhalten zu müssen: „Eloesser beherrscht seinen Gegenstand ebenso wie die Kunst, über ihn zu schreiben. Seine Äußerungen über die Person und den Dichter Kleist sind so modern, dass sie nach 95 Jahren unverändert ihre Geltung haben“. Das ist hohes Lob, wobei Modernität als Kriterium für Geltung natürlich fragwürdig ist.

Schauen wir uns einige dieser Äußerungen an. „Kleists Persönlichkeit scheint sich das Mitleid zu verbitten mit dem stolzen Hinweis auf eine Reihe dauerhafter in sich geschlossener Werke, und auch sein früher Tod gibt nicht die Wehmut, die wir für die früh Geschiedenen, die Rafael und Mozart bereit haben: es ist als ob das Leben dieses in Wahrheit undurchdringlichen Mannes, der so verschlossen wie offen, so beständig wie haltlos scheint, eine allen gewohnten Maßstäben fremde Logik hätte, die wir annehmen müssen, ohne sie zu verstehen.“ Ähnlich dachte, nur eben nicht auf einzelne Personen bezogen, Goethe von Naturphänomenen. Wohlgemerkt Goethe, nicht Treitschke oder Gobineau. „Wenn man den Menschen Kleist kennt, so weit das überhaupt geht, dann weiß man auch, wie die Welt, die sich in ihm mit so ungeheurer Bestimmtheit spiegelt, nur von der Möglichkeit seiner eigenen subjektivsten Empfindungen erhalten wird, während der Künstler nie für sich selbst oder für seine Zeit mit Bewusstsein das Wort ergriffen hat.“ Das unterscheidet ihn von der unendlichen Reihe jener, die sich selbst die Welt sind und das für zwingend mitteilenswert halten. Mit Kleist umgehen, heißt „mit einem Schriftsteller zu verkehren, der weder Moralist, noch Historiker, noch Ästhetiker sondern ohne jeden Nebenberuf und Nebenzweck nur Künstler war.“

Die Kollegen hat Eloesser bei allem durchaus im Blick: „So viel sich auch die Literaturhistoriker, die Psychologen und Psychiater mit ihrem problematischen Liebling beschäftigt haben, der wie ein glänzender Komet am Ende des Jahrhunderts wieder erschienen ist, nachdem er an seinem Anfang fast unbemerkt verblichen war, es ist, als ob auch unsere Zeit ihm noch nicht recht begegnet sei“. Das macht ihn, es liegt auf der Hand, über alle Maßen reizvoll. Und da war dieser Kleist noch weit entfernt davon, als erster Nationalsozialist missverstanden zu gelten oder als Alternative zum DDR-Kandidaten der Nationalen Front, Goethe. „Kleist wird von den Philologen nach seinen Quellen gefragt, nach seinen Vorgängern und Vorbildern, aber alles, was wir erfahren, ist so aufschlusslos, belanglos, als ob wir die Böcklin und Rodin über die Herkunft einer Farbe oder einer Linie verhörten.“ Wer gern sagt: dies Wort in Gottes Gehörgang, ahnt nicht, wieviel in diesen Gängen schon verlustig ging. „Jedenfalls hat Kleist zu den Künstlern gehört, denen die glücklichste und erhaltendste Fähigkeit, die des reinen Vegetierens, der Freude am Leben und Atmen versagt ist.“ Wie sehr das zu bedauern ist, würde ich nur ungern zu entscheiden haben. „Je mehr wir uns heute mit ihm beschäftigen, desto weniger wissen wir über ihn, desto dunkler wird seine Persönlichkeit.“

Nicht nur die Würzburger Reise, gern berühmt genannt, obwohl sie erst in Büchern über Kleist diesen Status erreichte, auch alle anderen hat Eloesser im Blick: „Kleist hat den pathologischen Zug der Neurastheniker, die die Manie des Reisens pflegen, nicht um etwas zu erreichen sondern vielmehr, um etwas zu verlassen“. Liest man das, klingt es frappierend einfach und das wiederum ähnelt den ganz großen Wahrheiten. Annehmen, fordert der Autor und unternimmt konsequent gar nicht erst Versuche, Spekulationen zu vermehren, denen jede Faktenbasis fehlt. Vermutlich hatte die Würzburger Reise gar kein Geheimnis, glaubt Eloesser, Kleist habe den Eindruck wohl absichtlich erweckt, um eine erwartungsvolle Spannung bei den Adressatinnen seiner Briefe hochzuhalten. „Jedenfalls kehrt Kleist von der Würzburger Reise mit einem gehobenen Selbstbewusstsein, mit einer höheren Schätzung seiner Kräfte und Fähigkeiten zurück.“ Und dann auf das Ende 1811 bezogen: „Auch sein Selbstmord erklärt ihn uns nicht, er scheint weniger ein Resultat seines Lebens, eine Zusammenfassung aller Enttäuschungen als ein Zwischenfall, der ebenso gut früher oder später oder gar nicht hätte eintreten können.“ Pläne für gemeinsame Selbstmorde hegte Kleist eben nicht erstmalig mit Henriette Vogel, das musste 1905 wohl sehr deutlich so gesagt werden.

Wer mit Arthur Eloessers Studie dem Werk Kleists womöglich gar in strenger Chronologie und erschöpfender Vollständigkeit nahe kommen will, sollte mit Enttäuschung rechnen. Ganz abgesehen davon, dass mit 70 Seiten andere für eine Einzelstudie oder einen Literaturbericht zum Stand der so genannten Forschung kaum auskommen wollen: es ist auch bei gutem Willen undenkbar. So kann etwa nach 90 Jahren wie bei Horst Häker der Eindruck entstehen, Eloesser habe mit der Seitenzahl, die er für ein Werk Kleists verwendete, Vorlieben dokumentiert. Dann wären in dieser Logik „Das Käthchen von Heilbronn“ und „Penthesilea“ die absoluten Lieblingsstücke des Kritikers, die anderen in fallender Linie. Bei den Novellen entstünde der Eindruck, als strafe Eloesser einige mit strengem Schweigen. „Das Erdbeben von Chili“ wird als erste auf der Seite 42 erwähnt, es folgen „Die Marquise von O.“ und der „Michael Kohlhaas“ zwei Seiten weiter. Mehr kommt nicht hinzu. Es werden an sonstigen Werken genannt: der „Katechismus der Deutschen“, das „Kriegslied“ und „Germania an ihre Kinder“. Und damit ist eben kein Urteil gesprochen, es sind Prioritäten gesetzt. Was die Novellen betrifft, hat ihnen Arthur Eloesser neben ihrem Platz in seiner fünfbändigen Werk-Ausgabe noch eine separate Edition gewidmet mit einem speziellen Vorwort nur zu ihnen.

„Seine Jugend ist eine dauernde Täuschung über sich, aber es scheint, dass er andere weniger getäuscht hat als sich selbst“. Auch später erliegt er Täuschungen, die er selbst verschuldete: die gern behandelte Kant-Krise etwa ist letztlich nichts anderes als das Resultat unerfüllbarer und deshalb falscher Erwartungen an Philosophie und Wissenschaften allgemein. „Kleist, der mit seiner stürmischen Geradheit immer absolute Sicherheiten fordert, konnte eine Enttäuschung, einen geistigen Missbrauch seines Vertrauens nicht verzeihen.“ Wir kennen heute die unausrottbare Reporterfrage: „Können Sie ausschließen, dass …?“ Die Gefragten können, man weiß es vorher, natürlich nie ausschließen. Und so hätte auch Kant auf inquisitorische Annäherungen hin nie ausschließen können, dass ihn jemand krass missversteht. Bei Kleist geht es, sagt Eloesser, so weit, dass er vorübergehend kein Buch mehr in die Hand nehmen kann. Was er natürlich nicht durchhalten konnte (und wollte). „Kleist hat nie absichtliche Beobachtungen zu dramatischen Zwecken betrieben, und man kann sich kaum vorstellen, dass irgendein moderner Dichter die exakte Vision so eines Dorfes Husum schaffen würde, ohne ein bestimmtes Milieu zu reproduzieren und seinen Figuren durch den Gebrauch des Dialektes einen provinziellen Charakter zu geben.“

Was auf „Der Zerbrochne Krug“ gemünzt ist, gilt auch sonst. Und für alle Erzählkunst, die zu sehr wesentlichen Teilen auf die Königsberger Zeit zurückgeht, gilt: „Der Epiker ist sofort fertig, in dem ersten Satze seiner ersten Novelle „Das Erdbeben in Chili“ steht er unverkennbar, unerschütterlich da.“ Die Formel „dergestalt, dass“, bei Kleist eingewurzelt, schleppt sich noch über Jahrzehnte durch viele Prosaversuche, die weit von ihrem Anreger entfernt sind. „Dieser Stil ist schmucklose Sachlichkeit, Gleichgültigkeit gegen Form und Wohlklang, höchste Rücksichtslosigkeit gegen den Leser. Kleist gibt sich keine Mühe, eine Stimmung vorzubereiten oder eine durch die Situation erzeugte auszubeuten, er will nicht gefallen, nicht unterhalten, sondern er erzählt wie ein gewissenhafter Chronist, was er über eine merkwürdige Begebenheit erfahren hat, und er geht, ohne je die Stimme zu erhöhen oder den Ton vertraulich zu biegen, mit dem ehernen Gleichschritt seiner Sätze an den seelischen Zuständen des Lesers unbekümmert vorbei.“ Man möge eigene Lese-Erfahrung neben diese Stil-Beschreibung halten, um zu staunen, wie verblüffend genau alles gesehen ist. Kleist ist, wer will es leugnen, durchaus anstrengend. Der Chronist merkwürdiger Begebenheiten ist dabei gerade kein Chronist der Begebenheiten in der eigenen Bauchnabelgegend.

Über die „Penthesilea“ schreibt Eloesser: „Nie ist Kleists Stil blühender und zugleich plastischer gewesen als in diesem Stück, seine Sprache jagt nach Bildern, der flüchtigsten Vision gibt sie Gestalt, die Verse scheinen bacchisch zu rasen, aber das trunkene Lied führt apollinischer Geist zur Klarheit. Das eben ist das Große an Kleist, dass er noch über den Rausch gebietet.“ Und vom „Käthchen“ sagt er: „Ganz einzig ist das Werk, weil sein Dichter uns nicht wie irgendein Romantiker in eine mondbeglänzte Zaubernacht einlullt, sondern als ein rotwangiges Erdenkind tritt uns das Märchen an einem hellen Sommertage entgegen.“ Womit wir bei der „Hermannsschlacht“ angelangt wären, zu der wir lesen können: „Barbar war er, Barbar wollte er sein und mit einem prachtvollen Rassestolz, der keine Gründe braucht, ruft er zur Verteidigung der germanischen Gemeinschaft auf, die nur mit Blut, vor dem die Sonne verdunkelt, zu Grabe gebracht werden soll. Seine Hermannsschlacht ist ein wilder Kampfruf und zugleich eine kurz gefasste Anleitung, den Feind zu vernichten, mit welchem Mittel es auch sei.“ Wer schon beim Staub, in den die Feinde Brandenburgs zu werfen sind, von Gliederzittern und Sprechverhaltung geschüttelt wird, den wird hier heilige Schreckstarre befallen, Empörung 2.0. Rassestolz? Wo es doch gar keine Rassen gibt?

Hier ist Horst Häker über seine 1997 doch arg billige Empörung gestolpert, hier hat er aus dem Umstand, dass Eloesser erste Geschichtsvorlesungen bei Heinrich von Treitschke hörte, kühn und ahnungslos auf rassistische Assimilationsambitionen geschlossen. Treitschke, nur der Wahrheit die Ehre, hat seinen Studenten dazu gebracht, das Fach zu wechseln, der geliebten Geschichte den Rücken zu kehren. Der stille Vorwurf, das alles bei jüdischen Eltern, derentwegen er nicht Professor werden konnte! Auch das ist leider falsch: er hätte können, wenn er konvertiert wäre. Genau das aber wollte er nicht. „Hermann ist der Mann, den Kleist seinen vor lauter Humanität und Reflexion entarteten Deutschen wünschte, der Mann der tiefen religiösen und patriotischen Leidenschaft“. Ist nicht „entartet“ auch LTI pur? Man lese beliebige Bücher auch von Kommunisten nach 1945 und staune über die Zählebigkeit gerade dieser Zuschreibung. Nur wer von Kleists Verfassung in dieser Zeit, die mit den Schlachtorten Aspern und Wagram zu verbinden ist, eine wenigstens annähernde Vorstellung entwickelt, kann sich auch seinen sprachlichen (und gedanklichen) Exaltationen ohne große Vorbehalte stellen. Was weder heißt, ihnen zu folgen noch gar, sie zu teilen. Die von Eloesser zu Goebbels gezogene Linie, Tapferkeit vorm Rasierspiegel, gehört dem unsichtbaren Theater an.

„Die Leute, die an Kleist nichts Ungesundes, nichts Unnormales sehen wollen, als ob die Genialiät nicht an sich unnormal oder übernormal wäre, versuchen seinen Selbstmord auf möglichst verständige Motive im bürgerlichen Sinn zurückzuführen.“ „Kleist, der im voraus Gott für den wollüstigsten Tod gedankt hat, geht wie ein fröhlich Befreiter … Es kam ihm auf die Inszenierung seiner Tat nicht an, nicht einmal auf die nötigste Feierlichkeit … Für seinen literarischen Nachlass trug er keine Sorge, er übergab ihn dem Zufall. … Sein Tod bleibt wie sein Leben ein ungelöstes Rätsel!“ So lässt Arthur Eloesser seine Studie 1905 ausklingen. Der Verlag Bard, Marquardt & Co., Stammsitz am Berliner Ludwigkirchplatz 1, bestand laut Wikipedia bis in die 30er Jahre. Julius Bard, der Verleger (1874 – 1937) entstammte einer jüdischen Familie. Warum die „Brandussche Verlagsbuchhandlung Berlin“ in ihrer „Literatur-Sammlung Brandus“ auch die Kleist-Studie von Arthur Eloesser ausweist und sogar ebenfalls als Band 16, war bis dato leider nicht zu ermitteln. Ob dieser Band 16 einfach ein Neudruck war, ob er überhaupt je gedruckt wurde, ist ebenfalls nicht geklärt. Es ist bisher jedenfalls kein einziges Exemplar in dieser Ausgabe in den verschiedenen Antiquariatsnetzwerken aufgetaucht. Tröstlich: es bleibt uns der Band 16 der Georg-Brandes-Reihe.


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